Europa und der Dschihadismus

Der französische Soziologe Gilles Kepel gilt international als einer der großen Nahost-Kenner. In seinem Buch kommt er zu dem Schluss, dass Europa eine tragende Rolle beim Wiederaufbau der krisengeschüttelten Länder spielen muss, um zu verhindern, dass der Dschihadismus einen weiteren Aufschwung erlebt. 

Ausgangspunkt für das Chaos, das derzeit im Nahen Osten herrscht, ist für Kepel das Jahr 1973. Damals scheiterten die arabischen Staaten unter der Leitung von Ägypten und Syrien bei der Rückeroberung der von Israel besetzten Golanhöhen und des Sinai. Das war nicht nur eine deutliche militärische Niederlage, sondern traf auch schwer das Selbstbewusstsein der arabischen Staaten. Ebenfalls 1973 beschlossen die ölfördernden Staaten die Rohölpreise um 70 Prozent zu erhöhen. So konnten sie ihre geopolitische Dominanz in der Region festigen und dafür sorgen, dass ihre sunnitisch-konservative Lesart des Koran in der gesamten islamischen Welt eine Vorrangstellung bekam. 

Kepel zeigt, wie der Dschihadismus in den 1990er Jahren in Algerien und Ägypten, beides Mal aufgrund der massiven Gegenwehr durch die nationalen Armeen, scheiterte, wie er aber mit Al-Qaida in den 2000er Jahren dann den Sprung auf die Weltbühne schaffte. Bekanntermaßen scheiterte auch Al-Qaida nach wenigen Jahren und ebnete den Weg für den Islamischen Staat, der nunmehr ebenfalls Vergangenheit ist. Für Kepel stellt sich die Frage, wie sich die dschihadistische Bewegung entwickeln wird, wenn die Geldflüsse aus der Ölförderung geringer werden. Wird er aussterben? Oder findet er in den verarmten Massen der Länder, deren Wirtschaft am Boden liegt – Syrien, Irak, Jemen, Libyen – einen Nährboden, der zu einer vierten Phase des Dschihadismus führt? Wegen dieser Möglichkeit schlussfolgert Kepel, müsse sich die Europäische Union als Partner an die Seite der arabischen Welt stellen und sich aktiv am Wiederaufbau beteiligen. 

Zu großen Teilen liest sich Kepels Buch wie eine Chronik der letzten 45 Jahre im Nahen Osten. Wer schon andere Bücher über die Region gelesen hat – und davon gibt es ja unübersehbar viele auf dem Büchermarkt – wird allerdings nicht viel Neues finden außer den persönlichen Begegnungen und Gesprächen, die der Autor mit Kollegen, Politikern und anderen Personen aus dem Nahen Osten geführt hat. 

Kepels Buch besticht durch das detaillierte Wissen, das der Autor gerne vor seinen Lesern ausbreitet. Diese müssen allerdings schon einiges an Vorwissen zu der Region mitbringen, um den Gedankengängen des Wissenschaftlers folgen zu können. Den Laien, der sich erstmals über diese Weltregion informieren möchte, könnte dies überfordern. Bleibt zu hoffen, dass diejenigen, die laut Kepel den Menschen in der Region aus dem Chaos heraushelfen könnten, sich nicht überfordert fühlen – nämlich die politischen Entscheidungsträger auf europäischer Ebene. Mögen viele von ihnen dieses Buch lesen.

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