Anna und Paul statt Hülya und Mohammed

In ihrem heiß diskutierten Sachbuch kritisiert die in Sarajevo geborene österreichische Journalistin Melisa Erkurt, dass Zugewanderten der Weg zu höherer Schulbildung erschwert wird.

Melisa Erkurt: Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2020,192 Seiten, 20 Euro
Dass die Autorin in Österreich ein Gymnasium besuchen und ein Studium abschließen konnte, bezeichnet sie als reinen Zufall. Denn als Baby kam die 1991 in Sarajevo geborene Journalistin als Flüchtling vor serbischen Milizen nach Österreich – in ein Land, in dem die meisten Migrantenkinder automatisch eine Hauptschule oder eine Sonderschule besuchen. Erkurt selbst habe Glück gehabt, schreibt sie, dass ihre damalige Lehrerin ihr den Weg aufs Gymnasium nicht verbaut habe. Ein Jahr lang hat die Germanistin dann im vergangenen Schuljahr an einer öffentlichen Schule Deutsch unterrichtet und in dieser Zeit regelmäßig Kolumnen aus dem Schulleben für die Wiener Wochenzeitung „Falter“ geschrieben. Heute schreibt sie für zahlreiche weitere Medien und lebt von ihrer journalistischen Arbeit.

Das Schulsystem, betont sie in ihrem Buch und auch in ihren Artikeln, sei für Kinder wie Anna und Paul gemacht und lasse Hülya und Mohammed zurück. Diese Hauptthese belegt sie mit eigenen Erfahrungen. Obwohl sie in Österreich aufwuchs, gut Deutsch sprach und regelmäßig gute Noten heimbrachte, hatte sie an der Schule und selbst noch auf der Uni das Gefühl, nicht dazuzugehören.

In ihrem Buch befasst sie sich auch mit dem Problem der „Generation haram“: Viele muslimische „Burschen“ maßregeln als selbsternannte Sittenwächter ihre Schwestern und verbieten ihnen normale Verhaltensweisen von Teenagern als „haram“. Die Autorin interpretiert dieses aggressive Auftreten als Unsicherheit: „Ich habe das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit die Mädchen beneiden, die die besseren Noten haben, die blühenden Zukunftsaussichten, die keinen auf ‚harten Kerl‘ machen müssen.“

Mädchen, nach ihren Zukunftsplänen gefragt, antworteten häufig „Ärztin“ oder „Anwältin“, „die Burschen grinsend mit ‚AMS‘ (Arbeitsmarktservice) oder ‚Bombenleger‘“. Obwohl diese jungen Männer nur oberflächliche Vorstellungen von der muslimischen Religion hätten, ließen sich Lehrer leicht von deren Machogehabe beeindrucken und schrieben diese Jugendlichen als potenzielle Islamisten ab. Viel zu wenige Lehrerinnen und Lehrer machten sich auch nur die Mühe, die Namen der Kinder richtig auszusprechen, noch weniger kämen auf die Idee, deren soziales Potenzial zu fördern. Kinder wohlgemerkt, die oft drei Sprachen beherrschen, den Eltern beim Ausfüllen von Formularen helfen und kleinere Geschwister beaufsichtigen.

Natürlich befasst sich die Autorin auch mit dem Kopftuch, das ihrer Meinung nach zu einem zentralen Problem der Integration aufgeblasen werde. Für ein viel größeres Integrationshindernis hält sie die Tatsache, dass Eltern, die des Deutschen kaum mächtig sind, ihre Kinder im Schulalltag nicht unterstützen können – und die Schule diesen Startnachteil nicht ausgleiche. Auch wenn das, was Erkurt schreibt, im Grunde längst bekannt ist, ist es in dieser Dichte und Authentizität bislang nicht in die Diskussion eingeflossen.

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