Leben im Käfig der Unwissenheit

Die Preisträgerin des alternativen Nobelpreises Maryse Condé blickt zurück in ihre eigene Kindheit. Aufgewachsen in wohlhabenden Verhältnissen, versteht sie erst allmählich, welchen Einfluss die Kolonialzeit auf ihre Heimat Guadeloupe, ihre Familie und sie selbst hat.

Maryse Condé: Mein Lachen und Weinen. Wahre Geschichten aus meiner Kindheit. Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte. Litradukt-Verlag, Trier 2020. 149 Seiten, 13 Euro
Maryse Condé wurde auf Guadeloupe, genauer in der Stadt Pointe-à-Pitre, als jüngstes von acht Kindern geboren. In ihren autobiografischen Geschichten beschreibt die Preisträgerin des alternativen Nobelpreises ihre Kindheit und Jugend auf der karibischen Insel, die mit dem Ende der Kolonialzeit 1946 zum Überseedepartement Frankreichs wurde.

Die Autorin beleuchtet besonders das Verhältnis zu ihrer Mutter. Condé, die kein braves Kind ist, lehnt sich regelmäßig gegen diese auf. Ihre Mutter ist jedoch nicht zimperlich und gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Durch ihre „außergewöhnliche Intelligenz“ schaffte die Mutter es, eine der ersten schwarzen Lehrerinnen der Insel zu werden und sich so aus ihren armen Familienverhältnissen zu Wohlstand hochzuarbeiten. Ihre Vergangenheit will sie so gut es geht vergessen. So gibt sie die kreolische Sprache und fast alle traditionellen Bräuche auf: Ihre Kinder sollen nur Französisch sprechen und sind stets angehalten, auf ihr Benehmen und ihren Umgang zu achten. Fragt das Mädchen Maryse nach den Gründen für dieses Verhalten, folgen meist schnippische Antworten ihrer Mutter. Auch aus den Erklärungen des geliebten älteren Bruders wird das Kind nicht schlau.

Stattdessen erlebt Maryse immer wieder Klassen- und Rassenkonflikte in ihrem Alltag, ohne sie als solche zu erkennen. So trifft sie beispielsweise bei einem abendlichen Spaziergang mit ihren Eltern ein blondes Mädchen, das sie zum Spielen auffordert. Dominant bestimmt das fremde Mädchen die Spielregeln: Sie sei die Herrin und Condé die Dienerin. Das Mädchen beschimpft ihre „Dienerin“, schlägt und tritt sie. Als sich Condé wehren möchte, entgegnet ihr die andere: „Ich muss dich schlagen, weil du eine Negerin bist.“ Als Maryse ihre Eltern nach der Bedeutung des Wortes fragt, reagieren diese ausweichend. Viel später, während  eines längeren Schulaufenthalts in Paris, fügen sich die vielen Puzzlestücke zusammen. Als sie ein Referat über ihr Land halten soll und dafür unter anderem von den schrecklichen Arbeitsbedingungen auf einer Zuckerrohrplantage erfährt, erkennt sie erstmals die wahren Konflikte zwischen Weißen und Schwarzen, die sie vorher nie verstand. Mit einem Schlag wird der Jugendlichen „die Last der Sklaverei, des Menschenhandels, der kolonialen Unterdrückung, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Vorurteile gegen Farbige“ bewusst. 

Condé bietet mit ihrem autobiografischen Werk eine faszinierende Kolonialgeschichte, die im Gegensatz zu den meisten Büchern einen persönlichen Zugang zum Thema eröffnet. Die Autorin selbst hat, wie sie schreibt, als Jugendliche einige Werke zur Kolonialgeschichte gelesen und erwähnt sie auch als Teil ihres Selbstfindungsprozesses. Ihr eigenes Werk enthält keine unmittelbaren Berichte zu Sklavenarbeit, Gewalt, Armut oder menschenunwürdigen Lebensbedingungen, denn all das kannte Condé über Jahre nur vom Hörensagen. Sie lebte, wie sie schreibt, in einem Käfig der Unwissenheit, ihrer eigenen Entfremdung nicht bewusst.

Die französische Originalfassung erschien bereits 1999 unter dem Titel „Le cœur à rire et à pleurer. Contes vrais de mon enfance“. Die jetzt erstmals veröffentlichte deutsche Übersetzung bedient sich einer eher konservativen Sprache, die es ermöglicht, sich schnell in die Jahrzehnte zurückliegende Erzählung hineinzuversetzen. Französische und kreolische Begriffe werden innerhalb des Textes oder durch Fußnoten erklärt, so dass der Text ohne Vorwissen einfach verständlich ist. Das schmale Buch ist mit 17 kurzen Kapiteln übersichtlich strukturiert und lässt sich insgesamt leicht lesen.

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