Thriller über irakische Tabus

Baghdad in my Shadow. Deutschland, Schweiz, Großbritannien 2021, Regie: Samir, 105 Minuten, Kinostart: 16. September

Der aus dem Irak stammende Regisseur Samir erzählt in seinem Migrantendrama von einem Londoner Café, das für viele irakische Exilanten zur zweiten Heimat geworden ist. Und von der Vergangenheit, die die Ausgewanderten und Geflüchteten nicht zur Ruhe kommen lässt. 

London in der Vorweihnachtszeit. In seinem Café Abu Nawas stellt der muslimische Kurde Zeki einen Christbaum auf, dessen Spitze ein Stern mit Hammer und Sichel schmückt. Der Baum ist ein frappierendes Symbol für die interkulturelle Toleranz, die im Café gelebt wird. Ein Stammgast ist der erfolglose Dichter Taufiq, der als Nachtwächter im Britischen Museum arbeitet. Der Ex-Kommunist kümmert sich seit dem Tod seines Bruders liebevoll um seine Schwägerin Maha und seinen Neffen Nasseer, der zunehmend unter den Einfluss des salafistischen Predigers Scheich Yassin gerät. 

Ebenfalls häufig zu Gast ist der junge IT-Spezialist Muhanad, der wegen seiner Homosexualität in Bagdad verfolgt wurde, sich aber auch in London nicht traut, öffentlich zu seinem deutschen Lover Sven zu stehen. Im Café jobbt die schöne Amal, die vor ihrem Mann Kamal geflohen ist, als sie entdeckt hatte, dass er als Geheimagent für Saddam Hussein arbeitete. In London kann die studierte Architektin nicht in ihrem Beruf arbeiten, weil sie mit falscher Identität eingereist ist, und sie verliebt sich in den englischen Bauleiter Martin. Die Lage spitzt sich zu, als Kamal, der nun als irakischer Kulturattaché tätig ist, in London eintrifft und sich mit Yasin verbündet, der seine Anhänger und Nasseer anstachelt, gegen Amal und die „Gottlosen“ im Café vorzugehen. 

Homosexualität, Frauenrechte und Gottlosigkeit

Der Autor, Regisseur und Produzent Samir, 1955 als Sohn einer Schweizer Mutter und eines irakischen Ingenieurs in Bagdad geboren, kam 1961 mit seinen politisch verfolgten Eltern in die Schweiz. Von Zürich aus hat er inzwischen mehr als 40 Filme, teils Kurzfilme, inszeniert oder produziert. Mehrfach hat er sich dabei auch mit seiner Herkunft befasst – so auch in seinem jüngsten Spielfilm. Der Schauplatz London als mittlerweile größte Ersatzheimat für irakische Migranten eignet sich dafür besonders. Im Vereinigten Königreich leben etwa drei Millionen Irakis, allein in London sind es 750.000. 

Am Beispiel des Cafés zeigt Samir wie unter einem Brennglas, wie die vielfältige Exilgemeinde versucht, sich in die Metropole zu integrieren und zugleich zu separieren, um ihre kulturelle Identität zu wahren. Wenn Kommunisten, Atheisten und Fromme, Araber und Kurden, Sunniten und Schiiten sowie Kulturschaffende aller Art zusammenkommen, führt das oft zu Spannungen und Konflikten, manchmal auch zu komischen Situationen. Vorrangig beleuchtet werden drei Konfliktfelder islamischer Gesellschaften: Homosexualität, Frauenrechte und Gottlosigkeit.

Filmische Liebeserklärung an London

Samir schildert nicht nur ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen Haupt- und Nebenfiguren, bei dem es nicht immer leicht ist, den Überblick zu behalten. Er bettet dieses Geflecht auch in eine virtuose Erzählstruktur mit mehreren Erzählebenen und vielen Schauplätzen ein. Als roter Faden dient ein Verhör Taufiqs durch die britische Polizei, denn Taufiq war in ein Handgemenge mit tödlichem Ende verwickelt. Die Stationen der Befragungen bilden Sprungbretter für Rückblenden, die die Vorgeschichte der Gewalttat und die ältere Vergangenheit der Figuren enthüllen. 

So spannend das Migrantendrama mit dem sorgfältig ausgewählten Darstellerensemble daherkommt und so elegisch die jazzige Filmmusik klingt, die Gesamtwirkung leidet unter dem zu häufigen Einsatz emotionalisierender Zeitlupen und dem allzu pathetischen Schluss. Als kraftvolles Plädoyer für einen interkulturellen Brückenschlag sammelt Samirs filmische Liebeserklärung an seine Heimatstadt aber allemal Sympathiepunkte. 

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