Äthiopien: Dichtung und Wahrheit

Marie-Luise Kreuter
Äthiopien – von innen und außen, gestern und heute
Books on Demand, Norderstedt 2010,
426 Seiten, 33 Euro


Ein Buch, das aus dem Leben gegriffen ist: Marie-Luise Kreuter war sieben Jahre als Ehefrau eines Fachmanns der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Äthiopien. Sie ist promovierte Historikerin. Aus der Situation kann man etwas machen, und das hat sie getan. Mit Material aus Alltag, Literatur, Legende, Geschichte und Lebensgefühl hat sie zehn Längsschnitte durch das geschichtsbesessene Land angefertigt. Jedes der zehn Kapitel ist ein Essay für sich. Ihr Ehemann, Rolf Schwiedrzig-Kreuter, hat ein elftes Kapitel beigesteuert: über die Lernprozesse der GTZ bei der Arbeit an dem Riesenprojekt Engineering Capacity Building Program (ECBP). Herausgekommen ist eine exemplarische Studie über die Kultur der Entwicklungszusammenarbeit: das Mit- und Gegeneinander von Äthiopiern und Deutschen in einem ehrgeizigen Programm mit all den kaum vermeidbaren Empfi ndlichkeiten und Ressentiments.

Die größte Schwierigkeit äthiopischer Reiseführer ist es, zwischen Historie und Legende zu unterscheiden. Das gilt auch für viele gebildete Äthiopier. Die Unterscheidung ist eher ein Gesichtspunkt aufgeklärter Rationalität, wie Europäer sie schätzen. Die Ereignisse sind vergangen und in der Wissenschaft oft umstritten. Was bleibt und heute wirkt, ist die Legende, angefangen von der Abstammung der äthiopischen Könige von Salomon und der Königin von Saba und dem Raub der heute angeblich in Aksum stehenden Bundeslade. Diese Dualität von Legende und Geschichte ist eines der großen Themen des Buches, bis hin zu ihrer Reflexion in Schulbüchern und in der (englischsprachigen) Presse.

Auch andere Essays haben die Gesamtheit von Legende, Volksüberlieferung und moderner Historie mitsamt ihren divergierenden Thesen und Vermutungen im Blick: die Beiträge über die legendäre Makeda, Königin von Saba, um 1000 vor Christus, und über Judith, die irgendwie historische Zerstörerin 2000 Jahre später. Der Blaue Nil steht im Zentrum eines weiteren Textes, von der Furcht der Ägypter im Mittelalter vor seiner Ableitung durch die äthiopischen Könige bis zum heutigen Streit um seine Nutzung für Stromerzeugung und Bewässerung.

Thematisiert wird ferner Äthiopien als Bollwerk gegen den Islam vom sagenhaften Priesterkönig Johannes im Mittelalter bis zum „Liebling der Geber“, Meles Zenawi. Den äthiopischen Juden ist ein weiteres Kapitel gewidmet, von ihren Anfängen im tiefen Brunnen der Vergangenheit bis zu ihrer Auswanderung in den Operationen Moses und Salomon vor zwei Jahrzehnten.

Nicht legendär, aber reich an Fakten und Anekdoten ist die Geschichte der deutsch-äthiopischen Beziehungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Diplomatie. Ein Buch mit Essays erlaubt auch Lücken. Trotzdem bleibt erstaunlich, dass zwar der Sieg über Italien bei Adua im Jahr 1896 zu Recht als fundamentale Weichenstellung gewürdigt wird. Aber das zentrale Ereignis des vergangenen halben Jahrhunderts kommt nur am Rande vor: die Revolution von 1974 und die anschließenden 17 Jahre unter der diktatorischen Herrschaft von Haile Mariam Mengistu. Mit der Neuordnung des Besitzes von Land und der Trennung von Kirche und Staat wurde damals das Fundament gelegt, auf dem das heutige Äthiopien steht. Durch den Sturz des Mengistu-Regimes 1991 wurde die Revolution von 1974 modifiziert, aber nicht zurückgenommen.


Helmut Falkenstörfer

 

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