Der Westen auf Aufholjagd

Jean Comaroff, John L. Comaroff
Der Süden als Vorreiter der Globalisierung.
Neue postkoloniale Perspektiven
Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2012,
287 Seiten, 29,90 Euro

Jean und John Comaroff sind bekannt für ihre rhetorische Brillanz und ihre originellen Gedanken – und die sind auch in diesem Buch zu finden. Vorweg betonen die beiden Wissenschaftler: Der Norden und der Süden haben sich schon seit den Frühzeiten der Kolonisierung gegenseitig beeinflusst. Dieser Kernsatz postkolonialer Theorie gilt uneingeschränkt. Dann aber stellen die beiden Anthropologen die Welt auf den Kopf, indem sie eine „Theorie aus dem Süden“ entwickeln. Anders als die langjährige „Theorieflucht“ im Norden sei es für den Süden vordringlich, „die Mechanismen der heutigen Weltordnung“ zu untersuchen und ihre Gewissheiten und Unsicherheiten aufzudecken. Es stelle sich die Frage, ob der Westen erkennt, dass er „in vieler Hinsicht eine Aufholjagd betreibt“.


Bei der Ursachensuche argumentieren die Comaroffs streng ökonomisch. Im Zuge der Globalisierung sei das Kapital in den ehemaligen Kolonien „mit offenen Armen empfangen“ worden. Es habe herrschende Regime zu steuerlichen Anreizen, zur Lockerung von Umweltschutzbedingungen und zur Aufhebung von Lohnuntergrenzung und Arbeitnehmerrechten gedrängt. Diese Methoden seien im Süden „praktisch erprobt“ worden, um sie dann nach Europa und Nordamerika zu exportieren. Die Folgen sind in Nord und Süd gleichermaßen Unsicherheit, Korruption, soziale Ungleichheit und Rassismus. Die Wissenschaftler erinnern an die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Paris, die Angriffe auf Migranten in Großbritannien und auf Muslime in den Niederlanden. Soweit zeigt sich die Beweisführung der Autoren stimmig und nicht unbedingt neu.

Einmalig aber sind die über Jahre gesammelten anthropologischen Befunde, mit denen die Comaroffs ihre These belegen – sie machen das Buch lehrreich und spannend. Afrikaner kritisierten zunehmend die Einfuhr europäischer Politikmodelle, etwa in Botswana, erklären sie. Dort forderten viele Tswana nach der Unabhängigkeit trotz funktionierender parlamentarischer Demokratie immer wieder ein Einparteiensystem. Die Methoden der Regierungsführung seien ihnen wichtiger als Parteiprogramme. Über Jahrhunderte wurden Transparenz und Beteiligung durch Berater des Stammesführers, Dorfräte und regelmäßige öffentliche Versammlungen garantiert.

Die „Königstreuen“ und ihre Kritiker traten in Debatten über die Politik des Anführers gegeneinander an. Die „Blockfreien“ bewerteten wie eine Jury die Argumente. Am Ende stand der Konsens. In diesem Demokratie-Modell sei die vom Volk geliehene Macht an die Bedingungen von guter Regierungsführung gebunden, erklären die Anthropologen. Erbringe der Staatschef seine Leistungen nicht, werde er abgesetzt oder abgewählt.

Mit ihrer kühnen „Theorie aus dem Süden“ gelingt den beiden Autoren größtenteils das, was sie sich vorgenommen haben: „die etablierten Wahrheiten über die gegenwärtigen Verhältnisse durch andere, größtenteils afrikanische Fakten zu erschüttern.“ Das exerzieren sie auch an weiteren Problemen durch: Wie reagieren Staaten auf die Paradoxie, Grenzen für Güter, Konzerne und Finanzströme öffnen und gleichzeitig gegen Migranten auf Arbeitsuche schließen zu müssen? Was tun Regierungen gegen die Entfremdung ihrer Bürger und deren Rassismus?

All das sind spannende Fragen, die mit überraschenden, anthropologischen Befunden beantwortet werden. Manches wirkt zwar überzogen, etwa wenn die Comaroffs die Vielzahl der Wahrheitskommissionen auf der Welt als Reduktion von Geschichte auf die Sicht von Subjekten kritisieren. Aber das verzeiht die Leserin gerne, auch die bisweilen exzessive Fabulierlust mit Fachbegriffen. Der provozierende Perspektivwechsel bringt aufschlussreiche Einsichten in die Veränderungen von Politik und Leben der vergangenen Jahrzehnte in Afrika und im Westen. (Birgit Morgenrath)

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