Die Wahrheit über die asiatischen Giganten

Pranab Bardhan
Awakening Giants,
Feet of Clay Assessing the Economic Rise of China and India

Princeton university Press,
Princeton und oxford 2010,
172 Seiten, ca. 18 Euro


Wer den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Indiens verstehen will, sollte dieses Buch lesen. Der Autor stammt aus Indien und lehrt Ökonomie in den USA. Er vergleicht, welche sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen die Entwicklung in Indien und in China in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben, welchen Gruppen das zugute kommt und welche Probleme damit verbunden sind.

Bardhan weist viele verbreitete Annahmen über die asiatischen Giganten zurück. So sei das Wirtschaftswachstum in China nicht in erster Linie von Exporten oder Auslandsinvestitionen getragen worden, sondern von einheimischen Investitionen, und die hohen Wachstumsraten in Indien seien nicht überwiegend den marktwirtschaftlichen Reformen der 1990er Jahre zu verdanken. Laut Bardhan begann in China die Phase hohen Wachstums mit einer arbeitsintensiven ländlichen Industrialisierung, die in Indien bis heute ausgeblieben ist. Dort gibt es nur große und sehr kleine Betriebe, kaum mittlere – unter anderem wegen Mängeln im Kreditwesen und in der Infrastruktur. Besonders die Transportwege und die Energieversorgung sind in Indien viel schlechter ausgebaut als in China. Hier hat das Wachstum zu einer weitaus stärkeren Verringerung der Armut geführt als in Indien. Ein wesentlicher Grund dafür ist laut Bardhan, dass in China zur Zeit des Sozialismus das Erziehungs- und Gesundheitswesen an den Armen orientiert war und funktionierte – anders, als das jemals in Indien der Fall war. Zwar ist das ländliche Gesundheitswesen inzwischen privatisiert worden. Dennoch liefern die Gesundheitsindikatoren ein sehr viel positiveres Bild als in Indien. Darüber hinaus können in China mehr Frauen lesen und schreiben und sind berufstätig.

Die Ungleichheit der Einkommen nimmt in China zu, doch laut Bardhan ist nicht klar, ob sie höher ist als in Indien. Und vor allem seien in Indien die Chancen viel ungleicher verteilt – wer nicht lesen kann oder einer diskriminierten Minderheit angehört, kann seine Lage kaum verbessern. In China findet Bardhan mehr Anzeichen für den sozialen Aufstieg von Kindern armer Leute. „Ich erkläre immer – nur halb im Scherz –, dass die Chinesen heute vielleicht deshalb bessere Kapitalisten sind, weil sie früher bessere Sozialisten waren“, schreibt er.

Bardhan verweist wiederholt auf spezifische politische Institutionen und ihre Beziehungen zur Wirtschaft. In China, so betont er, hat die politische Dezentralisierung zusammen mit der Kontrolle der Partei über die Karrieren der Kader einen Wettbewerb der Lokalbehörden um die höchsten Wachstumsraten in Gang gesetzt und Verflechtungen zwischen Unternehmen und Behörden begünstigt: Entwicklungsplanung von oben verbinde sich mit„Netzwerk“- oder „Beziehungskapitalismus“ von unten. In Indiens Demokratie dagegen gehe die Spaltung der Gesellschaft in Kasten und ethnische Gruppen mit einer Zersplitterung der Elite, populistischen Wahlparolen und an Partikularinteressen orientier-ten Protestbewegungen einher.Das mache es sehr schwer, am Gemeinwohl orientierte politische Entscheidungen zu fassen und durchzusetzen.

Das heißt aber nicht, dass für Bardhan der Verzicht auf Demokratie die Entwicklung begünstigt. In beiden Ländern sieht er schwere, jedoch unterschiedliche Mängel in der Rechenschaftspflicht der Behörden. Korruption sei hier wie dort weit verbreitet. In China sei sie von ihrer Art her weniger schädlich für das Wachstum, während in Indien die Informationsrechte und die stärker unabhängige Justiz mehr Chancen böten, sie zu bekämpfen.

Der vergleichende polit-ökonomische Ansatz ist die große Stärke des Buches. Bardhan stellt für Laien verständlich die wesentlichen Merkmale der Entwicklung heraus und verweist auf damit verbundene Konflikte und Gefahren. Unterbelichtet bleibt die Umweltzerstörung – das Kapitel dazu ist sehr schmal ausgefallen. Dennoch ist das Buch uneingeschränkt zu empfehlen.


Bernd Ludermann

 

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