Plädoyer für eine geeinte Menschheit

Amin Maalouf
Die Auflösung der Weltordnungen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010,
252 Seiten, 24,80 Euro


Sind die arabischen Länder in schlechter Verfassung, weil sie islamisch geprägt sind, oder werden diese Gesellschaften immer islamischer, weil sie in schlechter Verfassung sind? Während man die erste Meinung von vielen westlichen Kulturkämpfern hören kann, legt der kluge Essay von Amin Maalouf die zweite Antwort nahe. Er zitiert sogar den Satz von Karl Marx, der vor dem berühmten Satz über die Religion als dem Opium des Volkes steht: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestaktion gegen das wirkliche Elend." In dieser, man mag sagen, materialistischen Interpretation ist nicht die Religion das eigentliche Problem, sondern es sind die historischen Umstände, unter denen sie interpretiert wird. Die heiligen Schriften ließen nämlich solche und ganz andere Interpretationen zu, so Maalouf. „Es wäre aber illusorisch, allein als Folge einer Neuinterpretation eine Veränderung zu erwarten." Die Entscheidungen fallen anderswo.

Diese angenehm unaufgeregte Analyse ist nur ein Teil eines durchaus engagierten und dringlichen Plädoyers. Maalouf fordert eine den gegenwärtigen globalen Anforderungen angemessene Solidarität und Werthaltung ein, die die Konfrontation zweier globaler „Stämme", Westen und islamische Welt, hinter sich lässt. Um die gegenwärtigen Probleme wie den Klimawandel zu lösen, müsse die Menschheit geeint vorgehen. Der im Libanon geborene und seit vielen Jahren in Frankreich leben Schriftsteller ist überzeugt, dass dies nur auf der Grundlage der universellen Menschenrechte möglich sei.

Das Problem sei nicht, dass die Menschenrechte sich mit islamischen Werten nicht vertrügen. Schwierig sei vielmehr die Erfahrung von politischen Niederlagen gegen fremde Mächte auf Seiten der arabischen Welt und das Missachten der eigenen Werte auf Seiten des Westens. Während man mangelhafte demokratische Standards in Europa nicht akzeptiere, hätten die Europäer mit autokratischen Regimen in anderen Teilen der Welt keine Schwierigkeiten. Für Maalouf ist das eine Verachtung der Menschen in arabischen Ländern; als sei Demokratie nur etwas für Europäer, nicht für Araber.

Der Essay von Maalouf ist sprachlich ein Genuss, was auch der deutschen Übersetzung von Andrea Spingler zu verdanken ist. Mit einfachen Worten schafft es der Autor, komplexe Themen auf den Punkt zu bringen und zu einer geistigen Klarheit beizutragen, die selten ist. Lediglich bei seinen Überlegungen zu verlorenen Legitimitäten vermisst man einige klärende Worte: Kenntnisreich und erzählend führt Maalouf durch die Geschichte des arabischen Raumes im 20. Jahrhundert, um besonders Nasser und Atatürk als zwei Beispiele zu würdigen, die - wiewohl alles andere als lupenreine Demokraten - ein hohes Maß an patriotischer Legitimität besessen hätten. Sie hätten es geschafft, zumindest zeitweise den verhassten Kolonisatoren zu trotzen. Als soziologische Beschreibung ist das zutreffend und impliziert die Forderung an den Westen, den arabischen Ländern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Da es Maalouf aber auch um normative Fragen geht, bleibt das Lob der patriotischen Legitimität etwas irritierend: Heißt das, die arabische Welt brauche lediglich mehr Erfolgserlebnisse? Das würde ja wieder auf doppelte Standards hinauslaufen. Mit weniger als den universellen Werten der Demokratie werden sich die gegenwärtigen Revolutionäre im Nahen Osten hoffentlich nicht zufrieden geben.

Wer die Szene erleuchtet, muss nicht auch das Drehbuch für die Wende liefern. Maalouf setzt auf die Kultur, darauf, dass es immer mehr Grenzgänger gibt wie ihn, die fremde Sprachen und Kulturen kennen und in ihre Herkunftskultur vermitteln können. Das ist sehr sympathisch, aber vielleicht etwas zu wenig materialistisch. Wenn von einer Neuinterpretation der heiligen Schriften nicht die Rettung zu erwarten ist, warum dann von der profanen Sprache? Braucht es nicht vielmehr auch eine Änderung der, zumeist ökonomischen, Strukturen, die unser Verhalten nachhaltig prägen?


Christoph Fleischmann

 

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