Ein Triumph der Literatur

Patrice Nganang
Der Schatten des Sultans
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2012,
540 Seiten, 26 Euro

„Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie umzuschreiben.“ Dieses Wort Oscar Wildes findet sich am Anfang des ungewöhnlichen und spannenden Geschichtsbuches von Patrice Nganang. Der gebürtige Kameruner, der seit 2000 in den USA lebt, stellt darin die offizielle Historie seines Heimatlandes zahlreichen Lebensgeschichten gegenüber, die er kunstvoll ineinander verschachtelt. So ist ein furioses literarisches Fresko rund um die Biografie des Sultans Ibrahim Njoya entstanden, erzählt in den Worten seines engsten Dieners, seines „Schattens“, Sara.

Sara ist ein Mädchen in Jungenkleidern und hätte die 682. Frau des Sultans werden sollen. Aber die Matrone im Palast hat sie zum Ersatz ihres verstorbenen Sohnes abgerichtet. Als sie 80 Jahre alt ist, bricht sie zum ersten Mal ihr Schweigen und erzählt der jungen Kamerunerin Bertha, einer Historikerin, die in den USA lebt, vom Leben Njoyas im kolonialen Kamerun während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der Sultan ist zwar autoritär, zugleich aber ein phantastischer Erfinder und sehr modern: Er fördert die Künste, lässt den ersten Stadtplan seiner Hauptstadt Foumban zeichnen und einen prächtigen Palast bauen, der heute zum Weltkulturerbe gehört. Njoya erschafft ein Alphabet und eine eigene Sprache, das Shümom, in dem er die Geschichte der Bamoum niederschreibt, der Bewohner des hügeligen und grünen Westkamerun. Njoya beugt sich der Übermacht der europäischen Invasoren – zuerst den Deutschen, dann, während des Ersten Weltkrieges, den Engländern. 1916 kommen schließlich die Franzosen.

Nganang beschreibt süffisant das Personal der Zeit: „koloniale Hanswürste“, Missionare auf der Jagd nach Heiden, Hochkommissare. Und er lotet die tiefe Not des Sultans aus. Der erleidet einen Schlaganfall, verfolgt durch das „schrille Echo von Namen und Taten“ – vor allem von kamerunischen Revolutionären, die die Deutschen während des Ersten Weltkrieges aus dem Land jagen wollten. Njoya hatte sie unwillentlich verraten. Als der Sultan sich den Franzosen widersetzt, wird er 1931 ins Exil nach Jaunde geschickt.

In die Geschichte des Sultans hinein webt Nganang ein verschlungenes Netz von Lebensgeschichten, von Sklaven und rechtlosen Frauen sowie von Künstlern. Etwa die Geschichte von Saras Vater Joseph Ngono, einem jener afrikanischen Intellektuellen, die an europäischen Universitäten lehrten, während ihre Landsleute im Namen der Zivilisation unterworfen wurden. Oder die Geschichte des eleganten Charles Atangana, des zutiefst korrupten Kollaborateurs, der die Wälder in Südkamerun nach dem Willen der Franzosen in unendlich weite Kakaoplantagen verwandelt und seinen Namen „kurzerhand vom deutschen Karl zum englischen Carl und dann zum französischen Charles wechseln konnte“.

Patrice Nganangs meisterhaftes Buch über Politik, Macht, Liebe und die Schönheit der Zivilisation in Bamoum lassen am Ende die Einbildungskraft der Literatur über die Frage nach der Wahrheit der Geschichte triumphieren. Den renommierten Preis der l’Organisation internationale de la Francophonie (OIF) nahm der Autor 2011 nur an, weil er ihm „eine Leserschaft beschert“ habe, wie er in einem offenen Brief schrieb. Sonst hätte er den Preis abgelehnt, weil die OIF immer noch das Biya-Regime unterstütze und die Scheinwahlen von 2011 anerkannt habe. (Birgit Morgenrath)

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