Die Angst vor den Ratten ist immer da

Brasilien hat mit der „bolsa família“ das weltweit größte Sozialprogramm geschaffen. Mehr als 12 Millionen Familien erhalten die staatliche Hilfe, wenn sie ihre Kinder regelmäßig zur Schule und zur medizinischen Vorsorge schicken. Auch Cléa Maria da Silva, ihr Ehemann und ihr jüngster Sohn profitieren davon. Aber aus der Armut befreien können sie sich damit nicht.
Wenn Cléa Maria da Silva nach Hause kommt, kontrolliert sie zuerst, ob die Bretter vor den Fenstern gehalten haben. Ihr kleines unverputztes Haus liegt nur rund hundert Meter vom Fluss Tiete entfernt, der in der Regenzeit regelmäßig über die Ufer tritt. „Mit dem Wasser kommen die Ratten ins Haus“, erzählt die 43-Jährige. „Ich habe Angst, dass wir alle krank werden.“ Ihr Viertel mit dem schönen Namen Vila das Flores (Blumenviertel) gehört zu den ärmsten am Rande der brasilianischen 18-Millionen-Metropole São Paulo.

Autorin

Susann Kreutzmann

arbeitet als Journalistin und lebt in Berlin. Die Recherche für diesen Artikel wurde von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und dem UN-Welternährungsprogramm unterstützt.

Dieses Jahr standen die Straßen drei Wochen kniehoch unter Wasser, im vergangenen Jahr waren es drei Monate. Vor ein paar Tagen erst ist die stinkende, mit Fäkalien verseuchte Brühe abgeflossen und hat überall Schlamm und Unrat hinterlassen. Der modrige Geruch liegt noch über dem Viertel. Beim Hochwasser im vergangenen Jahr wurde das Haus von Cléa einfach weggeschwemmt, die Fluten waren über Nacht gekommen. Sie zeigt mit Tränen in den Augen auf die Stelle, die immer noch unter Wasser steht.

Mit Hilfe von Freunden hat sie für sich, ihren schwerkranken Mann und den zwölfjährigen Sohn Claudio eine neue Zuflucht gefunden. Das neue Haus hat keine Tür, nur einen zerfetzten Vorhang, die Wände sind feucht und unverputzt. 300 Reais (rund 140 Euro) muss die Familie für die baufällige Behausung im Monat bezahlen. „Ich weiß, dass das zu viel ist“, sagt Cléa mit leiser Stimme. „Doch wo sollen wir hin? Ich habe Angst, auf der Straße zu landen.“ Cléa und ihre Familie bekommen Geld aus dem Sozialprogramm „bolsa família“ sowie eine kleinen staatlichen Mietzuschuss von insgesamt 300 Reais. Das gesamte Geld geht sofort für Miete und Strom weg.

Der Kreislauf, in dem Cléa gefangen ist, ist typisch für die rund 48 Millionen Brasilianer, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Schon mit sieben Jahren fing Cléa an zu arbeiten. „Damals half ich meiner Mutter beim Straßenverkauf, später war ich Babysitterin“, erzählt sie. Die Schule hat sie in Abendkursen besucht und auch abgeschlossen. Heute verkauft die sympathische Frau Eis auf der Straße, stellt in ihrer Küche Süßigkeiten her oder bessert Kleidung für Nachbarn aus. Ihr ganzer Stolz ist eine elektrische Nähmaschine, die sie sich auf Raten gekauft hat. Ihr Mann, der schwer diabeteskrank ist, hilft auf dem Markt. Das Einkommen der Familie reicht oft nur für Brot, Reis und Bohnen. Cléa ist mit 17 Jahren Mutter geworden und hat außer ihrem Jüngsten Claudio noch vier weitere Kinder, die schon aus dem Haus sind. Genau wie ihre Mutter und Großmutter arbeiten auch sie in informellen Jobs – als Straßenverkäufer, in einem Imbiss und als Haushaltshilfe.

Brasilien gehört immer noch zu den Top Ten der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit. In keiner Stadt prallen die sozialen Gegensätze so extrem aufeinander wie in der Finanzmetropole São Paulo. Beim Gang durch die vom Regen aufgeweichten schlammigen Wege von Vila das Flores wird schnell klar: Das Viertel gehört zu den vergessenen Vororten. Mehr als zwei Stunden braucht Cléa, um mit dem Bus in das 37 Kilometer entfernte Stadtzentrum zu kommen. Dort, im Menschengewimmel vor Metrostationen und an großen Kreuzungen versucht sie, ihren selbst hergestellten Honigkuchen zu verkaufen. An guten Tagen verdient sie 30 Reais (rund 13 Euro). Mit der Hälfte des Geldes kauft sie allerdings gleich auf dem Rückweg neue Backzutaten.

Als Dilma Rousseff am 1. Januar 2011 als neue Präsidentin des fünftgrößten Landes der Erde vereidigt wurde, versprach sie in ihrer Antrittsrede, den Kampf gegen Hunger und Not in den Mittelpunkt zu stellen. „Die Ausrottung der Armut ist das zentrale Ziel meiner Präsidentschaft“, rief sie ihren Landsleuten zu. Offiziell leben in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas zehn Prozent der Menschen in absoluter Armut. Wie Cléa erhalten 12,7 Millionen Menschen „bolsa família“ in Höhe von 80 bis 200 Reais (rund 34 bis 87 Euro) pro Monat. Voraussetzung dafür ist, dass Kinder im Haushalt leben und das Familieneinkommen unter 140 Reais (etwa 61 Euro) liegt. Von der „bolsa família“ lebt im Durchschnitt eine vierköpfige Familie. Die meisten Empfänger wohnen im armen Nordosten Brasiliens. In den drei ärmsten Bundesstaaten Maranhão, Alagoas und Piauí ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf Sozialhilfe angewiesen.

Das Programm wurde bereits 2001 von dem konservativen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso eingeführt. Sein Nachfolger, der linke Arbeiterführer Luiz Inácio Lula da Silva, baute es zu einem der weltweit größten Sozialprogramme aus. In seiner achtjährigen Amtszeit gelang es, damit die landesweite Armut um knapp 45 Prozent zu reduzieren. Auch die Weltbank lobt den Erfolg von „bolsa família“. So gibt es nur eine Datenbank, die online einsehbar ist und in der alle Empfänger gespeichert sind. Damit will die Regierung Transparenz schaffen und möglichem Missbrauch vorbeugen.

Laut staatlichen Untersuchungen haben es bislang 58 Prozent aller Empfänger geschafft, in die sogenannte neue Mittelklasse aufzusteigen. 42 Prozent jedoch verharren noch immer in der Falle aus Armut, schlecht bezahlter informeller Arbeit und unwürdigen Wohnverhältnissen. Hier setzt auch die Kritik von Experten an. „Bolsa família muss ausgebaut werden, nicht nur finanziell“, sagt Markus Brose, der Direktor der Hilfsorganisation Care in Brasilien. So sollten auch Alleinstehende und kinderlose Paare die staatliche Hilfe bekommen.

Außerdem müssten die Menschen unterstützt werden, um sich für einen besseren Job zu qualifizieren. Denn 70 Prozent der „bolsa família“-Empfänger haben zwar eine Arbeit, aber die ist schlecht bezahlt. Das liegt vor allem an Bildungsmängeln: 82 Prozent der Bezieher von Sozialleistungen haben die neunjährige allgemeine Schule nicht abgeschlossen, 16,7 Prozent von ihnen können überhaupt nicht lesen und schreiben, rund 40 Prozent haben es zwar gelernt, beherrschen es aber nicht ausreichend. Investitionen in das zwar kostenlose, aber marode staatliche Schulsystem sind deshalb laut Experten unerlässlich. Denn wer genug Geld hat, schickt seine Kinder auf private Schulen.

Im Armenviertel Vila das Flores gibt es inzwischen zwei staatliche Schulen, ein Internet-Café und eine private Sprachschule. Die evangelikale Kirche bietet Kurse für Kleingewerbetreibende an, um sie fit für den Markt zu machen. Für Cléas Sohn Claudio gibt es nichts Schöneres, als sich am Nachmittag mit Freunden zum Computerspielen zu treffen. 50 Centavos kostet die Stunde im Internet-Café. Mathematik sei sein Lieblingsfach, sagt der Zwölfjährige und zeigt sein neues Lehrbuch, das er kostenlos von der Schule bekommen hat. Cléa ist stolz auf ihren Jüngsten, der ein guter Schüler ist. Sie möchte, dass er eine weiterführende Schule besucht, um eine feste Arbeit zu bekommen.

Claudio selbst will Feuerwehrmann werden. Dann könne er den Menschen im Viertel bei den Überschwemmungen helfen, sagt er. „Dann muss niemand mehr sterben.“ Mehr als 60 Menschen sind im vergangenen Jahr in den Fluten umgekommen, auch Nachbarn. Wenn Cléa gefragt wird, wie ihre Wünsche für die Zukunft aussehen, muss sie nicht lange überlegen. „Ich habe es nicht geschafft“, sagt sie traurig. „Aber meine Kinder sollen aus der Armutsspirale herauskommen.“

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erschienen in Ausgabe 3 / 2011: Welthandel: Auf dem Rücken der Armen
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