„Von einem Fluch besessen“

Menschen mit Behinderungen werden häufig als Last oder als potenzielle Gefahr erlebt. Der Glaube an Hexerei trägt ebenfalls dazu bei, dass Familien ihre behinderten Angehörigen ausgrenzen. Die Soziologin Astrid Moanda macht sich für die gesellschaftliche Integration behinderter Menschen stark.
Wie ergeht es Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen im Kongo?

Ich lebe in Kinshasa. Das ist mit dem Rest des Landes nicht zu vergleichen. Kinshasa ist arm, aber immerhin die Hauptstadt, in der man Arbeit finden kann. Deshalb ist Kinshasa auch für Menschen mit Behinderungen eine Anlaufstelle. Aber selbst die gesunden Menschen können sich kaum über Wasser halten. Es gibt in der Regel niemanden, der sich selbst langfristig versorgen kann. Und auch für bedürftige Behinderte gibt es keine Grundversorgung, keine ärztliche Versorgung, keine Bildung, keine Jobs. Wer mit einem behinderten Menschen zusammenlebt, empfindet ihn deshalb als zusätzliche Belastung für die Familie.

Was können Familien dann überhaupt für behinderte Angehörige tun?

Natürlich gibt es auch im Kongo Menschen, die Geld haben und behinderte Familienmitglieder fördern können. Aber in den meisten armen Familien werden behinderte Menschen benachteiligt, weil zum Beispiel die Eltern alle Hoffnungen auf die gesunden Geschwister setzen. Behinderte Menschen werden von der eigenen Familie ausgegrenzt, sie führen ein Leben im Hinterhof und werden ignoriert.

Sehen Sie Unterschiede bei der Behandlung von Menschen mit psychischen oder körperlichen Behinderungen?

Gerade für Menschen mit psychischen Behinderungen ist es fatal, dass es im Kongo keine Einrichtungen gibt wie in Europa. Wenn psychisch Behinderte zu aggressivem Verhalten neigen, sind sie eine potenzielle Gefahr für die ganze Familie. Oft wissen die Menschen nicht, dass die Behinderungen behandelbar wären. Besonders tragisch ist das bei Krankheiten wie Epilepsie, die mit einer regelmäßigen Therapie in den Griff zu kriegen sind.

Spielt der Glaube an Geister oder übersinnliche Phänomene im Umgang mit Behinderungen eine Rolle?

Ja. Viele Menschen glauben an Geister und Zauberei – egal, ob es um die wirtschaftliche Misere im Land geht oder um Behinderungen. Das ist in Kinshasa nicht anders als in den ländlichen Regionen. Es wird durchaus behauptet, ein behindertes Familienmitglied sei verhext oder von einem Fluch besessen und bringe der Familie Unglück. Wenn die gesunden Familienmitglieder über wenig Bildung verfügen und daran glauben, lassen sie den behinderten Bruder oder die Tochter allein, setzen sie vielleicht aus.

Das wollen Sie mit Ihrer Arbeit verhindern?

Ja, eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, aufzuklären über Krankheiten, deren Entstehung und die Folgen. Wir versuchen, behinderte Menschen in die Familien zu integrieren, wenn sie ausgestoßen worden sind. Wir müssen das Denken der Menschen verändern. In den Straßen von Kinshasa gibt es sehr viele behinderte Kinder ohne jeglichen Schutz.

Wie sind Sie zu der Arbeit gekommen?

Ich habe in einem armen Viertel gewohnt und täglich das Leben von behinderten Kindern erlebt. Ich habe mir gesagt, man muss etwas tun: mit den Menschen reden, die Abhängigkeit der Menschen mit Behinderungen irgendwie verringern. Ich habe dann mit einem deutschen Priester aus Kinshasa gesprochen, der mittlerweile wieder in Berlin lebt. Zusammen haben wir die Christoffel- Blindenmission kontaktiert. Die größte Freude und Motivation ist natürlich, ein Kind laufen zu sehen, das früher nicht gehen konnte – diese Unabhängigkeit für das Kind zu erreichen.

Wie organisieren Sie die Arbeit von ELIELI KYAYA?

Angefangen habe ich mit der Betreuung einiger Kinder. Inzwischen koordiniere ich unser Netzwerk von Freiwilligen und baue es aus. Es gibt viele Menschen mit Behinderungen, Missbildungen, Lippenscharten, Grauem Star oder Spastiken. Manche Behinderungen entstehen nur, weil nicht genügend geimpft wird, etwa gegen Kinderlähmung. Die betroffenen Menschen müssen integriert werden, weil sonst die ganze Gesellschaft leidet. Das versuche ich zu vermitteln.

Wie finden Sie Ihre freiwilligen Mitstreiter?

Wir haben im Großraum Kinshasa, in dem zehn Millionen Menschen leben, rund 2000 kleine Stützpunkte. Jeder Stützpunkt besteht aus zwei Personen. Zwei bis drei Stunden täglich verbringen die Freiwilligen damit, behinderte Menschen zu besuchen. Rund zehn Prozent der Freiwilligen haben selbst eine Behinderung. Die meisten Freiwilligen sind Frauen und ältere Menschen. Geld bekommen sie nicht für die Arbeit. Die Motivation ist also zu einem guten Teil die christliche Nächstenliebe. Menschen ohne Ausbildung erhalten außerdem eine Ausbildungsbescheinigung im Bereich der sozialen Arbeit. Sie lernen Dinge wie Gesprächstherapie und Krankentransport. Für die Ausbildung müssten sie sonst bezahlen.

Kümmern Sie sich auch um Kriegsversehrte?

Längst nicht alle körperlichen Behinderungen sind auf den Krieg zurückzuführen. Viele werden durch Kinderlähmung oder Verkehrsunfälle verursacht. Aber es leben auch viele Kriegsversehrte in Kinshasa, Menschen, denen ein Bein oder ein Arm fehlt oder die nur noch ein Auge haben. Rund zehn Prozent der Kongolesen haben Behinderungen oder sind Invaliden.

Wie nehmen Sie mit diesen Menschen Kontakt auf?

Ich spreche sie einfach an. Ich höre ihnen zu, wenn sie erzählen wollen, wie es zu ihrer Behinderung gekommen ist. Einige sind aggressiv, mit denen muss man umzugehen wissen. Natürlich bringen diese Leute, ob ehemalige Soldaten oder Rebellen, auch psychische Traumata mit. Einige entwickeln Depressionen. Auch ihnen helfen wir. Wir arbeiten mit Psychologen zusammen sowie mit Kriegsversehrten, die schon auf einem guten Weg sind.

Bieten Sie auch Ausbildungsmöglichkeiten für behinderte Menschen?

Nein, dafür haben wir leider kein Geld.

Was tut der Staat?

Der Staat ist so arm, dass er nicht viel tun kann. Aber wir haben immerhin Kontakt zum Gesundheitsministerium. Auch die Behörden stellen für uns Kontakte her und erteilen Genehmigungen, die zum Beispiel benötigt werden, damit ausländische Ärzte etwa aus Belgien hier ein paar Wochen freiwillig arbeiten können.

Welche Rolle spielen die Kirchen bei der Hilfe für Menschen mit Behinderungen?

Die evangelischen und katholischen Kirchen engagieren sich im sozialen und wohltätigen Sektor. Hilfe und Fürsprache für Arme und Versehrte hat einen festen Platz. Ab den 1980er Jahren sind viele Freikirchen in Kinshasa und im Umland entstanden. Die verfolgen eine andere Philosophie, beziehungsweise ihre Haltung und Ausrichtung ist nicht klar zu bestimmen. Viele Kranke werden von den Kirchen angezogen, die ihnen Heilung versprechen. Aber Heilung ist natürlich eher in Krankenhäusern und von Ärzten zu erwarten.

Was ärgert Sie bei Ihrer Arbeit?

Mich ärgert es, wenn wir es nicht schaffen, die Menschen zu sensibilisieren. Trotz aller Bemühungen bleibt es für manche Angehörige eine Schande, dass Mitglieder ihrer Familien eine Behinderung haben.

Das Gespräch führte Felix Ehring.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2011: Behinderung: Das Recht auf Teilhabe
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