„Es ist heute schwieriger zu sagen, wer der Böse ist“

Beim ersten Weltsozialforum in einem arabischen Land trafen Ende März in Tunis altgediente Globalisierungskritiker auf die Jugend der arabischen Rebellion. Die einen diskutierten über globale Krisen, die anderen über Bürgerrechte. Wie das zusammenpasst, erklärt Francisco Marí, der als Delegationsleiter von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst in Tunis war.

Wie stark haben die Konflikte und Umbrüche in Nordafrika das Forum geprägt? 
Das Weltsozialforum bildet immer auch lokale Themen ab. In Tunis wurde das aber besonders stark deutlich. Rund 80 Prozent der Teilnehmer kamen aus Nordafrika, darunter sehr viele junge Leute. Denen geht es natürlich in erster Linie um die Zukunft ihres Landes, den Aufbau einer Zivilgesellschaft und einer funktionierenden Demokratie. Dementsprechend wichtig waren Themen wie Meinungsfreiheit und Frauenrechte. Und über die Rolle der Religion wurde viel diskutiert.

Muss das Sozialforum auch radikale, beispielsweise islamistische Stimmen aushalten?
Das Forum versucht in erster Linie säkulare und liberale Organisationen anzusprechen. Aber so lange die Gruppen nicht politischen Parteien angehören, die generell ausgeschlossen sind, kann jeder mitmachen. Es gab einen Stand der Jugend der Salafisten. Auch andere regionale Konflikte waren präsent. Vertreter von Hamas und Fatah waren da. Und sogar Anhänger und Gegner des syrischen Präsidenten Assad. Es kann eine Chance sein, wenn der Raum entsteht, lokale Konflikte zu diskutieren. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die säkularen und islamistischen Gruppen aus Tunesien auf dem Forum vereinzelt ins Gespräch gekommen.

Globalisierungskritik ist also out?
Nein. Es wurde auch über Entwicklungs- und Verteilungsfragen diskutiert, zum Beispiel über die Umwelt-, Finanz- und Ernährungskrise. Es gab ja rund tausend verschiedene Veranstaltungen.

Lokale Konflikte hier, globale Krisen dort. Redet man da nicht aneinander vorbei?
Manchmal schon, ja. Allein wegen der Sprachbarriere bei vielen Veranstaltungen. Es sollte zwar alles übersetzt werden, aber es gab nicht genug Dolmetscher. Die Veranstaltungen zu entwicklungspolitischen Fragen waren eher von den NGOs aus dem Norden geprägt. Aber auch Leute aus Tunesien oder Marokko haben sich vereinzelt beteiligt. Etwa wenn es um Energie und Klima ging. Es hilft auf jeden Fall, wenn man die Probleme auf den regionalen Kontext runterbricht. Was bedeutet beispielsweise das europäische Solarstromprojekt Desertec in der Sahara für die Energieversorgung in Tunesien? Ich denke schon, dass dieser Austausch den Leuten vor Ort weiterhilft. Umgekehrt haben die grundsätzlichen Debatten der tunesischen und arabischen Zivilgesellschaft dem Forum gut getan.  

Inwiefern?
Weil Dinge wie Grundrechte und die Diskriminierung von Minderheiten wieder ein stärkeres Gewicht bekommen haben. Die Gesellschaften im Norden Afrikas ringen um Toleranz, Demokratie und Beteiligung. Auf den Sozialforen der vergangenen Jahre schienen solche Themen nicht mehr so dringlich. Nun mussten viele lernen, dass ein breiter zivilgesellschaftlicher Diskurs längst nicht überall so einfach möglich ist wie etwa in Lateinamerika. Diese Erkenntnis hilft, wenn man neue Menschen ansprechen will.

Die Kritik ist nicht neu, aber kann das Forum mit so einer großen thematischen Vielfalt überhaupt noch Impulse setzen?
Bei einzelnen Themen sicherlich, zum Beispiel mit dem Aufruf gegen Landraub nach dem Forum 2011 in Dakar oder dieses Jahr mit der Kritik an der europäischen Migrationspolitik.

Worum ging es bei der Diskussion um die Migrationspolitik?
Die EU stellt den Tunesiern mehr Reisefreiheit in Aussicht, im Gegenzug soll Tunesien illegale Einwanderer und Flüchtlinge aus den Ländern südlich der Sahara schon vor der Einreise in die EU abfangen. Die Menschen in Tunesien fühlen sich deshalb von der EU erpresst. Einerseits wollen sie mehr Reise- und Handelsvorteile, andererseits wollen sie sich die Bedingungen nicht von der EU diktieren lassen und selbst entscheiden, wie sie mit Migranten umgehen. Viele haben auch nicht vergessen, dass die EU mit den ehemaligen Machthabern in Nordafrika eine restriktiven Politik gegen Flüchtlinge vereinbart und logistisch unterstützt hat. 

Kann sich aus dem Forum wieder eine breite globalisierungskritische Bewegung entwickeln?
Die Frage ist ja, gegen wen sich eine solche Bewegung richten sollte. Es ist heute schwieriger zu sagen, wer das Gegenüber, wer der Böse ist. Ursprünglich ging es bei dem Forum vor allem um globale Handels- und Finanzfragen und die Kritik an der Politik der G8 und der Welthandelsorganisation. Aber die haben an Bedeutung verloren, dafür werden andere wie die BRICS-Staaten immer wichtiger. Auf diese Veränderungen muss man erst mal Antworten finden. Das Forum ist dadurch auf jeden Fall differenzierter geworden. Und das ist auch gut so. Für uns ist es sowieso weniger eine Bewegung als vielmehr ein Treffen. Den NGOs und den sozialen Bewegungen bietet es die Möglichkeit, sich abseits des „Gipfel-Tourismus“ ohne Erfolgsdruck auszutauschen. 

Welche Rolle spielen bei einem solchen Austausch die neuen globalisierungskritischen Bewegungen wie Occupy?
Obwohl es sicher thematische Überschneidungen gibt, treffen da unterschiedliche Herangehensweisen aufeinander. Diese Bewegungen sind horizontal organisiert und das Weltsozialforum ist vielen vielleicht zu hierarchisch. Ich denke, das WSF kann aber auch von diesen neuen Bewegungen lernen, vor allem, was die Vernetzung über das eigentliche Forum hinaus angeht. Als Mitglied im internationalen Rat des WSF wollen wir uns mit „Brot für Welt“ jedenfalls für eine Modernisierung in diese Richtung einsetzen. 

Das Gespräch führte Sebastian Drescher

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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