Als erste vergessen, als letzte unterstützt

Sogenannte „Jahrhundertfluten“ wie unlängst im Osten von Deutschland treten auch hierzulande viel häufiger aus, als der Begriff suggeriert. In vielen armen Ländern wiederum sind vom Klimawandel verstärkte Naturkatastrophen längst Alltag. Für diese Länder sind sie eine noch viel schwerere Bürde als für uns. Und Menschen mit Behinderungen drohen überall auf der Welt als erste unterzugehen.

Die großflächigen Überschwemmungen in Dresden, Magdeburg und Passau haben uns in den vergangenen Wochen wieder gezeigt, wie schnell der Mensch mit seinen vermeintlich hoch entwickelten technischen Errungenschaften von der Natur in seine Schranken gewiesen wird: Autos werden einfach weggeschwemmt, Straßen meterhoch überflutet, Häuser durch Schlamm- und Wassermassen unbewohnbar – innerhalb weniger Tage sind Menschen in ihrer Existenz bedroht. Von den seelischen Folgen, mit denen die Betroffenen, die zum zweiten Mal nach 2002 persönliche Gegenstände und ihr Zuhause verlieren, leben müssen, ganz zu schweigen.

Autor

Dr. Rainer Brockhaus

ist Direktor der Christoffel-Blindenmission Deutschland.

Als „Jahrhundertflut“ hatte man damals die sintflutartigen Überschwemmungen bezeichnet – eine Fehleinschätzung, wie sich nun herausstellt. Kein Jahrhundert, sondern gerade mal ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis die Natur ihre gewaltige Kraft wieder entfaltet und den Menschen gezeigt hat, wie machtlos und hilflos ausgeliefert sie sind. Und das, obwohl wir in einem hochentwickelten Industrieland leben. Die Folgen solcher Naturgewalten treffen immer wieder die Ärmsten der Armen am härtesten. Das Beispiel von Benilda Caixeta aus den USA ging um die Welt und wurde doch viel zu wenig wahrgenommen. Benilda war wegen ihrer Muskeldystrophie auf den Rollstuhl angewiesen und wartete in New Orleans drei Tage lang auf Hilfe, um vor dem Wirbelsturm Katrina in Sicherheit gebracht zu werden. Sie ertrank in ihrer Wohnung.

Wenn die Gesellschaft in hochentwickelten Ländern nicht in der Lage ist, sich um ihre Mitmenschen zu kümmern, wie viel schwieriger ist dann oft die Situation für Menschen mit einer Behinderung ein einem Entwicklungsland? Von den sechs Ländern, in denen in den nächsten Jahren die größten Naturkatastrophen zu erwarten sind, zählen zwei zu den ärmsten der Welt, vier sind als Schwellenländer klassifiziert. Dort ist das Gefälle zwischen Arm und Reich noch viel größer als in Deutschland oder den USA: Bangladesch, Äthiopien, Indien, die Philippinen, Vietnam und China sind in den  kommenden Jahren am stärksten gefährdet von extremen Wetterereignissen. Am Horn von Afrika sind derzeit mehr als 4,5 Millionen Menschen durch die schlimmste Dürre seit 60 Jahren auf Hilfe angewiesen.

Die Post-2015-Agenda muss inklusiv gestaltet werden

Die Folgen von Überschwemmungen, Erdbeben oder Dürreperioden treffen die Ärmsten besonders hart – unabhängig davon, ob es sich um ein Schwellenland oder ein Land mit niedrigem Einkommen handelt. Seuchen und Krankheiten fordern Tausende Tote, verursachen chronische Leiden oder Behinderungen und schwächen die wirtschaftliche Situation vieler Länder zusätzlich. Der Klimawandel zwingt die Menschen außerdem, sich auf die Suche nach Wasser und Nahrung zu begeben, Migration und Entwurzelung nehmen zu. Bereits jetzt zieht eine beträchtliche Zahl von Menschen auch aufgrund regelmäßiger Ernteausfälle aus den ländlichen Gebieten in die Städte, was zu einer rasanten Urbanisierung mit planloser Ausdehnung der einkommensschwachen Siedlungen und Slums führt.

Der Klimawandel verschärft die soziale Ungleichheit – für die Länder des Südens bedeutet das eine ungleich schwerere Bürde als für uns. Zwar sind sie als wichtige Themen für die Entwicklungsarbeit und die Millenniumentwicklungsziele erkannt worden, doch ob und wie diese Themen in der neuen Generation der Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele verankert sein werden, ist immer noch offen.

Und wieder besteht die Gefahr, dass eine besonders betroffene Gruppe von Menschen schlicht vergessen wird: Menschen mit Behinderungen leiden besonders stark unter Naturkatastrophen. Sie sind diejenigen, die als erste vergessen werden und als letzte Hilfe erhalten. Daher sind Menschen mit Behinderungen besonders gefährdet, in solchen Situationen in Armut zu fallen. Wir müssen endlich anfangen, die Situation von Menschen mit Behinderungen in allen Lebenslagen mitzubedenken. Ein erster Schritt dazu wäre die wirklich inklusive Gestaltung der Post-2015-Agenda. Denn nur wenn wir alle zusammenstehen, können wir die Entwicklung einer humaneren Gesellschaft vorantreiben. 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2013: Neues Wissen im Blick
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