„Buen Vivir“ ist kein Allheilmittel

Während hierzulande Meinungsmacher zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme mehr Konsum und Wirtschaftswachstum fordern, entdecken Menschen anderswo das
„Buen Vivir“ neu. Nicht vom guten Leben in den Konsumparadiesen träumen sie, sondern einfach davon „gut zu leben“.

Das Konzept des „Buen Vivir“ greift Werte aus Ethiken und Weltsichten ursprünglicher Kulturen auf, die vom Leben im Einklang mit der Gemeinschaft und der Mutter Erde erzählen. Dieses Narrativ hat die indigenen Kulturen längst verlassen, und es wird auch außerhalb Lateinamerikas bereitwillig aufgenommen. Ein nostalgischer Diskurs also, der bessere Vergangenheiten erfindet? Ein weiteres Kapitel aus der Ideengeschichte des „guten Wilden“, der die Phantasien und Debatten europäischer Gelehrtenstuben seit der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt beflügelt hat?

Autor

Beat Dietschy

ist Zentralsekretär von "Brot für alle" in Bern.

Das mag im Blick auf die begeisterte Aufnahme in der Alten Welt ein Stück weit zutreffen, nicht aber für die immer breiter werdende Diskussion in Lateinamerika. „Besser leben würde heißen, besser als andere, gegen andere“, sagte mir ein junger Mann in Mexiko, der lieber bescheiden, aber „gut“ lebt. Da ist Kritik am westlichen Wachstumswahn und am entfesselten Eigennutz-Kalkül der globalisierten Marktgesellschaft herauszuhören, aber keine Verklärung früherer Zeiten.

An einem Treffen der zivilgesellschaftlichen Organisation INESIN, die den interkulturellen Dialog in Chiapas/Mexiko fördert, hat sich für mich wenig später dieser Eindruck bestätigt. Lekil kuxlejal – „gut leben“ in den Mayasprachen Tsteltal und Tsotsil – werde in Dorfgemeinschaften heute praktiziert, erklärt eine Teilnehmerin des Treffens in San Cristóbal de Las Casas. „Es ist ein Prinzip, das die wertvollen Erbstücke unserer ursprünglichen Kulturen aufnimmt“, meint ein anderer, „es hilft uns, in unserem Alltag das Gemeinwohl im Blick zu behalten.“ „Ich bin, weil Ihr seid“, fasst eine Dritte ihre Erkenntnis des Tages zusammen. Wir sind, erläutert sie, auf ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt angewiesen, auch im größeren Lebensganzen der Erde, ohne das wir gar nicht wären.

Die viele Formen des guten Lebens

„Buen Vivir“ hat viele Gesichter. Für die autonomen Zapatisten-Gemeinden in Chiapas steht es in erster Linie für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Sie hatten für den Respekt ihrer indigenen Kulturen und ihrer Rechts- und Regierungsformen gekämpft. Im mexikanischen Parlament fanden sie damit kein Gehör. Daher haben sie begonnen, sich ohne staatliche Hilfe aus Armut und Abhängigkeit zu befreien und ein eigenes „Buen Gobierno“ aufzubauen. In ihren multiethnischen Gemeinschaften nimmt so nach und nach ihre Vision einer neuen Welt Gestalt an, in der „viele Welten“ gleichberechtigt Platz haben.

In Bolivien und Ecuador sind „Vivir Bien“ respektive „Buen Vivir“ vor wenigen Jahren zu Staatsprinzipien mit Verfassungsrang erhoben worden. Sie unterstreichen die Anerkennung der verschiedenen Kulturen in ihren „plurinationalen Staaten“ und begründen ausdrücklich „Rechte der Natur“, die auch unabhängig von menschlichem Nutzen zu respektieren sind.

Als Staatsprinzip untauglich

In beiden Ländern setzen allerdings die Regierungen zugleich auf Staatseinnahmen durch ungebremste Ausbeutung der Bodenschätze. Diese Widersprüche stoßen auf heftige Kritik, gerade von indigener Seite. Für ein Regierungsprogramm taugt somit „Buen Vivir“ nicht unbedingt, sehr wohl aber dazu, ein solches zu hinterfragen. Erst recht, wenn es in der eigenen Verfassung steht. „Buen Vivir“ ist keine Sozialutopie und kein Modell für ein ideales Staatswesen à la Thomas Morus, aber eine ausgezeichnete Sehhilfe und ein Maßstab für gerechte, ausbalancierte Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur.

„Gut leben“: Das werfe zu Recht mehr Fragen auf, als Antworten da seien, wurde bei dem erwähnten Treffen in San Cristóbal betont. Lekil kuxlejal sei eben kein fertiges Rezept, meinte eine Frau dazu, seine Bedeutung müsse vielmehr in jedem Kontext neu gesucht werden. Das klingt anders als der herrschende westliche Diskurs. Er sieht, wie der US-amerikanische Ökonom und Ökologe Herman Daly einmal sagte, für alle Probleme immer nur die eine Lösung vor: Wachstum.

Die vielen Gesichter des Lekil kuxlejal oder des „Buen Vivir“ entspringen indigenen Kosmologien. In der abendländischen Mythologie dagegen gibt es das eine Heilmittel, das gegen sämtliche Krankheiten wirke soll – davon stammt der Ausdruck „panacea“. Die Göttin Panazee, Tochter des griechischen Gottes der Heilkunst, hält immer den gleichen Zaubertrank bereit. Heute zum Beispiel das Universalheilmittel „Wachstum“. Oder auch „Entwicklung“?

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erschienen in Ausgabe 9 / 2014: Atomwaffen: Abrüstung nicht in Sicht
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