Flächendiät für Deutschland

Jeden Tag verschwindet in der Bundesrepublik eine
Fläche von hundert Fußballfeldern fruchtbaren Bodens unter Beton. Bund, Länder und Kommunen sind sich einig, dass das so nicht weitergehen darf. Aber Umsteuern ist schwierig.

Ein Neubaugebiet? Dafür müssten Hunderte Obstbäume fallen, Grün- und Ackerflächen gingen verloren, Feldlerchen, Nachtigallen und Steinkäuze würden vertrieben. Die Zahl der Autos, die sich jeden Morgen durch die enge Hauptstraße des Frankfurter Stadtteils Bonames zwängen, würde hingegen erheblich steigen. Das jedenfalls befürchtet die örtliche Bürgerinitiative und läuft Sturm gegen die Stadtplaner. Die sehen sich zudem mit mehr als einem Dutzend weiterer Initiativen konfrontiert, die neue Siedlungen am Rande der Bankenmetropole stoppen wollen. Es gebe genügend Flächen, die bereits versiegelt sind und für Bauvorhaben genutzt werden könnten, argumentieren die Gegner.

Über die Bebauung von Wiesen und Feldern wird zwischen Kommunen und Bürgern in Deutschland häufig gestritten. Die einen wollen Geld verdienen, indem sie Investoren Land für Wohnungen verkaufen oder mit der Ansiedlung von Unternehmen Grund- und Gewerbesteuern einnehmen. Die anderen möchten ihre Lebensqualität im Grünen erhalten und die Natur schützen. Auch manche Bauern wehren sich vehement dagegen, wenn ihre Äcker Straßen oder Einkaufszentren zum Opfer fallen sollen – andere hingegen verkaufen, weil ihr Grund und Boden als Bauland mehr wert ist.

Dass Länder mit wachsender Bevölkerung wie China, Indien oder Nigeria mehr Flächen für Siedlungen und Gewerbe brauchen, leuchtet ein. In Deutschland hingegen sinkt die Einwohnerzahl seit Jahren, und trotzdem müssen Äcker, Wiesen und Weiden weichen. Das liegt unter anderem daran, dass die Zahl der Haushalte und die Platzansprüche gestiegen sind – zwischen 1998 und 2013 von 39 auf 45 Quadratmeter pro Kopf. Immer mehr Menschen besitzen Ferienhäuser und Zweitwohnungen, auch die Industrie und öffentliche Einrichtungen bauen gerne großzügig. Subventionen für den Bau von Eigenheimen und Einkaufszentren auf der grünen Wiese haben die Entwicklung verstärkt. 

"Kein Respekt gegenüber fruchtbarem Boden"

Ein ähnlicher Trend zeigt sich nicht nur in der Bundesrepublik, sondern europaweit. „Eine Respektlosigkeit gegenüber fruchtbaren Böden“, meint Gertrude Penn-Bressel, die beim Umweltbundesamt in Dessau das Fachgebiet „Nachhaltige Raumentwicklung, Umweltprüfungen“ leitet. Die regionalen Unterschiede sind groß, Deutschland liegt laut dem Projekt Corine Land Cover (CLC), das die Landbedeckung und Landnutzung in Europa erfasst, im Durchschnitt. Vor allem in Irland und in Spanien sei während des Immobilienbooms „unglaublich viel Fläche verbraucht worden“, sagt Getrude Penn-Bressel.

Wissenschaftler des europäischen Institutes für Umwelt und Nachhaltigkeit warnen davor, weiter Böden in Europa zu versiegeln, und prognostizieren hohe Einbußen bei der Produktion von Lebensmitteln. Davon abgesehen schadet der Flächenfraß der Umwelt. Fruchtbarer Boden und Lebensräume für Tiere und Pflanzen gehen verloren, Landschaften werden zerschnitten, Grundwasser kann sich schwerer neu bilden und die Gefahr von Überschwemmungen steigt.

Hinzu kommen soziale und wirtschaftliche Schäden: Einkaufsmärkte auf der grünen Wiese gefährden die Existenz von Einzelhändlern und Dienstleistern in den Städten und Dörfern, die Ortskerne veröden. Die Kommunen tragen zudem erhebliche zusätzliche Kosten, weil sie die Neubausiedlungen und Gewerbegebiete an die Infrastruktur anbinden müssen.

Nicht mehr als 30 Hektar pro Tag

Im Grunde sind sich Bund, Länder und Kommunen einig: Der Flächenfraß darf nicht in diesem Tempo weitergehen. Die Bundesregierung hat sich bereits 2002 die Forderung des Rates für Nachhaltige Entwicklung zu eigen gemacht, dass bis 2020 nur noch 30 Hektar täglich zusätzlich versiegelt werden sollen – in den Jahren 2009 bis 2012 waren es laut dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) 74 Hektar, mehr als doppelt so viel. Das entspricht einer Fläche von hundert Fußballfeldern. Dabei hat sich seit Ende der 1990er Jahre schon viel getan – damals gingen täglich noch 129 Hektar fruchtbares Land verloren.

Das 30-Hektar-Ziel ist in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie verankert und wurde 2013 im Koalitionsvertrag noch einmal bekräftigt. Bereits 2005 hat der Bund die Eigenheimzulage abgeschafft. Es wurden zahlreiche Forschungs- und Förderprogramme aufgelegt, um für Kommunen „best practice“-Modelle zum Flächensparen zu entwickeln und zu verbreiten. Auch Umweltschutzorganisationen wie der Naturschutzbund Deutschland (NABU) haben sich daran beteiligt.

IImmerhin acht von 16 Bundesländern haben in ihren Landesentwicklungsplänen eigene Reduktionsziele ausgewiesen. Und der Deutsche Städte- und Gemeindebund bekennt sich zum „innovativen Flächenmanagement“: Es soll Innenstädte und Ortskerne stärken, Baulücken schließen und Brachflächen nutzen. Das ist seit der Novelle des Baugesetzbuches vom Sommer 2013 nun auch gesetzlich verankert: Jede Umwandlung von Flächen, die als Wald oder für die Landwirtschaft genutzt werden, muss begründet werden. Zugleich müssen die Planer nachweisen, dass es keine Möglichkeiten gibt, innerstädtisch zu bauen.###Seite2###

Zurzeit wird laut BBSR noch etwas mehr als die Hälfte der 357.168 Quadratkilometer großen Fläche Deutschlands landwirtschaftlich genutzt, ein knappes Drittel ist mit Wald bedeckt. Siedlungs- und Verkehrsflächen beanspruchen gegenwärtig etwa 13,5 Prozent. Vor allem im Großraum westdeutscher Großstädte und Berlins würden weiter Flächen versiegelt, prognostizieren die Wissenschaftler in ihrer jüngsten Erhebung vom September 2014. Dabei stehen laut BBSR bundesweit bis zu 165.000 Hektar Brachflächen und Baulücken zur Verfügung und damit das drei- bis vierfache der Fläche, auf der derzeit jährlich neue Gebäude und Straßen entstehen. Sogar eine Wachstumsregion wie das Rhein-Main-Gebiet hat solche Reserven, wie aus dem diesjährigen Flächenmonitoring-Bericht des Regionalverbandes hervorgeht.

Die Verbandsgemeinde Wallmerod im Nordosten von Rheinland-Pfalz etwa verfolgt seit zehn Jahren die Strategie „Leben im Dorf – Leben mittendrin“. Sie fördert gezielt den Erwerb und die Sanierung alter Gebäude sowie die Schließung von Baulücken. Wer einen Altbau abreißt und an seiner Stelle einen Neubau errichtet, kann ebenfalls eine finanzielle Unterstützung beantragen. Bislang seien mit Hilfe öffentlicher Zuschüsse fast 200 Häuser gebaut oder saniert worden. Der Bürgermeister verweist auf der Internetseite des Projektes stolz auf eine „Gesamtwertschöpfung in Höhe von rund 30 Millionen Euro“ – ein „kleines regionales Konjunkturprogramm“ etwa für die lokalen Handwerksbetriebe. Weitere Gemeinden, darunter eine aus Niedersachsen, folgen inzwischen dem Wallmeroder Vorbild.

Bei der Bebauung von Brachflächen können allerdings ganz handfeste finanzielle Hindernisse auftauchen. Per Gesetz muss nämlich der Eigentümer die Altlasten entsorgen, die dort möglicherweise während der Bauarbeiten zu Tage gefördert werden. Dieses Risiko sei vielen Investoren zu hoch, meint Getrude Penn-Bressel. Und für die Kommunen sei es oft zu teuer, sich an den Entsorgungskosten zu beteiligen. Auch hier könnten ihnen die Landesregierungen etwa mit einem Altlastenfonds unter die Arme greifen. Langfristig sei es jedoch Aufgabe des Bundes, das Bodenschutzgesetz so nachzubessern, dass es „eine Nachnutzung von Brachflächen besser fördert“, meint die Boden-Expertin.

Eine weitere bundesweite Lösung, den Flächenverbrauch zu stoppen, erprobt das Umweltbundesamt derzeit in einem „Planspiel“ zum überregionalen Handel mit Flächenzertifikaten. Die Grundidee lehnt sich an den Handel mit Emissionszertifikaten an, der den Ausstoß von Kohlendioxid verringern soll. Dabei wird das 30-Hektar-Ziel der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie in Form von „Zertifikaten“ verbrieft und auf die Kommunen verteilt – je nach Zahl ihrer Einwohner. Ein Zertifikat entspricht dem Recht, 1000 Quadratmeter oder 0,1 Hektar neu zu bebauen.

Große Städte erhalten pro Kopf weniger, kleinere etwas mehr, erläutert Gertrude Penn-Bressel. Neubauten in den Innenstädten sind ohne Zertifikate möglich, für bislang ungenutzte Flächen am Ortsrand muss eine entsprechende Menge an Zertifikaten vorgelegt und möglicherweise zugekauft werden. Die Zertifikate sind zwischen den Städten und Gemeinden frei handelbar und können für spätere Vorhaben gespart werden. Der Modellversuch, der bis Ende 2016 abgeschlossen sein soll, laufe „sehr gut“, sagt Penn-Bressel. 100 Kommunen seien daran beteiligt.

Wohnungsbau im Gewerbegebiet

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund indes ist skeptisch. Seine Vertreter sitzen zwar im Projektbeirat und wollen das Planspiel „aktiv“ und „konstruktiv kritisch“ begleiten. Zugleich gibt der Verband aber zu bedenken, dass sich der Flächenhandel „in der Praxis als zu starr erweisen könnte“ und den „vielfältigen Gegebenheiten vor Ort nicht gerecht werden könnte“. Für den NABU dagegen ist der Handel mit Flächenzertifikaten ein „enorm wichtiges Instrument“, wie der stellvertretende Fachbereichsleiter Naturschutz und Umweltpolitik, Florian Schöne, betont.  Der Umweltverband ruft seit 2011 jährlich einen bundesweiten Aktionstag für nachhaltiges Flächenmanagement aus. Er wird an dem Termin begangen, an dem die künftig erlaubten 30 Hektar verbraucht sind – dieses Jahr war das der 20. Juni.

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".
Gemeinsam mit Partnern, darunter die Verbandsgemeinde Wallmerod, hat der NABU außerdem im Dezember 2012 einen Aufruf für eine „zeitgemäße Reform der Grundsteuer“ gestartet. Nachdem der Bundesfinanzhof festgestellt hatte, dass sie nicht mehr verfassungsgemäß ist, weil der Wert von Immobilien stark unterbewertet wird, prüfen die Finanzminister der Länder derzeit eine Reform. Die Unterzeichner des Aufrufs fordern, dass bei einer Neuordnung der Steuer auch Varianten geprüft werden, bei der nur noch Grund und Boden und nicht mehr wie bislang Boden und Gebäude besteuert werden. Damit würde das Bauen auf der grünen Wiese verteuert und die Natur nicht weiter zersiedelt.

Der Rat für nachhaltige Entwicklung erhofft sich von einer solchen Steuerreform allein allerdings keinen „großen Flächenspareffekt“. Er kritisiert in einer Stellungnahme vom Februar 2013, es fehle ein „politischer Aktionsrahmen“und fordert eine „Entscheidungskultur“, die das Flächensparen zur „Normalität“ mache und nicht wie bislang zur „Ausnahme gegen den Mainstream“. Boden-Expertin Gertrude Penn-Bressel äußert sich zu solchen Forderungen verhalten zuversichtlich: „Das notwendige Umsteuern kommt allmählich in den Köpfen an“, sagt sie. „Ich setze auf das Prinzip Hoffnung.“

Die Frankfurter Stadtplaner können auch anders. Im nördlichen Stadtteil Harheim, in dem in den vergangenen fünf Jahren bereits zwei neue Eigenheimsiedlungen entstanden sind, soll ein drittes Neubaugebiet ausgewiesen werden. Doch dieses Mal soll für den Bau von 100 neuen Wohnungen ein Gewerbegebiet umgewidmet werden.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2014: Früchte des Bodens
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