Die Ordnung des Welthandels zerfällt

Der Welthandelsorganisation droht ein rapider Niedergang, weil die USA mit dem Aufstieg großer Schwellenländer ihre globale Vormachtstellung einbüßen. Kann eine Rückkehr zum Kapitalismus mit menschlichem Antlitz den Freihandel retten?

Die Welthandelsorganisation (WTO) trat im Sommer 2014 in eine Phase der Lähmung ein. Das geschah, als Indien einseitig seine Haltung änderte und sein Veto einlegte gegen das Abkommen zu Handelserleichterungen – das ist ein bescheidener Versuch, die Bürokratie an den Grenzen abzubauen. Die WTO, so beklagte ihr Generaldirektor Roberto Azevêdo, stürze in die „ernsteste Krise“ seit ihrer Gründung im Jahre 1995. Am Ende entschied sich Indien unter amerikanischem Druck, einzulenken.

Derweil hat China in den Gesprächen, mit denen das WTO-Abkommen über Informationstechnologie von 1996 aktualisiert werden sollte, eine lange Liste von IT-Produkten vorgelegt, die das Land von dem neuen Abkommen ausgenommen sehen wollte. Es bewirkte damit eine Blockade. Später fand sich Peking zu Zugeständnissen bereit, als die Vereinigten Staaten ihr Gewicht in den seit 2012 laufenden Verhandlungen zur Geltung brachten.

Diesen zwei Ereignissen ist gemeinsam, dass ein Gefühl der Frustration über die WTO wächst und infolgedessen immer stärker direkte Interventionen der USA nötig sind, um für eine Verständigung zu sorgen. Die WTO ist in eine neue Phase der Existenzkrise eingetreten: Sie erscheint multilateral, ist aber im Kern bilateral. Das steht in aufschlussreichem Gegensatz zur Vergangenheit, als die USA lediglich der Störenfried, aber nicht der Verteidiger des multilateralen Handelsregimes sein konnten, das sie selbst geschaffen hatten.

Warum geschieht das der WTO? Es gibt dafür eine einfache, aber schlagkräftige Erklärung: Das gesamte System der WTO wird dadurch gestützt, dass der Hegemon, die USA, es mit politischem und ökonomischem Kapital ausstattet. Wenn sich die USA im relativen Niedergang befinden, wird das Handelssystem zerfallen. Diese Theorie ist unter dem Namen „hegemoniale Stabilitätstheorie“ bekannt. In der Geschichte ist die Existenz eines Hegemons – also einer globalen Vormacht – eng verbunden mit dem Bestehen einer internationalen wirtschaftlichen Infrastruktur. Im 19. Jahrhundert sicherte Großbritannien als Hegemon die internationale Ordnung des Freihandels und der auf dem Goldstandard beruhenden Währungen. Eine solche liberale Ordnung hat der US-amerikanische Hegemon nach 1945 mit dem System von Bretton Woods wiederhergestellt. Das Fehlen einer Führungsmacht ist dagegen ein Rezept für den Zerfall, wie die wirtschaftliche Unordnung während der Zwischenkriegszeit zeigt. Daraus folgt, dass eine Vormacht nötig ist, die das öffentliche Gut einer offenen, stabilen internationalen Wirtschaftsordnung bereitstellt.

Die Schwelleländer blockieren

Wie steht es in dieser Hinsicht um das Welthandelsregime? Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die USA ihre überwältigende militärische und wirtschaftliche Macht und brachten das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) zur Handelsliberalisierung auf den Weg. Allerdings entschieden sich die USA angesichts der Einschränkungen, die ihnen der Ost-West-Konflikt auferlegte, für ein relativ schwaches Handelsregime, das nicht das volle Potenzial der Handelsöffnung ausschöpfte. Zum Beispiel gestand der GATT-Artikel XVIII Entwicklungsländern „spezielle und unterschiedliche Behandlung“ zu und gestattete ihnen damit lang dauernde Abweichungen von der Doktrin des Freihandels.

Davon war keine Rede mehr, als die USA nach dem Ende des Kalten Krieges als einzig verbliebene Supermacht ihren „unipolaren Moment“ erlebten. Die WTO löste dann 1995 das GATT ab. Sie regelt eine breitere Palette von Themen und besitzt einen stärkeren Mechanismus zur Streitbeilegung. Auf Drängen der USA ist die Mitgliedschaft eines Staates in der WTO daran gebunden, dass er ein großes Bündel alter und neuer Abkommen insgesamt akzeptiert – darunter das GATT sowie die Abkommen über handelsbezogene Investitionsmaßnahmen (TRIMS), über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) und über geistige Eigentumsrechte (TRIPS). Das zeigt die Reichweite des neuen Handelssystems und auch, dass die USA nun willens und fähig waren, dieses System abzusichern.

Doch in den internationalen Beziehungen verschieben sich die Machtverhältnisse ständig. Die WTO wurde zu einer Zeit gegründet, als Entwicklungsländer, besonders China, Indien und Brasilien, wirtschaftlich und letztlich auch politisch gegenüber dem Westen stark aufholten – ein Trend, der mit der Finanzkrise seit 2007 noch deutlicher wurde. Angesichts dieser Machtverschiebung sind Entwicklungsländer heute weniger gewillt, klein beizugeben. Die Streitigkeiten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern lassen sich immer schwieriger beilegen. In diesem Licht betrachtet ist Indiens Ablehnung des Abkommens zu Handelserleichterungen ein Symptom für die 13 Jahre dauernde Blockade in der Doha-Entwicklungsrunde – also in den WTO-Verhandlungen über den weiteren Abbau von Handelshemmnissen – und letztlich für den zwangsläufigen Niedergang der WTO.

In der WTO haben auch schwache Staaten Einfluss

Zur Uneinigkeit über das Welthandelsregime kommen Anzeichen für die Desorganisation des Welthandels hinzu. In den 2010er Jahren sind der Handels-Regionalismus und konkurrierende Handelsblöcke zurückgekehrt; genau die sollte die WTO eigentlich überwinden. Die USA verhandeln derzeit außerhalb des WTO-Rahmens über zwei geostrategische Handelsabkommen: die Transatlantische Handels- und Investitions-Partnerschaft (TTIP) mit Europa und die Trans-Pazifische Partnerschaft (TPP) mit dem Asien-Pazifik-Raum. China, das aus dem TPP ausgeschlossen ist, treibt als Reaktion eine Alternative voran: die Asiatisch-Pazifische Freihandelszone FTAAP, das die Amerikaner fernhalten würde. Das Scheitern der WTO ist eng verbunden mit dem Übergang zu einer multipolaren statt bipolaren oder unipolaren Ordnung. Angesichts dieses Trends scheint die WTO dazu bestimmt, langsam aber sicher zu versagen.

Es gibt einen Einwand gegen diese Argumentation: Wenn die Sackgasse, in der sich die WTO befindet, mit dem Niedergang der US-Hegemonie erklärt werden kann, sollten wir eine ähnliche Zersetzung an den anderen beiden Pfeilern der globalen Wirtschaftsordnung beobachten – am Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Doch dieses Duo ist nicht in der Krise, jedenfalls nicht so ausgeprägt wie die WTO. Muss der relative Niedergang der USA also nicht zur Blockade der WTO führen?
Doch. Der Schlüssel, um den scheinbaren Widerspruch zu verstehen, liegt in der Form der Institutionen. Im IWF und der Weltbank gelten nach Einlagenhöhe gewichtete Stimmrechte, die dafür sorgen, dass der Westen die Entscheidungen bestimmt und Herausforderungen von aufsteigenden Staaten abwehren kann. Im Gegensatz dazu hat in der WTO jedes Mitgliedsland de facto ein Veto. Das ermöglicht schwachen Staaten einen unverhältnismäßig großen Einfluss gegenüber den USA; sie nehmen so die Auswirkung des hegemonialen Niedergangs der USA gewissermaßen vorweg.

Aber derzeit dringt an die Oberfläche, dass nun auch dem IWF und der Weltbank aus aufstrebenden Staaten der Wind ins Gesicht bläst. Im Juli 2014 haben Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika die BRICS-Entwicklungsbank ins Leben gerufen, und China hat die Asiatische Infrastruktur Investmentbank (AIIB) gegründet. Beide Institutionen haben zum Ziel, Entwicklungsländern Kapital zur Verfügung zu stellen – eine direkte Herausforderung an die Adresse der von den USA dominierten Ordnung von Bretton Woods.

Wenn der relative Niedergang der Macht der USA unvermeidlich ist, was kann man dann tun? Ein Trick wäre, den „sozialen Zweck“ der WTO zu transformieren. Laut John Gerard Ruggie, einem Wissenschaftler auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, kann ein legitimes soziales Ziel, das aufstrebende Staaten unterstützen, es einem internationalen Regime ermöglichen, den Niedergang des Hegemons zu überdauern. In Bezug auf den Handel bedeutet das: Wenn aufstrebende Staaten selbst den Freihandel als öffentliches Gut unterstützen, warum sollten sie gegen die Existenz der WTO auftreten?

Feindbild WTO

Entwicklungsländer widersetzen sich nicht dem Freihandel an sich. Sie protestieren gegen die Neoliberalisierung des Handels und gegen die Scheinheiligkeit des Westens. Zur Neo-Liberalisierung des Handels gehört ein striktes Regime des intellektuellen Eigentumsrechts, das Nachahmung missbilligt – ein Entwicklungsweg, den die USA und Japan ebenso wie China genommen haben – und damit die Industrialisierung schwierig macht. Die Scheinheiligkeit des Westens verschlimmert das: Er erlegt den Entwicklungsländern die Neoliberalisierung des Handels auf, ignoriert aber großzügige landwirtschaftliche Subventionen in Europa und Nordamerika. All das macht die WTO zum Ziel von Ressentiments unter den armen Ländern.

Das muss nicht so sein. Zu Zeiten des GATT war das Handelsregime geprägt vom „Wohlfahrtsstaat“, der einen Kompromiss zwischen laissez-faire-Kapitalismus und sozialer Wohlfahrt beinhaltete. Neben der bipolaren Struktur war es dieser Umstand, der eine spezielle und differenzierte Behandlung von Entwicklungsländern und, allgemeiner, Flexibilität und Pragmatismus gegenüber protektionistischen Maßnahmen ermöglichte – was heute im legalistischen Regime der WTO nicht mehr vorkommt. Das mag erklären, warum das GATT den Aufstieg Japans und der Europäischen Gemeinschaft überleben konnte, aber die WTO zu kämpfen hat, die Auswirkungen des Aufstiegs der restlichen Länder zu überstehen.

Autor

Gordon Wong

ist Forscher im Bereich Internationale Beziehungen in London.
Eine Rückkehr zum Kapitalismus mit menschlichem Antlitz kann die WTO retten – nicht  zuletzt wenn den Staaten selbst zugestanden wird, ihre Vorteile aus dem Handel zu bestimmen. Staaten unterstützen das Ideal des Freihandels (und die WTO) nur dann, wenn sie dadurch gewinnen können. Ein weicheres Regime der WTO, unterstützt von den USA, würde ihre Legitimität erhöhen und dem Handelsgremium ermöglichen, sich zu erhalten.
Einer Nebennutzen der US-amerikanischen Unterstützung für eine solche Reform der WTO wäre, die Führung der USA wieder zu stärken, das Vertrauen in die US-amerikanische liberale Ordnung wiederherzustellen und alternativen Handelsarrangements zuvorzukommen. Die USA könnten ihr derzeitiges Image als Hauptgewinner des geltenden unfairen Systems korrigieren und ihre „weiche Macht“ zu erhöhen. Angesichts der Wiederkehr der Großmachtpolitik im 21. Jahrhundert ist das von entscheidender Bedeutung.

Aus dem Englischen von Ruben Eberlein

 

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erschienen in Ausgabe 4 / 2015: Unternehmen: Fair bringt mehr
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