Vermeidbare Todesfälle

Die Kindersterblichkeit ist in den vergangenen Jahren zwar weltweit gesunken. Doch Durchfall, Lungenentzündung oder Infektionen bei der Geburt führen weiter jedes Jahr zum Tod von Millionen Mädchen und Jungen in Entwicklungsländern. Diese Krankheiten wären leicht zu behandeln – Kinderhilfsorganisationen vermissen bei vielen Regierungen und internationalen Gebern den nötigen politischen Willen. Es gibt allerdings arme Länder, die es schaffen, das Leben von immer mehr Kindern zu retten.

Ernest Koroma macht Ernst. Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter fünf Jahren sollen künftig kostenlos medizinisch versorgt werden. Das kündigte Sierra Leones Präsident im vergangenen September am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) an. Als symbolträchtigen Start für diese Initiative hat er den Unabhängigkeitstag seines Landes, den 27. April, gewählt. Rund 230.000 schwangere Frauen und etwa eine Million Kleinkinder könnten davon allein in diesem Jahr profitieren. Die Kosten beziffert die Regierung mit 9,1 Millionen US-Dollar. 7,1 Millionen hat sie bereits mit Unterstützung internationaler Geber bereitgestellt, Großbritannien etwa will Medikamente im Wert von 7 Millionen US-Dollar beisteuern. Mit den kostenlosen Gesundheitsdiensten will Präsident Koroma die, wie er sagt, „beklagenswerten Zahlen“ von Todesfällen bei Schwangeren und unter Fünfjährigen deutlich senken. Das wird höchste Zeit. Im Jahr 2008 starben laut UN in Sierra Leone 194 von 1000 Mädchen und Jungen vor ihrem 5. Geburtstag. Das westafrikanische Land zählt zu den 68 Entwicklungs- und Schwellenländern, die weltweit 97 Prozent aller Sterbefälle von Kindern unter fünf Jahren verzeichnen. Ihre Fortschritte werden seit 2005 regelmäßig von einer internationalen Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern überprüft.

In ihrem jüngsten Bericht von 2008 kommen die Forscher zu dem Schluss, dass lediglich 16 dieser Länder auf dem Weg sind, bis 2015 das Millenniumsziel 4, die Reduzierung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel im Vergleich zu 1990, zu erreichen. Sierra Leone ist bislang nicht dabei, ihm wird schlicht „kein Fortschritt“ bescheinigt. Damit steht es allerdings besser da als etwa Botswana, Swasiland, Südafrika und Simbabwe. In diesen Ländern des südlichen Afrika ist die Kindersterblichkeit zwischen 1990 und 2006 sogar noch gewachsen. Der Grund: die Ausbreitung von HIV/Aids und die unzureichende Behandlung von Schwangeren, die an der Immunschwächekrankheit leiden. Sie geben das Virus an ihre Töchter und Söhne weiter.

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".

Auf den ersten Blick ergibt sich aber bei der Betrachtung des vierten Milleniumsziels ein eher positives Bild. Insgesamt ist die Zahl der Mädchen und Jungen, die vor der Vollendung ihres 5. Lebensjahres sterben, zwischen 1990 und 2008 von 12,4 Millionen auf 8,8 Millionen zurückgegangen. Rudi Tarneden vom UN-Kinderhilfswerk Unicef spricht von einer „beachtlichen Entwicklung“. Sie sei vor allem mittels „einfacher und gezielter Interventionen“ erreicht worden, etwa der Verteilung von imprägnierten Moskitonetzen zum Schutz vor Malaria, der Verabreichung von Vitamin A sowie flächendeckenden Impfungen gegen Krankheiten wie Masern. Als Folge von Impfkampagnen sank laut UN die Zahl der Kinder, die weltweit an Masern sterben, zwischen 2000 und 2007 von 750.000 auf 197.000.

Aufklärung auch für die Ehemänner

Allerdings warnt Tarneden vor allzu großem Optimismus. Denn bei der Bekämpfung der häufigsten Todesursachen geht es deutlich langsamer voran. Noch immer sind 45 Prozent der Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren auf Durchfall, verursacht von schmutzigem Wasser, Lungenentzündung oder Malaria zurückzuführen. Oft sind die Mädchen und Jungen unterernährt und damit anfälliger für Infektionen. In Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise werde sich dies noch verschlimmern, befürchtet Tarneden. Ferner bestünden große Mängel in der medizinischen Versorgung von Schwangeren und Säuglingen. 40 Prozent der Kinder, die das fünfte Lebensjahr nicht erreichen, sterben laut Statistik bei oder im ersten Monat nach der Geburt.

Vor allem in ländlichen Regionen gebe es zu wenig Gesundheitsstationen oder Krankenhäuser. Schwangere Frauen müssten oft zu Fuß weite Wege zurücklegen und dann lange Wartezeiten in Kauf nehmen, ergänzt Tarneden. „Die meisten Todesfälle bei Geburten wären vermeidbar, wenn geschulte Hebammen dabei wären“, sagt Nadja Jakubowski vom Kinderhilfswerk terre des hommes. Wer das Leben von Kindern retten wolle, müsse sich auch um die Mütter kümmern, betont sie. Das Risiko von Säuglingen, in den ersten Tagen nach der Geburt zu sterben, sei deutlich erhöht, wenn eine Frau sehr jung, ungewollt oder in kurzen Abständen schwanger werde. Mit Aufklärung und Familienplanung könnten diese Risikofaktoren verringert werden, erklärt die Gesundheitsexpertin und verweist auf erfolgreiche Programme in Indien. Diese richteten sich auch an Ehemänner und Schwiegermütter, die in den Familien noch meist das Sagen haben.

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Die Vermittlung von Wissen über frühkindliche Erziehung, Ernährung und Hygiene sei die wichtigste Voraussetzung für die gesunde Entwicklung eines Kindes, meint auch Dietmar Roller vom Vorstand der Kindernothilfe. So bietet beispielsweise das Stillen während der ersten sechs Lebensmonate einen guten Schutz gegen Allergien und Infektionen. Wird hingegen Babynahrung mit schmutzigem Wasser zubereitet, besteht wieder eine Gefahr für die Gesundheit. Auch Händewaschen mit Seife gehört zu den einfachen, aber wirksamen Verhaltensregeln, um gesund zu bleiben.

Eine große Rolle spielt ferner eine ausreichende Ernährung während der Schwangerschaft und in den ersten zwei Lebensjahren des Kindes, weil diese Zeit maßgeblich ist für die körperliche und geistige Entwicklung. Laut einer Vergleichstudie des Internationalen Institutes für Ernährungsforschung (IFPRI) im ländlichen Haiti von 2008 sollten sich Ernährungsprogramme stärker auf Schwangere und Kleinstkinder konzentrieren. So könnten von vorneherein lebenslange Schäden abgewendet werden, die auf Unterernährung zurückzuführen sind. Die Behandlung bereits mangelernährter Kinder könne Wachstums- und Entwicklungsstörungen nur in geringem Maße ausgleichen, erklärten die Wissenschaftler. Zahlreiche NGOs hätten bereits begonnen, ihre Ernährungsprogramme entsprechend umzustellen.

Die Kindernothilfe arbeitet in mehreren afrikanischen und asiatischen Ländern mit Frauengruppen zusammen, die solche Kenntnisse weitergeben. Auf diese Weise entstünden Gesundheitsnetzwerke auf regionaler und nationaler Ebene, die auch von staatlichen Stellen ihr Recht auf medizinische Versorgung einfordern. „Man könnte die Kindersterblichkeit mit geringen Mitteln um mindestens die Hälfte reduzieren“, ist Roller überzeugt. Doch die meisten Staaten investieren zu wenig Geld in die Gesundheit ihrer Bevölkerung. Durchschnittlich seien es zehn Prozent des Haushaltes, nötig wären aber mindestens 15 Prozent, sagt Roller. „Doch Geld allein wird keine Veränderung bringen“, schränkt er ein.

Malawi macht Fortschritte

Roller vermisst den politischen Willen, sowohl bei vielen Regierungen der Entwicklungsländer als auch bei internationalen Gebern. „Frauen und Kinder haben keine Stimme“, fügt er hinzu. Ihre Interessen würden aufgrund ihrer niedrigen gesellschaftlichen Stellung für unwichtig erachtet. Die Regierungen müssten sich das klare Ziel setzen, die Kindersterblichkeit zu reduzieren. Schließlich hätten fast alle Staaten die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Darin verpflichten sie sich unter anderem, das Recht von Kindern auf „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ zu gewährleisten.

Experten sind sich einig, dass die Kindersterblichkeit nur mit Hilfe von Ernährungs- und Gesundheitsprogrammen, die ineinander greifen, nachhaltig gesenkt werden kann. Das sei für Gesundheitsministerien aber oft schwierig, weil zu wenig oder unvollständige Daten über den Bedarf vorliegen, sagt Nadja Jakubowsi. Hier sei internationale Unterstützung für den Aufbau von Systemen zur Gesundheitsberichterstattung gefragt. Wie Fortschritte auch unter schwierigen Bedingungen möglich sind, zeigt Malawi, eines der ärmsten Länder weltweit. Dessen Regierung hat eine Reihe von Erfolg versprechenden Strategien kombiniert – mehr Hebammen, eine höhere Impfrate, eine bessere Versorgung mit Vitamin A sowie Programme zur Ernährungssicherung. Auf diese Weise ist es ihr gelungen, die Kindersterblichkeit seit 1990 um nahezu die Hälfte zu senken.

Auch Sierra Leones Nachbar Liberia kann Erfolge vorweisen. Dessen Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf verdreifachte zu Beginn ihrer Amtszeit 2003 die Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen von 9 auf 28 US-Dollar, das entspricht etwa 20 Prozent des Staatshaushaltes. Anfang 2007 wurden dann die Gebühren für die Gesundheitsdienste abgeschafft. Das führte dazu, dass mehr Menschen die Dienste in Anspruch nahmen. Impfungen und Malariavorsorge bei Schwangeren und Kleinkindern wurden verstärkt. In den vergangenen fünf Jahren ist die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren von 235 auf 133 je 1000 Lebendgeburten gesunken. Offenbar hat sich Präsident Ernest Koroma daran ein Beispiel genommen.

 

erschienen in Ausgabe 5 / 2010: Menschenrechte - Für ein Leben in Würde
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