Erfolgsmodell im Härtetest

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Gewerkschaften in Tunesien
Tunesien
Nur in Tunesien hat der Arabische Frühling von 2011 eine Demokratie begründet. Doch die wirtschaftliche und soziale Krise in dem nordafrikanischen Land stellt diese Errungenschaft auf eine harte Probe.

Rund um den Platz des 14. Januar rauscht der Verkehr. Passanten drängen sich zwischen die Autos, um die Straße zu überqueren und die palmengesäumte Avenue Bourgiba zu erreichen. Die pulsierende Geschäftsader der tunesischen Hauptstadt ist nach Habib Bourgiba benannt, dem Gründervater des modernen Tunesien. Äußerlich erinnert nichts daran, dass hier Anfang 2011 der arabische Frühling seinen Lauf nahm. Einzig sichtbarer Hinweis ist das neue Namensschild für den Platz, der von „7. November“ – dem Tag der Machtergreifung des Diktators Ben Ali – umgetauft worden ist auf „14. Januar“, das ist der Tag seiner Flucht 2011. „Ben Ali, hau ab!“ riefen damals Hunderttausende Demonstranten ihrem ungeliebten Staatsoberhaupt  zu.

Trotz der Massenproteste stürzte Tunesien damals nicht in ein Chaos. „Der Volksaufstand war keine Revolution, die alles plattgewalzt hat“, betont Lotfi Larguet, Journalist und Rechtsprofessor in Tunis. Das Land besaß bereits seit der Unabhängigkeit von Frankreich und der ersten Verfassung von 1959 starke Institutionen und eine funktionierende Verwaltung. Hinzu kamen der im arabischen Vergleich relativ hohe Bildungsstand und etablierte soziale Organisationen wie die Gewerkschaften. Dies ermöglichte es, einen geordneten Übergangsprozess einzuleiten hin zur Erarbeitung einer neuen Verfassung und freien Wahlen. Nach der Flucht Ben Alis wurde mit dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer vorübergehend ein Mann des alten Regimes an die Staatsspitze gestellt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Dekrete zu unterzeichnen, die ihm das Bündnis der revolutionären Kräfte unterbreitete.

Mit der 2014 in Kraft getretenen Verfassung hat Tunesien das modernste Grundgesetz in der arabischen Welt. Es verankert universelle Menschenrechte wie die Gewissensfreiheit und die Gleichstellung der Geschlechter und garantiert einen Rechtsstaat und die Gewaltentrennung.  
Dies gelang erst im zweiten Anlauf. Nachdem die Islamisten der Ennahda-Partei 2011 die Wahlen in die Verfassunggebende Versammlung gewonnen hatten, wollten sie ihre Vorstellungen einer Staatsreligion und der „komplementären“ Rolle der Frau in die neue Verfassung packen. Der Protest dagegen trieb im August 2013 erneut Hunderttausende auf die Straße, worauf der Verfassungsrat noch einmal über die Bücher musste. Der Bezug zu den Lehren des Islam blieb zwar im neuen Text erhalten, aber in abgeschwächter Form.

In der Verfassung finde sich nun „von allem etwas“, stellt der Jurist Larguet nüchtern fest. Dadurch riskiere man Mehrdeutigkeiten bei der Auslegung. „Vieles hängt nun von der Regierung und vom Verfassungsgericht ab, das noch installiert werden muss und das eine historisch wichtige Rolle spielen wird.“ Auch muss die Verfassung erst noch in Ausführungsgesetze gegossen werden. Darüber hinaus müssen auf kommunaler und regionaler Ebene demokratische Strukturen geschaffen werden.

Freie Parlamentswahlen als Nagelprobe

Eine wichtige Nagelprobe hat die junge tunesische Demokratie bei den ersten freien Parlamentswahlen vom Oktober 2014 und den folgenden Präsidentschaftswahlen bestanden. Sie gingen transparent und ohne größere Zwischenfälle über die Bühne. Als Siegerin ging daraus das säkular-liberale Bündnis Nidaa Tounes hervor; die islamistisch geprägte Ennahda-Partei, die bis dahin stärkste politische Kraft, verlor stark. Für den korrekten Ablauf sorgte die 2011 geschaffene unabhängige Wahlinstanz (Instance Supérieure Indépendante pour les Élections, ISIE), deren Aufbau vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterstützt wurde.

Sie sei im Vorfeld unter großem Druck gestanden, erinnert sich ihr Präsident Chafik Sarsar. Alle politischen Lager hätten versucht, Einfluss auf Listengestaltung und Wahltermine zu nehmen. „Wahlweise hat man uns Nähe zu den Islamisten oder zur extremen Linken vorgeworfen.“ Die ISIE unter Leitung des Universitätsprofessors hat neun Mitglieder, die keiner Partei angehören und auch nach dem Ausscheiden kein politisches Mandat annehmen dürfen. Die Wahlinstanz bemühte sich, breite Bevölkerungsschichten an die Urne zu bringen, etwa durch eine grafische Gestaltung der Listen, so dass sie auch für Analphabeten lesbar waren. Trotzdem lag die Beteiligung an der Stichwahl für die Präsidentschaft bei für tunesische Verhältnisse bescheidenen 60 Prozent. Vor allem die junge Generation beteiligte sich nur zurückhaltend.

Fast jeder zweite Hochschulabsolvent ist arbeitslos

Gerade bei den jungen, gut ausgebildeten Tunesierinnen und Tunesiern hat der arabische Frühling viele Erwartungen geweckt, die bislang nicht eingelöst sind. Enttäuscht wurde insbesondere die Hoffnung auf Jobs und neue Perspektiven. Viele suchen nach wie vor ihr Glück in Europa. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut Gewerkschaften bei 31 Prozent. Unter den Hochschulabgängern beträgt die Arbeitslosenquote sogar 45 Prozent, zu den 350.000 Betroffenen kommen jedes Jahr 80.000 Diplomierte neu hinzu.

„Auch vier Jahre nach der Revolution verfügt Tunesien über keinen funktionierenden Plan zur Schaffung von Jobs“, kritisiert Salam Ayari, Generalsekretär der 2010 gegründeten Union der Arbeitslosen mit Diplomabschluss (Union des Chômeurs Diplomés, UDC). Frustriert sind die jungen Akademiker auch deshalb, weil ihre Generation maßgeblich zum Sturz von Ben Ali beigetragen, sich ihre Lage aber abgesehen von der Meinungsfreiheit kaum verbessert hat. „Wir haben zwar nun eine sogenannte partizipative Demokratie, das heißt wir können unsere Vorschläge einbringen, aber dann passiert trotzdem nichts“, bedauert Ayari. Die UDC fordert von der Regierung eine nationale Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Korruption in Anstellungsverfahren.

Größter Arbeitgeber in Tunesien ist der Staat. Auf die tausend neuen Stellen, die das Bildungsministerium jedes Jahr schafft, bewerben sich immer mehrere zehntausend Kandidaten. Prekär ist die Lage auch im Privatsektor: Wenn Unternehmen junge Arbeitslose einstellen, übernimmt der Staat während eines Jahres einen Lohnanteil und gewährt Steuernachlässe. Laut Ayari kommt es aber oft vor, dass die Unternehmen ihren Lohnanteil nicht auszahlen und den Angestellten nach einem Jahr durch einen neuen Arbeitslosen ersetzen, um vom staatlichen Förderprogramm zu profitieren. „So werden aber keine neuen Stellen geschaffen.“

Die Perspektivlosigkeit treibt zahlreiche junge Männer radikalen Islamisten zu. Tunesier stellen mit rund 3000 Personen das größte Kontingent an ausländischen Dschihadisten auf den Kriegsschauplätzen in Syrien und Irak. Mit ihrer guten Ausbildung sind sie gefragte Kader bei der Terrormiliz Islamischer Staat. Dass Tunesien selbst nicht vor Terroranschlägen gefeit ist, haben das Attentat vom Frühling im Museum Bardo und der jüngste Anschlag auf Touristen in Sousse gezeigt.

Auch der Abgeordnete Fathi Chamkhi von der linken Volksfront (Front populaire, FP) sieht sein Land in einer Sackgasse. Wirtschaftlich hielten der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Europäische Union (EU) am alten „kolonialen System“ fest, sagt er. Die Verschuldung Tunesiens und die damit verknüpften Abhängigkeiten seien weiter gestiegen, und das Defizit in der Handelsbilanz sei auf einem historischen Höchststand. Weil die Eigenmittel des Staats ständig sinken, schlägt Chamkhis Volksfront eine Spezialsteuer auf das Vermögen der Reichen vor. Auch solle der Staat als großer Grundstückbesitzer 100.000 Parzellen zu vernünftigen Preisen an Private verkaufen, um zu Geld zu kommen und gleichzeitig den Bausektor anzukurbeln.

„Es fehlt nicht an Ideen, aber uns läuft die Zeit davon“, seufzt Chamkhi. Seine Front populaire besetzt nur 15 der 217 Sitze im Parlament und ist in der Regierung nicht vertreten. Es gebe Stimmen im Volk, die sich angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Krise eine Rückkehr zu einem autoritären Regime wünschten, stellt er besorgt fest. Zu Ben Alis Zeiten lag das tunesische Wirtschaftswachstum bei fünf Prozent, inzwischen ist es auf unter drei Prozent gesunken. Laut Weltbank müsste Tunesiens Wirtschaft aber jährlich um sechs Prozent wachsen, um die Arbeitslosigkeit nur zu stabilisieren. 15 Prozent der rund elf Millionen Tunesier leben in Armut.

Autorin

Theodora Peter

ist freie Journalistin in Bern und Korrespondentin von welt-sichten.
Auch der Journalist und Jurist  Lotfi Larguet sieht in der wirtschaftlichen und sozialen Krise eine Gefahr für die junge Demokratie. Es sei beunruhigend zu sehen, welche „ultraliberale“ Politik die Parteien an der Macht betrieben. „Wie soll der Staat seine Aufgaben wahrnehmen, wenn man ihm die Mittel entzieht?“, fragt er. Dass es wie in Ägypten zu einem Militärputsch kommen könnte, schließt der Rechtsprofessor aber aus. Die Armeeführung habe 2011 eine stabilisierende Rolle gespielt, betont Larguet, der als Dozent auch an der Militärakademie unterrichtet. In der Armee seien der „republikanische Geist“ und die Ideologie der Neutralität besonders ausgeprägt. „Man ist bereit, die Republik gegen alle zu verteidigen, die sie infrage stellt“, sagt Larguet. Die Armeekasernen sind immer wieder Zielscheiben von islamistischen Anschlägen.

Bislang hält auch die Zivilgesellschaft Tunesiens am demokratischen und säkularen Modell fest. Dafür sorgen nicht zuletzt die Frauen, die laut Beobachtern die Präsidenten-Stichwahl vom Dezember 2014 zugunsten des 88-jährigen säkularen Kandidaten Beji Caid Essebsi entschieden haben. Dies sieht auch Kalthoum Kennou so. Die Richterin hatte als Unabhängige und als einzige Frau bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert, mit 1,6 Prozent der Stimmen aber nur den elften Rang belegt. Die Frauen hätten ihrer Kandidatur offenbar keine Chance eingeräumt und taktisch gewählt, sagt Kennou. Trotzdem wertet sie den Versuch als Erfolg. Als Kandidatin habe sie 15.000 Unterschriften gebraucht, um zur Wahl antreten zu dürfen. „Ich wollte testen, ob die Tunesier bereit sind,  die Kandidatur einer Frau zu unterstützen.“ Mit ihrer Kampagne habe sie dazu beitragen wollen, die Tür für die Frauen ein Stück weit aufzustoßen und die „psychologische Blockade“ gegenüber einer Frau als Staatsoberhaupt eines arabischen Landes aufzubrechen. Zudem habe sie gegenüber dem Ausland bewiesen, „dass die Muslime nicht grundsätzlich gegen Frauen sind“.

Die Parteien hätten noch nicht begriffen, dass die Frauen eine sichtbarere Präsenz brauchten, um wahrgenommen und gewählt werden zu können, sagt Kennou. Bei ihrer Reise durch die ärmeren Provinzen im Landesinneren habe sie aber vor allem eines festgestellt: „Die Menschen sehnen sich danach, dass es mit dem Land aufwärts geht.“ Die Richterin ist überzeugt, dass Tunesien die heikelste Phase hinter sich hat. „Aber es bleibt noch viel zu tun.“

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erschienen in Ausgabe 8 / 2015: Demokratie: Die bessere Wahl
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