Rat von Rabbi Google

Juden in Nigeria
In Nigeria wächst unter den Igbo eine junge jüdische Gemeinde. Ihre Mitglieder vertrauen bei der religiösen Unterweisung vor allem auf das Internet.

Eine erstaunliche religiöse Bewegung fasst in Nigeria Fuß: Immer mehr Mitglieder der ethnischen Gruppe der Igbo treten zum Judentum über. Zu ihnen zählt Emmanuel Ekegbunam, der als Beamter in der Kommunalverwaltung im südlichen Bundesstaat Anamabra arbeitet. 1968 geboren und römisch-katholisch erzogen, fühlte er sich in seiner Jugend zu einer Form des Christentums hingezogen, die als „messianisches Judentum“ bezeichnet wird. Messianische Juden übernehmen viele Symbole des Judentums: die Kippa und den Gebetsmantel, Hebräisch als Gebetssprache, den Samstag als Feiertag, den Sabbat. Doch sie halten an einer zentralen Glaubensüberzeugung des Christentums fest: dass Jesus der Sohn Gottes ist.

Messianische Juden sind überzeugt, dass sie zu den Wurzeln ihres Glaubens zurückkehren, wenn sie ihn praktizieren wie seinerzeit Jesus und so ihm nahe kommen. Diese Vorstellung ist für das etablierte Judentum natürlich nicht akzeptabel. Dort ist man überzeugt, dass die „messianischen Juden“ durch ihr Missionieren und offensives Vorgehen naive und gutgläubige Menschen anlocken, die auf der Suche nach religiöser Wahrheit sind.

Doch für Emmanuel Ekegbunam war es wie für Tausende andere Nigerianer eine notwendige Phase, die ihn schließlich zu seiner wahren spirituellen Heimat geführt hat: dem Judentum ohne Jesus. Wie sollten christlich erzogene Nigerianer auch zum Judentum finden, wenn Jesu ursprüngliche Religion nicht eine besondere Anziehungskraft für sie hätte? Emmanuel Ekegbunam ist seit 2007 orthodoxer Jude.

Das nigerianische Judentum insgesamt ist kaum ein Vierteljahrhundert alt. Wie die meisten nigerianischen Juden ist Emmanuel jedoch überzeugt, dass er zum Glauben seiner Vorfahren zurückgekehrt ist. Jüdische Igbo stützen die Behauptung, sie seien Nachfahren der einstigen Israeliten, auf eine Vielzahl von Beweisen bezüglich der Sprache und der Riten. Remy Ilona, der wegen seiner Publikationen im Ausland bekannteste nigerianische Jude, vertritt die These, der Kolonialismus und die damit einhergehende Missionierung in Afrika seien mit einer bewussten „Entjudaisierung“ seines Volkes verbunden gewesen. Die Briten, die Nigeria 1960 in die Unabhängigkeit entließen, hätten den geheimen Plan verfolgt, die israelitischen Wurzeln aus dem Bewusstsein der Igbo zu tilgen, sagt Ilona. „Bei meinen Forschungen habe ich entdeckt, dass mich das, was der Kolonialismus uns aufgezwungen hatte, nichts angeht. So wurde ich Jude.“ Derzeit promoviert er in Judaistik an der Florida International University im US-amerikanischen Miami. 

Unabhängig von ihrer Religion verbindet die Igbo eine schmerzliche Erinnerung mit dem jüdischen Volk: ein Genozid. 1967 begann diese ethnische Gruppe, das drittgrößte Volk Nigerias und überwiegend christlich, einen am Ende gescheiterten Unabhängigkeitskrieg gegen das überwiegend muslimische Militärregime, das damals  das Land regierte. Das Regime verfolgte eine unerbittliche Politik der verbrannten Erde gegen die selbsternannte Nation „Biafra“ im Südosten des Landes. Mehr als eine Million Menschen verloren ihr Leben, die meisten Zivilisten. Die Bilder von hungernden Igbo-Kindern und ihren von Unterernährung aufgeblähten Bäuchen waren ebenso dramatisch wie die von jüdischen Mädchen und Jungen, die während der NS-Zeit von Soldaten zusammengetrieben worden waren. Igbo-Chronisten zogen damals eine direkte Parallele zum Holocaust.

40 Jahre nach dem Ende des Biafra-Krieges erinnerte Caliben Ikejuku, als er die Zeremonie der Bar-Mizwa für den Sohn des Gemeindeleiters Sar Haba-kkuk in Abuja leitete, die Gäste daran, dass man die damalige Tragödie auch in Zeiten des Friedens nicht vergessen dürfe. „Nie wieder! Es darf nie wieder geschehen.“ Damit bezog er sich ebenso auf die Katastrophe der Schoah wie auf die Tragödie von Biafra. „Israel ist gekommen, um zu bleiben“, erklärte Ikejuku, der als Chirurg praktiziert.

Die neuen Juden von Nigeria halten sich im Alltag nicht mit den Tragödien der Vergangenheit auf, sondern bilden Glaubensgemeinschaften. In Abuja gibt es drei Synagogen: die Gihon Hebrew’s Research Synagogue, die auf dem Grundstück von Sar Habakkuk und die neueste in Caliben Ikejukus Haus. Dutzende weitere jüdische Gebetshäuser liegen verstreut in der Heimatregion der Igbo im Südosten des Landes. Der berühmte verstorbene Igbo-Autor Chinua Achebe wusste nicht einmal, dass es in seiner Heimatstadt Ogidi eine Synagoge gibt, bis ich ihm vor vier Jahren in seinem amerikanischen Büro an der Brown University davon erzählte.

Die Zahl der Juden in Nigeria ist schwer zu schätzen. Zwischen 20 und 30 Millionen Igbo leben in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Doch wesentlich mehr berufen sich auf eine vermeintliche israelitische Vergangenheit, als tatsächlich die Art von Judentum praktizieren, die von der jüdischen Weltgemeinschaft anerkannt wird. Zu ihnen gehören nicht nur die  „messianischen Juden“, sondern auch andere religiöse Gruppen, von protestantischen und römisch-katholischen bis hin zu teilweise animistischen. Die Zahl derjenigen, die ausschließlich und konsequent die jüdische Religion praktizieren, dürfte bei ein paar Tausend liegen – auch wenn 2008 in der jüdisch-amerikanischen Zeitung „The Forward“ von 35.000 die Rede war.

Sie sind wohl die weltweit erste jüdische Gemeinschaft, die religiöse Unterweisung weitgehend aus dem Internet erfährt. Das erklärt, warum sie mühelos Hebräisch lernen und in dieser Sprache beten und singen. Und obwohl sie sich sehnlichst einen örtlichen Rabbiner wünschen, der die Gemeinde betreut, beziehen sie inzwischen einen Großteil ihres Wissens über die jüdische Religion von „Rabbi Google“.

Ein amerikanischer Rabbiner aus Fleisch und Blut, Howard Gorin aus Maryland, kam 2003 zu den nigerianischen Juden, nachdem er im Jahr zuvor an einer Konversionszeremonie für Abayudaya in Uganda teilgenommen hatte. Die Abayudaya behaupten nicht, dass sie von den Israeliten abstammen, bekennen sich jedoch seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum Judentum. Der Besuch Gorins in Nigeria und seine Folgebesuche, bei denen er eine Thora-Rolle mitbrachte und Religionsunterricht erteilte, waren ein wichtiger Anstoß für die Gemeinschaft. Er wurde schließlich zum „Oberrabbiner von Nigeria“ ernannt, ein ehrenvolles Amt, das er ebenso wie die geistliche Leitung der Gemeinde in Maryland inzwischen niedergelegt hat.

Ein Ansporn für die neuen nigerianischen Juden waren zu Beginn auch gelegentliche Kontakte zu Israelis, die vorübergehend im Land arbeiteten, häufig im Bauwesen. Das Verhältnis zwischen der israelischen Botschaft in Abuja und der nigerianischen jüdischen Gemeinde ist hingegen ambivalent und hängt stark von der Aufgeschlossenheit des Botschafters ab. Während der eine offen für die Versuche der jüdischen Igbo ist, Kontakte zum Staat Israel herzustellen, ist ein anderer vielleicht auf der Hut: Weder das israelische Außen- noch das Innenministerium sind begeistert von der abwegigen Sorge, dass eine Million Igbo sich auf das „Rückkehrgesetz“ berufen, um israelische Einwanderer und Bürger zu werden. Nigerianer sind weltweit wegen Betrügereien, besonders mit E-Mails, in Verruf – die frommen Igbo-Juden leiden darunter, dass sie damit in Verbindung gebracht werden.

Aber sie möchten ohnehin nicht unbedingt nach Israel auswandern. Die Mehrheit der nigerianischen Juden bekennt sich zum Judentum, wie es die meisten Juden in der weltweiten Diaspora tun. „HaSchem, der Allerhöchste, hat uns geholfen, uns als jüdische Gemeinde zu etablieren“, sagt Lawrence Okah, einer der Gründer der Gemeinschaft. „Wir arbeiten mit Ihm. Wir können Israel von Nigeria aus helfen. Ich möchte nicht dorthin gehen und jemandem zur Last fallen.“ Man müsse sich selbst und seiner Kultur treu bleiben – als Igbo und als Jude.

Deshalb wurde auch der traditionelle Brauch der Igbo, die Kolanuss zu segnen, in jüdische Zeremonien integriert. Caliben Ikejuku vergleicht sein Volk gerne mit dem Vogel, der Jahrhunderte mit Schmetterlingen zusammenlebt und schließlich denkt, er sei selbst einer. „Doch der Schmetterling weiß: ‚Nein, das ist ein Vogel!‘“, sagt Ikeju. „Für uns ist es das Beste, wir selbst zu sein, statt uns zu assimilieren, und mit der Wahrheit zu leben“ – als Juden in Nigeria.

Die Igbo – und vor allem die Juden unter ihnen – machen ihrem Ruf, unternehmerisch und innovativ zu sein, alle Ehre. Schon seit langem werden Igbo „die Juden von Afrika“ genannt. Bei einem Chanukka-Fest, an dem ich 2009 teilnahm, hatten die Feiernden aus Coca-Cola-Flaschen eine Menora, den traditionellen Kerzenleuchter, gebastelt. Heute nähen sie ihre eigenen Gebetsmäntel. Ihre ersten Gebetbücher waren unförmige Exemplare, Fotokopien eines der seltenen verfügbaren Originale. Heute haben sie komplette Sätze jüdischer Schriften zur Verfügung – vom Talmud, den Caliben Ikejuku im Ausland gekauft hat, bis hin zu den Büchern der mystischen Kabbala, die auch von Nichtjuden benutzt werden.

Allerdings sind Vorurteile und Misstrauen gegenüber den Juden verbreitet in diesem Land, das fast zu gleichen Teilen zwischen Christen (vor allem im Süden) und Muslimen (überwiegend im Norden) aufgeteilt ist. Das zeigte sich während meines Besuches an Chanukka. Als die Kerzen in der Gihon-Synagoge angezündet wurden, bemerkte ich, in meiner Heimat sei es Brauch, sie in die Fenster zur Straße zu stellen und damit den Stolz auf den jüdischen Glauben zu zeigen. „Das können wir hier nicht machen“, erklärte man mir. „Die Leute könnten denken, dass wir eine Sekte sind.“

Die Angst vor schwarzer Magie

Sekten sind ein Problem in Nigeria, ebenso wie die Praxis der schwarzen Magie oder zumindest die Angst davor. „Die Leute wissen nicht, was das Judentum ist“, klagt der Gemeindeleiter Pinchas – sein Geburtsname ist Prince Azuka Ogbuka’a –, „deshalb müssen wir vorsichtig sein.“ Doch das gilt nicht nur für Außenstehende. Ein Mitglied der Gemeinde wurde beschuldigt, ein anderes Mitglied verhext zu haben. „Aber mit der Thora-Rolle und dem Segen von HaShem halten wir Voodoo aus der Synagoge fern“, sagt Pinchas zuversichtlich.

Ein größeres Problem als schwarze Magie ist die Gleichgültigkeit der Behörden. „Wir bekommen nicht, was uns zusteht“, kritisiert Pinchas. Ein nigerianischer Muslim erhält einen staatlichen Zuschuss für seine Hadsch nach Mekka. Ein Christ hat Anspruch auf staatliche Unterstützung, um eine Pilgerreise ins Heilige Land, nach Jerusalem, zu machen. Anhänger des Judentums, das in Nigeria nicht als Religion anerkannt ist, genießen solche Rechte nicht. Noch schwieriger sind die täglichen Kämpfe um Anerkennung, wenn  Genehmigungen von Behörden nötig sind, zum Beispiel für so einfache Dinge wie den Bau einer Synagoge.

Autor

William F. S. Miles

ist Professor für politische Wissenschaften an der Northeastern University in Boston (USA) und Experte für die Geschichte der Hausa-Region.
Das Bekenntnis zum jüdischen Glauben kann mit persönlichen Opfern verbunden sein. „Meine Frau konnte nicht verstehen, dass ich Jude wurde, und verlangte, dass wir zum Christentum zurückkehrten“, berichtet Emanuel ben Yonatan, der früher Abor hieß. „Ich sagte zu ihr: ‚Ich habe den Glauben meiner Vorfahren gefunden. Es gibt kein Zurück.‘ Und so haben wir uns getrennt.“ Emanuel, katholisch erzogen und Immobilienmakler von Beruf, ist nicht der einzige nigerianische Igbo, dessen Ehe an seiner „Rückkehr“ zum Judentum zerbrochen ist. Der Gemeindeleiter Pinchas, der sich vor zwei Jahren in den USA ein Bild vom Judentum in der Diaspora gemacht hat, teilt sein Schicksal. Aber er ist voller Hoffnung für seine Familie. „Vor einigen Monaten hatte ich die Möglichkeit, meine zwei Söhne und meine Töchter das erste Mal in die Synagoge zu bringen“, erzählt er glücklich. „Was für eine Freude!“

Im Lauf der Geschichte ist das seit je das Los der Juden: Freude in einer Welt zu finden, die sie und ihre Religion häufig nicht versteht oder ihnen sogar mit offener Feindseligkeit begegnet. Nigerianische Juden tragen eine doppelte Last, denn sie können sogar die Anerkennung von ihren Glaubensgenossen im Ausland nicht als selbstverständlich voraussetzen. Aber sie besitzen großes Vertrauen zum Allerhöchsten. „Keine Angst“, pflegt der Gemeindeleiter Sar Habakkuk zu Juden zu sagen, die zu Besuch kommen und vielleicht Angst vor ihrer ersten Begegnung mit Afrika haben. „Hier ist eine jüdische Familie. Und HaShem hat dich hergebracht.“

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2016: Seuchen: Unsichtbare Killer
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