Es wird keine Toten geben

Dürre in Äthiopien
Äthiopien wird von der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten heimgesucht. Aber das Land ist heute besser vorbereitet als während früherer Hungersnöte.

„Morgendämmerung. Als die Sonne auf einer Ebene außerhalb von Korem die beißende Kälte der Nacht durchbricht, bringt sie eine biblische Hungersnot ans Licht. Jetzt, im 20. Jahrhundert. ,Dieser Ort‘, sagen die Helfer hier, ,ist der Ort auf Erden, der der Hölle am nächsten kommt.‘ Tausende von ausgemergelten Gestalten kommen auf der Suche nach Hilfe hierher. Viele finden nur den Tod. Alle zwanzig Minuten stirbt ein Kind oder ein Erwachsener.“

Mit diesen Worten leitete BBC-Reporter Michael Buerk am 23. Oktober 1984 seinen Bericht über die Hungersnot in Äthiopien ein. Während der Journalist mit getragener Stimme spricht, zeigt die Kamera ein sterbendes Baby.

Der kaum zu ertragende Film brachte den Tod in Äthiopien zunächst direkt in britische Wohnzimmer, rüttelte später Menschen auf der ganzen Welt wach und inspirierte Rockstar Bob Geldof 1985 zum Live-Aid-Konzert. Eineinhalb Milliarden Menschen sahen und hörten die weltweit übertragenen Konzerte, rund zweihundert Millionen Mark an Spenden kamen zusammen. Doch für viele kam die Hilfe zu spät, bis zu eine Million Menschen starben.

Heute, mehr als 31 Jahre später, hat es im Land am Horn von Afrika wiederum seit Monaten kaum geregnet. „Äthiopien wird gerade von der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren heimgesucht“, stellte der zuständige Ländermanager der Hilfsorganisation Save the Children im vergangenen Dezember fest. Zuvor waren im Frühling die sogenannten „Belg“-Niederschläge komplett ausgeblieben. Im Sommer führte laut Fachleuten das Wetterphänomen El Niño dazu, dass auch die normalerweise ertragreichere „Kiremt“-Regenzeit in einigen Regionen im Osten des Landes fast ganz ausfiel. El Niño tritt alle sieben bis acht Jahre auf, wenn der Pazifik vor Südamerika ungewöhnlich warm ist und dadurch die Regenfälle in Südamerika, Asien und Afrika vom normalen Muster abweichen.

Die Ernten fielen im vergangenen Jahr in diesen Regionen um 50 bis 90 Prozent geringer aus als üblich. Als Folge der Dürre könnten nach Prognosen der Vereinten Nationen und der äthiopischen Regierung in diesem Jahr rund zwei Millionen Menschen zu wenig zu essen und zu trinken haben. 800.000 Menschen könnten gezwungen werden, vor der Dürre in andere Landesteile zu fliehen.

Tote Kamele und teure Linsen

Bereits im vergangenen Jahr waren nach Schätzungen rund 200.000 Kühe, Schafe, Ziegen und Kamele verendet, in diesem Jahr könnten 450.000 hinzukommen. Viele Viehbesitzer versuchen ihre ausgemergelten Tiere noch schnell zu verkaufen, bevor sie verhungern oder verdursten. Die Viehpreise sanken deshalb nach Angaben des äthiopischen Landwirtschaftsministeriums zwischen August 2014 und August 2015 um bis zu 80 Prozent. Gleichzeitig wurden Lebensmittel viel teurer. So stieg beispielsweise der Preis für Linsen nach Angaben des Ethiopian Humanitarian Country Teams im gleichen Zeitraum um 73 Prozent an. Viele Bauern können sich und ihre Familien aus eigener Kraft nicht mehr ernähren.

Derzeit sind gut zehn Millionen Äthiopier von Lebensmittellieferungen abhängig, hinzu kommen acht Millionen Äthiopier, die regelmäßig staatliche Unterstützung erhalten, weil ihre Ernährungssituation chronisch unsicher ist. Damit ist  fast ein Fünftel der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen. Und die äthiopische Regierung, die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Krise sich bis zum Einsetzen der Sommerregenzeit weiter verschärfen könnte. „Der Ausblick auf 2016 ist sehr düster“, sagte Amadou Allahoury, Äthiopien-Repräsentant der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), im Januar.

Düster, aber nicht katastrophal. 2016 wird es höchstwahrscheinlich keine Bilder von verhungerten Frauen, Kindern und Männern geben, schon gar nicht in dem Ausmaß wie vor 31 Jahren. Denn die Dürre trifft Äthiopien nicht unvorbereitet. 2013 verabschiedete der Staat eine Strategie für das Katastrophenmanagement, die unter anderem die Frühwarnsysteme gestärkt und die Verfügbarkeit von Lebensmittelvorräten in allen Landesteilen verbessert hat. Koordiniert von einer staatlichen Kommission arbeiten derzeit mehr als 60 humanitäre Organisationen in Äthiopien, darunter zehn UN-Agenturen.

David Del Conte, stellvertretender Leiter des UN-Amtes für Humanitäre Hilfe (OCHA) in Äthiopien, sagt: „Es wird definitiv keine Hungersnot geben. Die Regierung, ihre UN-Partner und die NGOs sind in der Lage, das zu verhindern. Vorausgesetzt es sind genug finanzielle Mittel vorhanden.“ Doch die fehlen teilweise noch: Zwar hat Äthiopien seit Oktober bereits rund 300 Millionen US-Dollar in die Bekämpfung der Krise gesteckt und weitere Millionen zugesagt. Internationale Geber haben bislang rund 360 Millionen Dollar bereitgestellt. Doch nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind insgesamt 1,4 Milliarden Dollar notwendig.

Äthiopiens Wachstum bricht Rekorde 

Äthiopien hatte zunächst versucht, die Auswirkungen der Dürre kleinzureden, korrigierte die Zahl der Betroffenen nur zögerlich nach oben und bat die internationale Gemeinschaft erst im Oktober 2015 um Hilfe. Das Land wollte nicht wieder mit Hunger in die Schlagzeilen kommen. In den vergangenen 20 Jahren hat sich Äthiopien von der Weltöffentlichkeit weitestgehend unbemerkt zum Afrikanischen Löwen gemausert und ist zur fünftgrößten Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika aufgestiegen. Zwischen 2004 und 2014 wuchs die Wirtschaft nach offiziellen Angaben jedes Jahr durchschnittlich um 10,9 Prozent. Das ist afrikanischer Rekord. Auch wenn manche Kritiker die offiziellen Wachstumsraten für geschönt halten: Der Aufschwung ist kräftig und lang anhaltend. Und er hat dazu beigetragen, dass Wetterextreme wie die aktuelle Dürre nicht mehr so schnell wie früher zu schweren Hungersnöten führen.

2002 legte die Regierung ein neues Entwicklungsprogramm auf und erklärte die Armutsbekämpfung zum obersten Ziel ihres Handelns. Äthiopien erreichte bis 2015 sechs der acht Millennium-Entwicklungsziele, und auch bei den beiden verbleibenden Zielen (Gleichstellung der Geschlechter und Verbesserung der Gesundheitsvorsorge für Mütter) wurden große Fortschritte erzielt. Das renommierte britische Overseas Development Institute stellt in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr fest, Äthiopien zähle bei der Armutsbekämpfung in den vergangenen Jahren weltweit zu den erfolgreichsten Staaten. Das gilt auch für die Bildungspolitik: Während 1992 noch rund vier von fünf Kindern im Grundschulalter nicht zur Schule gingen, ist es heute nur noch ein Fünftel. Kein anderer Staat in Afrika kann einen so hohen Zuwachs bei den Einschulungsraten aufweisen.

In der Hauptstadt Addis Abeba ist der Aufschwung sichtbar: Überall schießen moderne Hochhäuser aus dem Boden, auf den Straßen rollen immer mehr Autos. Als Ende vergangenen Jahres die in nur drei Jahren aus dem Boden gestampfte 500 Millionen US-Dollar teure und zu 85 Prozent mit chinesischem Geld finanzierte Stadtbahn in Betrieb genommen wurde, berichteten Medien aus aller Welt. Unter anderem mit Unterstützung Chinas und der Vereinten Nationen hat die Regierung in der Nähe der Hauptstadt mehrere Industrieparks errichtet. Die Regierung will internationale Unternehmen anlocken, ausländische Direktinvestitionen fördern, Knowhow importieren und dringend erforderliche Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft schaffen.

Größtes Sozialhilfe-Programm in Afrika

Und der Aufschwung findet nicht nur in der Hauptstadt statt. Vor allem auf dem Land wurde stark in Infrastruktur investiert, denn in Äthiopien leben mehr als drei Viertel der Bevölkerung von der Landwirtschaft. In den vergangen zehn Jahren hat sich das Straßennetz verdoppelt. In guten Zeiten können die Bauern jetzt ihre Waren auf dem Markt anbieten. In schlechten Zeiten erreichen Staat und Hilfsorganisationen mit Hilfslieferungen auch Menschen in abgelegen Regionen.

Der Staat hat in den vergangenen zehn Jahren nach Angaben des Overseas Development Institute jährlich mehr als 15 Prozent seines Haushaltes in die Landwirtschaft investiert. Zum Vergleich: In den anderen afrikanischen Staaten waren es im Jahr 2013 im Durchschnitt nur knapp drei Prozent. In Äthiopien wurden unter anderem Tausende Landwirtschaftsexperten ausgebildet, Felder terrassiert, um der Erosion Einhalt zu gebieten, Bewässerungskanäle gebaut und in Stand gesetzt und Wälder aufgeforstet.

Seit rund fünf Jahren versucht die äthiopische Regierung die Produktivität der Landwirtschaft zudem durch die Verpachtung riesiger Flächen an meist ausländische Investoren zu steigern. Zwar ist die erwünschte Wirkung der umstrittenen Projekte bislang weitgehend ausgeblieben. Dennoch konnte die landwirtschaftliche Produktion nach Angaben des Finanzministeriums seit 2010 jährlich um durchschnittlich 6,6 Prozent gesteigert werden. Eine Weltbank-Studie aus dem vergangenen Jahr geht davon aus, dass die Produktivitätssteigerungen zwischen 2005 und 2011 dazu beigetragen haben, die Armut um sieben Prozent zu senken. Und es ist noch viel Luft nach oben. Denn noch immer werden rund 90 Prozent der Ernten auf unbewässerten Flächen erzielt.

Kein einziger Oppositioneller im Parlament

Zudem hat Äthiopien mit dem Productive Safety Net Programme 2005 das größte Sozialhilfe-Programm in Afrika aufgelegt. In Zeiten schlechter Ernten versorgt das weitgehend von Gebern finanzierte Projekt Bedürftige mit Geld oder Lebensmittellieferungen. Als Gegenleistung arbeiten die Nutznießer an Gemeinschaftsprojekten wie dem Bau von Straßen oder Bewässerungskanälen mit. Derzeit nehmen rund acht Millionen Menschen an dem Programm teil.

Autor

Philipp Hedemann

ist freier Journalist in Addis Abeba. Von 2010 bis 2013 berichtete er als Afrika-Korrespondent für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Sein Äthiopien-Buch „Der Mann, der den Tod auslacht“ ist 2013 im DuMont-Verlag erschienen.
Die Regierung befindet sich jedoch mit ihren Anstrengungen gegen Armut und Hunger im Wettlauf mit dem zwar sinkenden, aber immer noch hohen Bevölkerungswachstum. Zur Zeit der großen Hungersnot 1984/85 lebten 40 Millionen Menschen im Land am Horn von Afrika, heute sind es fast zweieinhalb Mal so viele: 97 Millionen. Menschenrechtler bemängeln zudem, dass die Erfolge bei der Bekämpfung der Armut teilweise auf Kosten der Freiheit gehen. Nach dem Motto: So wenig Demokratie wie nötig, so viel Staatskapitalismus wie möglich, orientiert Äthiopien sich in den vergangenen Jahren immer stärker an China. Seit den Wahlen 2015 sitzt im 547 Abgeordnete zählenden Parlament kein einziger Oppositioneller mehr, die Regierungspartei „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“ ist mittlerweile seit fast 25 Jahren an der Macht.

Während dieser Zeit hat sie reichlich Erfahrung im Management von Naturkatastrophen gesammelt. Bereits während der schweren Dürre am Horn von Afrika vor knapp fünf Jahren konnte die Regierung verhindern, dass es Tote zu beklagen gab. Während im Bürgerkriegsstaat Somalia die Hungernden kaum versorgt werden konnten und Tausende Menschen starben, verhungerte 2011 nach offiziellen Angaben kein einziger Äthiopier. Lediglich Somalier, die die Flüchtlingslager im Nachbarland zu spät erreichten, starben damals auf äthiopischem Boden.

In Zukunft wird die Fähigkeit der äthiopischen Regierung, auf solche Wetterextreme zu reagieren, wahrscheinlich häufiger auf die Probe gestellt. Denn Experten gehen davon aus, dass die Erderwärmung in Äthiopien öfter zu Dürren und Überflutungen führen wird. Zusammen mit seinen internationalen Partnern wappnet das Land sich schon jetzt für den Klimawandel, den es kaum verursacht, unter dem es aber besonders stark zu leiden hat.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2016: Flucht und Migration: Dahin, wo es besser ist
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