Ist Deutschland am Limit?

Streitgespräch
Tun wir genug und das richtige, um Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Not zu helfen? Die Meinungen von Julia Duchrow von Brot für die Welt und dem Publizisten Gerhard Arnold gehen in dieser Frage weit auseinander.

Frau Duchrow, die Europäische Union will, dass Staaten wie Libyen oder Tschad Flüchtlinge und Migranten aufhalten, damit dort geprüft wird, ob sie asylberechtigt sind oder nicht. Ist das für Sie Abschottung?

Duchrow: Ja, ganz klar. Es soll verhindert werden, dass Flüchtlinge und Migranten in der EU Asylanträge stellen. Das Modell gibt es ja schon mit der Türkei. Völkerrechtlich ist das extrem problematisch, weil die Regelung auf Dauer das individuelle Asylrecht untergräbt. In der Türkei sehen wir das: Die EU will von dort Kontingente nur von Syrern aufnehmen, nicht Flüchtlinge aus anderen Ländern wie Eritrea oder Afghanistan. So wird verhindert, dass für jeden Einzelnen geprüft wird, ob er schutzbedürftig ist. Hinzu kommt, dass die Türkei nicht erfüllt, was sie im Abkommen mit der EU zugesagt hat. Nur zehn Prozent der syrischen Flüchtlinge leben in staatlichen Einrichtungen, die große Mehrheit lebt auf der Straße.

Arnold: Ja, die Politik ist Abschottung. Aber von allen schlechten Provisorien ist der Pakt mit den afrikanischen Staaten noch das beste. Perspektivisch sollte die EU ein Stück Land in Libyen pachten, auf dem Flüchtlinge und Migranten zunächst untergebracht werden. Was wäre die Alternative? Vor einigen Jahren habe ich zum ersten Mal in den Medien die Grenze zwischen den USA und Mexiko gesehen. Für mich ist das eine militärische Grenzbefestigung. Barack Obama hat in seiner Amtszeit diese Befestigung immer weiter von Ost nach West ausgebaut. Das heißt: Ein Land, das sich als Einwanderungsland versteht, will keine unkontrollierte Zuwanderung. Zuwanderung und Abschottung gehören zusammen. Und was das Völkerrecht betrifft: Unser Asylrecht ist auf diese Massenmigration gar nicht ausgerichtet.

Duchrow: Zu Ihrer These, dass Einwanderung ohne Abschottung nicht geht: Das Problem ist doch, dass wir in Europa kaum legale Einwanderungswege geschaffen haben, obwohl wir seit Jahren eine Abschottungspolitik erleben, die noch dazu auf Kosten des Schutzes von Flüchtlingen geht. Zu Ihrem Vorschlag, in Libyen ein Gebiet zu pachten: Das ist dasselbe wie das US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba. Als ob das Agieren außerhalb des eigenen staatlichen Territoriums erlauben würde, die rechtlichen Prinzipien und Verpflichtungen zu ignorieren. Die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention sehen die völkerrechtliche Pflicht vor, in jedem Einzelfall durch Beamte der EU in einem fairen Verfahren zu prüfen, ob Anspruch auf Schutz besteht. Ich finde, das ist auch eine christliche Verantwortung: Wer meine Hilfe braucht, den unterstütze ich und nehme ich auf.

Arnold: Frau Duchrow, das deutsche Asylrecht war nie dafür gedacht, als Hintertür für illegale Zuwanderung zu dienen. Es kann nicht sein, dass Hunderttausende Leute kommen und sagen, ich bin schutzbedürftig. Für mich gilt immer noch der alte Rechtsgrundsatz „ultra posse nemo obligatur“: Niemand kann verpflichtet werden, etwas zu tun, zu dem er nicht fähig ist. Das Pochen auf die Flüchtlingskonvention und das Asylrecht grenzt für mich an Prinzipienreiterei. Ich halte es mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann: Wir stehen dazu, dass Menschen, die wirklich politisch verfolgt sind, bei uns weiter Schutz bekommen. Aber die Frage ist halt, wie das wirklich geprüft werden kann.

Duchrow: Wenn sie es schaffen, zu kommen ...

Arnold: Und noch ein Satz zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei: Laut den Zahlen des UN-Flüchtlingskommissars vom Juli sind in der ersten Hälfte 2017 rund 260.000 Syrer aus der Türkei nach Nordsyrien und 470.000 Binnenflüchtlinge in Syrien in ihre Heimat zurückgekehrt. Die Lage in Syrien entspannt sich, Rakka wird bald fallen, in Aleppo beginnt der Wiederaufbau. Es zeigt sich jetzt, dass der Kern des Abkommens mit der Türkei, die Menschen erst einmal von der Weiterreise nach Europa abzuhalten, an Bedeutung verloren hat. Die Leute kehren aus eigenem Antrieb nach Syrien zurück.

Duchrow: Sie kehren auch zurück, weil sie in der Türkei keine Perspektive haben.

Frau Duchrow, ist das Festhalten an der Flüchtlingskonvention Prinzipienreiterei?

Duchrow: Nein. Ich finde diese Bemerkung ungeheuerlich. Die Genfer Flüchtlingskonvention bindet Deutschland und die EU-Mitgliedstaaten und ist gerade heute besonders wichtig, da die Zahl der Flüchtlinge weltweit auf den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gestiegen ist. Die Konvention enthält klare Regeln, auf die sich viele Staaten geeinigt haben; das würde man heute gar nicht mehr so hinkriegen. Und, Herr Arnold, Sie sind mit Blick auf die internationale Debatte auch etwas im Abseits. In den Diskussionen auf Ebene der Vereinten Nationen über einen Global Compact zu Flucht, der nächstes Jahr verabschiedet werden soll, wird immer wieder gesagt: Die Genfer Flüchtlingskonvention ist unsere Grundlage für den Schutz von Menschen. Ich stimme Ihnen zu, dass die Konvention sich nicht für die Regulierung von Zuwanderung eignet, sondern Ausdruck der humanitären Verantwortung für Flüchtlinge ist. Deshalb muss es legale Einwanderungswege geben – und zwar sowohl für hochqualifizierte Fachkräfte als auch für weniger qualifizierte Menschen.

Aber müsste man dann nicht schon bevor die Menschen nach Europa aufbrechen prüfen können, wer für welchen Weg infrage kommt?

Duchrow: Warum? Ich bin strikt gegen die Idee sicherer Herkunftsländer, bei denen von vornherein ausgeschlossen ist, dass jemand asylberechtigt ist. Der Anstieg der Flüchtlingszahlen zeigt doch, dass die Lage in immer mehr Ländern unsicher ist, auch in Regionen wie Westafrika, wo jetzt viele Menschen herkommen, die derzeit in Libyen festsitzen. Insofern brauchen wir individuelle rechtsstaatliche Asylverfahren – einschließlich der Möglichkeit, gegen eine Ablehnung den Rechtsweg zu gehen.

Arnold: Wir müssen zwischen Flucht und Migration unterscheiden. In Afrika haben immer mehr Menschen über Smartphone und Internet einen Zugang zur Welt und sehen das reiche Europa. Die Leute sagen sich: Sind wir eigentlich blöd, dass wir noch hierbleiben? Millionen Afrikaner wollen weg.

Duchrow: Nein. Ich reise sehr viel und sehe jedes Mal: Die Menschen wollen eigentlich bleiben. Und die Zahlen zeigen: Von den Vertriebenen weltweit landen nur sechs Prozent in den 28 Staaten der EU. Es ist ein falsches Bild zu sagen, alle wollen weg. Damit schüren wir unnötig Ängste.

Muss man zwischen Flucht und Migration unterscheiden, wenn man etwas dafür tun will, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben können?

Duchrow: Nein. Und zwar schon deshalb nicht, weil ich finde, dass freiwillige Migration gar nicht unterbunden werden sollte, denn sie ist ein Entwicklungsfaktor. Wo Entwicklung stattfindet, entsteht auch Mobilität. Es ist ein Trugschluss zu glauben, mit Entwicklungspolitik könne man Migration unterbinden. Wir selbst nehmen doch für uns in Anspruch, mobil zu sein und dahin zu gehen, wo wir bessere Jobmöglichkeiten haben. Deshalb würde ich nie davon sprechen, wir müssten Migrationsursachen bekämpfen. Fluchtursachenbekämpfung ist schon eher der richtige Begriff. Und da müssen wir auf viele Faktoren schauen, die auch mit unserer Politik zu tun haben, Rüstungsexporte etwa, die zu Konflikten führen, oder eine unfaire Handelspolitik. Und natürlich der Klimawandel.

Arnold: Ich habe ein Unbehagen bei dem Gedanken, dass die fähigsten Leute ihr Land verlassen und ins Ausland gehen – Stichwort „brain drain“. Wollen Sie, dass aus Afrika die besten Leute weggehen?

Duchrow: Das muss jeder für sich selbst entscheiden können. Wichtig ist, dass in den Herkunftsländern gute Strukturen geschaffen werden, so dass die Fachkräfte dableiben. Da tragen wir eine Mitverantwortung. Und zum „brain drain“: Die Rücküberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer sind ein Vielfaches höher als die internationale Entwicklungshilfe und tragen insofern auch zu besseren Strukturen bei. Die wichtige Bedeutung, die Migration für Entwicklung spielt, haben die Staaten deshalb in der Agenda 2030 anerkannt.

Herr Arnold, sind Deutschland und Europa mit der Zahl der Flüchtlinge und Migranten überfordert?

Arnold: Das Bundesamt für Migration musste von 1000 auf 10.000 Mitarbeiter aufgestockt werden, wir bräuchten 2000 zusätzliche Richter und Staatsanwälte, um mit den Sicherheitsproblemen umzugehen, wir brauchen Sozialbetreuer. Den Bürgern wird praktisch Rechtsschutz verweigert, wenn die Staatstätigkeit derart belastet und auf den Personenkreis der Zuwanderer fokussiert ist. Ich möchte in Deutschland nicht, dass eine rechtsterroristische Gruppe so stark wird wie in Griechenland die „Goldene Morgenröte“, deren Schlägertrupps Schwarzafrikaner auf offener Straße jagen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass die Griechen von Haus aus keine Ausländerfeinde sind.

Duchrow: Zum einen: Es ist noch nie aufgegangen, den Rechten das Wort zu reden, um rechte Gewalt zu verhindern. Zum anderen: Wir haben völkerrechtliche Pflichten, die wir einhalten müssen, und das können wir als sehr reiches Land auch. Es gibt andere Staaten wie Uganda, die Flüchtlinge aufnehmen, die viel stärker belastet sind. Die Bundesregierung hat die Verantwortung, die erforderliche Infrastruktur bereitzustellen, und insgesamt wird sie dieser Verantwortung auch gerecht – im Unterschied zu Ländern wie Polen oder Ungarn und der EU insgesamt. Deshalb muss es viel stärkeren Druck auf diese Länder geben. Wir sind weit davon entfernt, an unsere Kapazitätsgrenzen zu stoßen. Es ist auch eine Frage, wie man die Aufgabe vermittelt, um Akzeptanz zu gewinnen.

Arnold: Da bin ich ganz anderer Meinung. Alle anderen Länder sehen die Lage als dramatisch an. Und weil Sie die Vermittlung und die Akzeptanz ansprechen: Die Debatte ist zunehmend polarisiert, und es gibt Kreise, die stellen einen sofort in die rechte Ecke, wenn man gegen irreguläre Migration spricht.

Duchrow: Aber dafür können die Ausländer doch nichts. Es sind doch wir, die nicht mehr vernünftig miteinander reden...

Arnold: Es geht um den inneren Frieden...

Duchrow: Aber der ist nicht durch die Einwanderer gefährdet. Sie wissen, dass gerade dort die Vorbehalte gegen Einwanderung besonders groß sind, wo die wenigsten Ausländer leben.

Frau Duchrow hat gesagt, es gehöre zur christlichen Verantwortung, Flüchtlinge offen aufzunehmen. Sehen Sie das auch so, Herr Arnold?

Arnold: Die Christen haben einen Zeugnisauftrag in Wort und Tat. Die Stärkeren helfen den Schwächeren, und am deutlichsten zeigt sich das in Diakonie und Caritas. Es ist richtig, dass Christen sich engagieren, sofern sie Augenmaß bewahren und kein Helfersyndrom entwickeln. Man soll helfen, aber nicht mit dem Anspruch, die Welt zu verbessern. Das kann Kirche überhaupt nicht leisten, sondern ist eine staatliche Aufgabe.

Duchrow: Meine Auffassung von Kirche ist, dass sie bei den Schwächsten, bei den Marginalisierten steht. Das ist unser Auftrag. Wo der Staat das gleiche Ziel verfolgt, können wir mit ihm zusammen gehen. Wo das nicht der Fall ist, müssen wir klar widersprechen – ohne dass man sich einer fair geführten Debatte verweigert.

Arnold: Wenn man mit der christlichen Nächstenliebe argumentiert, sollte man den Ball lieber flach halten. Wenn in diakonischen Einrichtungen Subunternehmer tätig sind, die Dumpinglöhne zahlen, dann ist das mit der christlichen Nächstenliebe nicht vereinbar. In den christlichen Gemeinden ging es zunächst darum, dass der Mangel unter den Mitgliedern einigermaßen verteilt wurde. Später, in den Gemeinden des Paulus, sollten die Reichen für die Armen sorgen. Die Aufforderung, aus christlicher Verantwortung überall auf der Welt für eine universelle Nächstenliebe einzutreten, ist eine völlige Überziehung. Das hat mit dem neuen Testament nichts zu tun, weil Nächstenliebe wirklich den nächsten Umkreis meint.

Das Gespräch moderierte Tillmann Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2017: Kongo: Das geschundene Herz Afrikas
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