Europas leere Versprechen

Bekämpfung von Fluchtursachen
Jobs schaffen, damit junge Afrikaner in ihrer Heimat bleiben: Dafür nimmt Europa Milliarden US-Dollar in die Hand. Eine Spurensuche in Mali zeigt, warum das keine gute Idee ist.

Es war zehn Tage her, dass Abdoulaye Traoré zuletzt gearbeitet hatte. Seit Anfang Februar stand die Produktion in der Cashew-Verarbeitungsfabrik still, in der er mit rund zweihundert Kollegen seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Es gab keine rohen Kerne mehr. Niemand hatte seinen Lohn erhalten, seit die sandfarbene, scheunenartige Anlage am Rand einer riesigen Plantage mit dürren Cashewbäumen plötzlich den Betrieb einstellte. Und keiner wusste, wie lange die Pause dauern würde – oder ob die Fabrik ein für alle Mal ihre Tore geschlossen hatte.

Traoré hatte nie vorgehabt, für immer in der Fabrik zu arbeiten. Doch das Schälen und Rösten der Cashews wurde besser bezahlt als die meisten anderen Jobs im verarmten Süden Malis – seine Chance, Geld für eine bessere Zukunft zu sparen. „Aber jetzt können wir einfach nur warten“, erzählte er mir im Februar. „Ich fahre demnächst in die Elfenbeinküste. Da gibt es Arbeit, habe ich gehört.“

Es verwundert kaum, dass ein kleiner Betrieb in Mali durch Ineffizienz in eine kritische Lage gerät. Unter den einheimischen Erwachsenen sind mehr Analphabeten als solche, die lesen können; die Weltbank zählt Mali zu den Ländern, in denen es am schwierigsten ist, unternehmerisch tätig zu sein. Doch die Fabrik für die Verarbeitung von Cashews in Kolondiéba ist eines der Vorzeigeprojekte im Land. Sie dient als Blaupause für künftige millionenschwere Initiativen, die Arbeitsplätze schaffen sollen und darauf abzielen, die Abwanderung nach Europa einzudämmen.

Flüchtlinge werden bezahlt, um zu bleiben

Angesichts von Millionen Migranten und Flüchtlingen, die sich laut Prognose in den nächsten Jahrzehnten auf den Weg nach Europa machen werden, investiert die Europäische Union (EU) Milliarden in die Bekämpfung von Fluchtursachen. Ein großer Teil davon fließt in verarmte und vom Krieg zerrüttete Länder in Afrika: Sie sollen lebenswerter werden. Ángel Losada Fernandez, EU-Sonderbeauftragter für den Sahel, nennt es die „EU-Strategie für Sicherheit und Entwicklung“. Deren Ziel bestehe darin, „die richtigen Jobs vor Ort“ zu schaffen, damit junge Männer sich nicht mehr zum Weggehen gezwungen sähen, sagt er, und zudem Regierungen dabei zu helfen, „dieses ganze Territorium zu kontrollieren“. Mit anderen Worten: Flüchtlinge werden bezahlt, um zu bleiben, und Regierungen erhalten Geld, damit sie andere von der Flucht abhalten.

In knapp zwei Jahren hat die EU nahezu zwei Milliarden US-Dollar für 116 Projekte gebilligt, die in 26 afrikanischen Ländern Fluchtursachen bekämpfen sollen: rund 114 Millionen Dollar für nachhaltige Landwirtschaft und Ernährungssicherheit im Senegal; 32 Millionen Dollar für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Transitzonen im Niger; zwölf Millionen für berufliche Ausbildung und Jugendförderung in Gambia. Verwaltet wird das alles von einem milliardenschweren EU-Treuhandfonds, dem Emergency Trust Fund for Africa, der 2015 auf einem afrikanisch-europäischen Flüchtlingsgipfel eingerichtet wurde.

Die Vorstellung, Entwicklung könnte Migration zum Stillstand bringen, ist verlockend für politische Entscheidungsträger, die verzweifelt nach einer Antwort auf den beispiellosen Ansturm von Migranten und Flüchtlingen suchen. Die Krise hat bereits zu aggressiven sicherheitspolitischen Reaktionen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten geführt, darunter die Finanzierung von Auffanglagern und die Ausstattung von Sicherheitsdiensten in Transitländern, damit diese hart gegen illegale Migration durchgreifen. Entwicklung scheint eine akzeptablere Methode zu sein, um Menschen von der Migration abzuhalten – eine, die nicht so offenkundig im Widerspruch zu den auf Menschenrechten basierenden europäischen Werten steht.

Die Geschichte der malischen Cashewfabrik zeigt die großen Schwierigkeiten, vor denen politische Entscheidungsträger in Europa stehen, wenn sie versuchen, die ärmsten Länder der Erde wieder zu lebenswerten Orten zu machen. Und sie offenbart einen weithin ignorierten Zusammenhang, der dem ganzen EU-Plan zur Bekämpfung von Migration mithilfe von Entwicklung zuwiderläuft: Durch bessere Jobs und ein höheres Einkommen wird der Migrationsdruck in den ärmsten Ländern nicht etwa reduziert, sondern erhöht, wie Wirtschaftswissenschaftler eindeutig belegen – zumindest kurz- und mittelfristig.

Auslandsüberweisungen sind die Haupteinkommensquelle

Wie die meisten seiner Freunde hatte Abdoulaye Traoré lange davon geträumt, nach Europa zu gehen. Und wie ihnen fehlten auch ihm die Mittel dafür. Er wusste nicht einmal, ob er sich  einen Umzug in die malische Hauptstadt Bamako leisten könnte, wo er einen Studienplatz in Jura bekommen hatte. „Das Studium ist kostenlos, aber man braucht Geld für Unterkunft, Fahrtkosten und Bücher“, sagte er. Die Vorstellung, dass er eines Tages in Mali einen gut bezahlten Job finden würde, erschien ihm unwahrscheinlich. Falls doch, wusste Traoré genau, was er machen würde: „Ich würde Geld zur Seite legen und nach Europa gehen.“

Aus Mali kommen viele der nach Europa strebenden Migranten. Es ist zugleich eins der wichtigsten Transitländer für Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern, darunter Senegal, Elfenbeinküste und Gambia. 2012 nahmen Dschihadisten für kurze Zeit den nördlichen Teil des Landes ein, ehe französische Truppen sie wieder zurückdrängten. Das wirtschaftliche Rückgrat dieser weiten, gesetzlosen Gegend im Norden ist heute der Schmuggel. Drogen und Waffen, gestohlene und gefälschte Waren im Wert von Milliarden US-Dollar werden jedes Jahr über alte Karawanenstraßen bewegt, die im Zickzack die Sahara durchziehen. Denselben Weg nehmen Tausende westafrikanische Migranten auf der Ladefläche von Pickups.

Im Süden Malis sind Auslandsüberweisungen die Haupteinkommensquelle. Von hier stammt die Mehrheit der malischen Migranten. Fast ein Viertel der rund 18 Millionen Malier lebt im Ausland. Laut Experten macht das Geld, das sie nach Hause schicken, etwa sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. In Teilen des Südens ist eine Zweigstelle von Western Union wichtiger als die internationale Entwicklungshilfe.

Das gilt auch für Kolondiéba, eine verschlafene ländliche Gemeinde, zwei Stunden von der nächsten asphaltierten Straße entfernt. Dort hat Spaniens Entwicklungsagentur AECID im vergangenen Jahr die Cashewfabrik eröffnet. Früher besaß die Region nahe der Grenze zur Elfenbeinküste eine florierende Cashew-Exportindustrie. Die Regierung hat den Sektor jahrzehntelang vernachlässigt und ließ ihn verkommen. Ihn wiederaufleben zu lassen, könnte nach Ansicht der Entwicklungsexperten der AECID einer der ärmsten Regionen in einem der ärmsten Länder der Welt zum Aufschwung verhelfen.

„Für einen US-Dollar kann man einen ganzen Hektar mit Bäumen bepflanzen“, sagt Francisco Álvaro, ein AECID-Mitarbeiter in Bamako, der an der Projektplanung beteiligt war. „Für diesen Hektar stellt man ein oder zwei Leute ein, und je einen oder zwei für jeden weiteren Hektar. Wir sehen potenziell fünf Millionen Hektar Produktionsfläche in Mali. Jetzt sind wir bei 100.000, also rund zwei Prozent unseres Potenzials.“ Álvaro spricht mit der Begeisterung des Agrarwissenschaftlers über Cashews, wie jemand, der sich über Jahre in dieses Thema vertieft hat. Der Baum sei gut geeignet für das unwirtliche Klima des Sahel, erklärt er, und trage bereits nach drei Jahren erste Früchte. Sei der Baum erst einmal ausgewachsen, könne er selbst bei Dürre überleben und Nüsse produzieren; auf der Suche nach Grundwasser treibe er seine Pfahlwurzeln bis zu zwei Meter tief in den Boden. Zusätzlich zu den Nüssen, die in Europa und den USA immer höhere Preise erzielten, produziere er eine Frucht, die man essen oder zu Saft oder Wein verarbeiten könne. Und aus verdorbenen Nüssen lasse sich immer noch Seife machen.

Die Bauern in Mali hatten sich die theoretischen Vorteile der Cashewbäume allerdings kaum zunutze gemacht. Bevor Álvaro und sein Team kamen, ließ man den größten Teil der Früchte verrotten, und von kommerzieller Wein- und Seifenherstellung hatte man an Orten wie Kolondiéba noch nie etwas gehört. Die Cashews wurden roh exportiert, den Gewinn aus dem Schälen und Rösten der Nüsse strichen die Zwischenhändler in Indien und China ein.

Mit millionenschwerem Anlagevermögen alleingelassen

Álvaro und seine Kollegen bei AECID entwarfen ein rund sieben Millionen US-Dollar teures Pilotprojekt, das als Modell für ein größeres, vom EU-Treuhandfonds finanziertes Vorhaben in der Cashew-Verarbeitung dienen sollte. Sie bauten zehn kleine Verpackungs- und Lagereinrichtungen und eine Weiterverarbeitungsanlage, in der ein Zusammenschluss von Frauengenossenschaften manuelle Schälvorrichtungen bediente und die Nüsse in einem Industrieofen röstete. Außerdem bot AECID den Frauen eine kaufmännische Schulung an, zu der auch die Suche nach Märkten für ihre Erzeugnisse gehörte.

Das Team hatte alles durchgerechnet: Die Einkünfte aus dem Verkauf der weiterverarbeiteten Cashewnüsse hätten bei einer bescheidenen Gewinnmarge ausreichen müssen, um neue Rohware zu kaufen. AECID spendete die ersten fünfzehn Tonnen unverarbeitete Nüsse; danach sollte sich der Betrieb selbst tragen. Doch noch ehe die Fabrik eine einzige Lieferung Nüsse verarbeitet und verkauft hatte, war schon wieder Schluss.

Für die Ursache des Scheiterns gab es unterschiedliche Erklärungen. Manche Arbeiter sagten, die Schwankungen der Cashewpreise erschwerten es, die Kosten für den Kauf neuer Rohnüsse zu kalkulieren. Andere sahen das Problem in der Entscheidung, den Arbeitern Monatslöhne auf der Basis des Gewichts der von ihnen verarbeiteten Cashews zu zahlen. Denn bei diesem System überstiegen die Auszahlungen die Erlöse. Auch die schlechte Qualität der von AECID gelieferten Rohnüsse spielte eine Rolle: Bis zu einem Drittel waren verdorben, bevor sie überhaupt weiterverarbeitet werden konnten.

Es steht jedoch fest, dass die Frauengenossenschaften mit einem Geschäft von industriellem Ausmaß und millionenschwerem Anlagevermögen alleingelassen wurden. Vor einigen Monaten war ein Ausbilder der Entwicklungsagentur zur Schulung in Kolondiéba; seit seiner Abreise hatten die Arbeiterinnen und Arbeitern keinen Kontakt zu AECID mehr gehabt. In der spanischen Botschaft in Bamako schien Álvaro nur vage über die Schwierigkeiten in Kolondiéba informiert zu sein. „Ich kenne die ganzen Einzelheiten nicht, aber ich glaube, sie haben es vorgezogen, das Geld aufzuteilen. Sie hätten es zur Seite legen sollen“, sagte er über die Arbeiterinnen und Arbeiter dort. „Wir haben es hier mit einem kulturellen Problem zu tun. Wenn man Geld hat, gibt man alles aus – das ist überall in Afrika das Gleiche. Die Menschen hier treffen keine Vorsorge für die Zukunft. Sie sind unfähig zu sparen.“

Die Frage, ob die Europäische Kommission die Ergebnisse des AECID-Pilotprojekts sehen wollte, bevor sie weitere 15 Millionen US-Dollar für den Ausbau bewilligt, verneint Álvaro. „Sie wollten vor allem schnell handeln“, erklärt er. „Nach der Qualität der Umsetzung haben sie überhaupt nicht gefragt.“

Der Sprecher der EU-Kommission Carlos Martin Ruiz de Gordejuela erklärt, in den Beschluss, das Cashew-Projekt auszuweiten, seien Ergebnisse einer Evaluierung des Pilotprojektes von 2015 eingeflossen. Damals war die Fabrik in Kolondiéba allerdings noch nicht in Betrieb. Berücksichtigt worden seien zudem „das im Laufe des Pilotprojekts gewonnene Wissen, die Erfahrung der EU und anderer Beteiligter sowie die große Zahl an Expertentreffen“. Preisschwankungen für Cashews, räumte er ein, hätten wohl beim „vorübergehenden Stillstand“ des Werks in Kolondiéba eine Rolle gespielt.

Um Geld aus dem EU-Treuhandfonds zu erhalten, müssen Entwicklungsorganisationen detaillierte Projektvorschläge unterbreiten. Sie werden von Brüssel und der EU-Delegation in dem Land, in dem das Projekt verwirklicht werden soll, geprüft. Der Auswahlprozess sei sehr streng, sagen EU-Mitarbeiter – geben jedoch zu, dass ein enormer Druck besteht, Programme auf den Weg zu bringen, die zur Entschärfung der Flüchtlingskrise beitragen könnten.

„Wenn die EU Geld ausgibt, behalten wir immer die Kontrolle über das, was wir tun, auch wenn es schnell gehen muss. Es ist das Geld der Steuerzahler, deshalb gibt es eine Evaluierung und Kontrolle“, sagt der EU-Sonderbeauftragte für den Sahel, Losada. Es sei jedoch nicht möglich, jedes Projekt auf lokale Bedürfnisse zuzuschneiden. „Wir können nicht unverzüglich handeln und zugleich den Einzelfall berücksichtigen. Wir müssen versuchen, einen großen, einen unmittelbaren Effekt zu erzielen. Das ist die Philosophie des Treuhandfonds“, sagt er.

Europäische Hilfe für Europäer

Als Folge davon sind praktisch alle Mittel an europäische Entwicklungsorganisationen wie AECID statt an die Regierung oder Organisationen in Mali gegangen. Um Unternehmer im Süden des Landes zu unterstützen, hat sich die EU an die Franzosen gewandt; um verarmten Gemeinden im Norden zu helfen, an die Niederländer. Neben den Mitteln für die Wiederbelebung des Cashew-Sektors hat AECID Geld für die Hilfe bei der Reintegration von zurückgekehrten Flüchtlingen erhalten.

In manchen Fällen gingen europäische Organisationen Partnerschaften mit Organisationen vor Ort ein, und die von der EU geförderten Projekte werden oft mit der malischen Regierung koordiniert. Doch die Dominanz der Europäer hat zu dem Gefühl beigetragen, dass die Malier selbst von diesen Programmen gar nicht profitieren. „Das ist europäische Hilfe für Europäer“, sagt Ousmane Diarra, Vorsitzender der Malischen Vereinigung der Abgeschobenen, einer Hilfsorganisation mit Sitz in Bamako, die abgeschobene malische Flüchtlinge unterstützt. Seine Organisation habe sich wiederholt um EU-Mittel für ein landwirtschaftliches Entwicklungsprojekt bemüht. „Wenn ich zusammen mit einem europäischen Partner auftrete, finanzieren sie mich vielleicht. Komme ich aber allein als Afrikaner, dann nicht“, sagte er.

Die Malier seien nicht in der Lage, die großen Projekte zu verwirklichen, die der EU-Treuhandfonds bewilligt, erklären europäische Diplomaten. Deshalb müssten sie sich mit großen Entwicklungsorganisationen zusammentun. Zudem sei die malische Regierung in weiten Teilen korrupt – Mali rangiert im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International in der unteren Hälfte.

„Wenn man lokale NGOs als Vertragspartner für einen großen Auftrag hat, steht man sehr oft vor dem Problem treuhänderischer Risiken, weil es ihnen an Managementfähigkeiten fehlt. Unsere Steuerzahler wollen aber, dass wir mit Sicherheit wissen, wohin das Geld geht, und dass wir jede kleinste Ausgabe begründen können“, sagt der holländische Botschafter Jolke Oppewal. „Ich glaube allerdings, dass wir Mali mit Hilfe des EU-Treuhandfonds besser in Entwicklungsprojekte einbinden könnten.“

Vier Monate nachdem die Cashew-Fabrik ihre Produktion eingestellt hatte, fuhren Mitarbeiter von AECID zum ersten Mal nach Kolondiéba, um sich ein Bild davon zu machen, was dort schiefgelaufen war. Die Agentur plane einen zweiten Besuch „mit dem klareren Ziel, einen Hilfsplan für die Verbesserung ihres Betriebs zu erstellen“, berichtete Álvaro Anfang Juni in einer E-Mail. Als im Monat darauf eine Fotografin die Fabrik besuchte, war sie nach wie vor geschlossen; ein einsamer Sicherheitsbeamter wachte über das verlassene Gelände. Traoré war zum Jurastudium nach Bamako gegangen. Ein Onkel hatte ihm angeboten, die Monatsmiete von 2,90 Dollar für ein Zimmer in einem Slum am Rand der Stadt zu übernehmen, das er sich mit zwei anderen jungen Männern teilt.

Unbeirrt trieb die AECID ihr neues, aus Mitteln des EU-Treuhandfonds finanziertes 15-Millionen-Dollar-Projekt voran. Ziel ist es, überall im Süden Malis neue Fabriken zur Weiterverarbeitung von Cashews zu bauen und Hunderte Einheimische für die Arbeit dort zu schulen. Zusammen mit dem malischen Landwirtschaftsministerium plant AECID, Tausende Hektar mit Cashewbäumen zu bepflanzen. Bei ordentlicher Betriebsführung könnte das Projekt einen Schlüsselsektor der Wirtschaft wieder zum Leben erwecken. Bis zu 200.000 Menschen könnten davon profitieren.

Die Entwicklung von Ländern vollzieht sich in Generationen

Ob es so kommt, wird zumindest teilweise von der Fähigkeit der AECID abhängen, die Lehren aus dem Scheitern ihres Pilotprojekts zu ziehen. Im Februar sagte Álvaro, er wende bereits einige dieser Lektionen auf das neue Projekt an: Löhne sollten erst nach Deckung der Betriebskosten gezahlt werden, und er erwäge die Einstellung spanischer oder chinesischer Unternehmer für die Geschäftsleitung der neuen Fabriken. Je nachdem, wen man fragt, wird das entweder die Qualität des Managements verbessern oder den Eindruck verstärken, dass Ausländer die Hauptnutznießer sind.

Experten bezweifeln ohnehin, dass dieses oder ein anderes Entwicklungsprojekt, das Arbeitsplätze schaffen soll, den Flüchtlingsstrom umkehren oder auch nur verlangsamen kann. Michael Clemens, ein Wirtschaftswissenschaftler der US-amerikanischen Denkfabrik Center for Global Development, hat über Jahre hinweg das Zusammenspiel von Entwicklung und Fluchtbewegung erforscht. Er stellte fest, dass Entwicklungsgewinne eher zu vermehrter Migration führen – bis ein Land ein Pro-Kopf-Einkommen von rund 7500 US-Dollar erreicht. Das ist das Zehnfache des Pro-Kopf-Einkommens in Mali.

Autor

Ty McCormick

ist Afrika-Redakteur der US-amerikanischen Zeitschrift „Foreign Policy“. Dort ist sein Beitrag im Original erschienen.
„Hinter all dem steht die Vorstellung, dass Entwicklung und Migration sich gegenseitig ausschließen. Dass wir nur einen erfolgreichen Industriepark in Äthiopien bauen müssen und die Leute dort arbeiten und bleiben werden“, sagt Clemens. „Dabei übersieht man jedoch, auf wie vielfältige Weise Migration und Entwicklung einander ergänzen.“ Ein höheres Einkommen heißt nicht nur, dass Menschen einem Schlepper tausend Dollar bezahlen können, damit er sie nach Europa bringt; in der Regel bedeutet es auch mehr Bildung und größere Ambitionen. Länder in der Übergangsphase von geringen zu mittleren Einkommen erleben eine „dramatische Steigerung“ der Abwanderung, erklärt Clemens. Die Migration gehe erst dann zurück, wenn ein Land den Status eines Industriestaats erreicht hat. „Mali wird weder zu unseren noch zu Lebzeiten unserer Kinder ein Industrieland werden“, sagte er. „Die Entwicklung von Ländern vollzieht sich in Generationen.“

Solch langfristige Verbesserungen sind für junge Leute nicht besonders attraktiv. Die Bevölkerung Malis wird sich in den nächsten drei Jahrzehnten auf rund 45 Millionen Menschen mehr als verdoppeln. In ganz Subsahara-Afrika werden laut einer Studie der University of California-San Diego etwa 800 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter auf den Arbeitsmarkt drängen – mehr als die gegenwärtige Bevölkerung Europas. Das ist ein Beweis für einen Entwicklungserfolg: Die Säuglingssterblichkeit ist auf dem ganzen Kontinent zurückgegangen, während die Geburtenraten nur leicht gesunken sind. Es ist allerdings auch ein Beweis dafür, dass mehr Entwicklungshilfe die Migrationsbewegung nicht bremsen wird, jedenfalls auf viele Jahre nicht.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten geben bereits rund 24 Milliarden US-Dollar im Jahr für Entwicklungs- und andere Hilfe aus, doch der Exodus junger Männer geht weiter. Die meisten der vom EU-Treuhandfonds ausgezahlten Mittel förderten „mehr vom Gleichen, sind jetzt aber ausdrücklicher mit dem Ziel verbunden, die Migration zu reduzieren“, sagt Bram Frouws vom dänischen Flüchtlingsrat. „Dabei dürfen wir nur sehr bescheidene Erwartungen haben“, fügt er hinzu, vor allem, wenn Korruption und schlechte Regierungsführung im Spiel seien. Frouws verweist auf Westafrika, wo die meisten Länder „relativ stabil sind und wirtschaftlich wachsen“. Und trotzdem machten sich anscheinend auch von dort immer mehr Menschen auf den Weg nach Europa.

In seinem neuen Zuhause in Bamako denkt Abdoulaye Traoré nach wie vor daran, nach Europa zu gehen – auch wenn es sich ferner anfühlt als je zuvor. Mit seinen Zimmergenossen, einem Chauffeur und einem Elektriker, teilt er sich eine Einzelbettmatratze auf dem Boden ihrer Einzimmerwohnung. Die knapp einstündige Fahrt zur Hochschule kann er sich nicht immer leisten, sodass er viel vom Unterricht versäumt. Doch wenn er plötzlich viel Geld hätte – er würde es nicht darauf verschwenden, zur Universität zu kommen.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

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