„Tunesien ist stabiler als Europa“

Proteste gegen Preissteigerungen
In Tunesien sind in den vergangenen Wochen erneut Proteste ausgebrochen. Der Gewerkschafter Tahar Berberi erklärt, was dahinter steckt – und warum das Land heute stabiler und freier ist als vor der Revolution 2011.

In Tunesien gibt es wieder Demonstrationen und Proteste gegen die Regierung. Was treibt die Leute auf die Straße?
Die jüngsten Zwischenfälle haben am 9. Januar begonnen, nachdem die Regierung den Plan für den nächsten Staatshaushalt vorgestellt hatte. Vor allem der Preisanstieg bringt viele Bürger auf die Straße. Die Hauptbotschaft der Proteste ist: Das Leben ist zu teuer geworden. Tunesien ist in einer Wirtschaftskrise, und der Plan der Regierung sieht viele Einschnitte vor. Hinzu kommt, dass einige Oppositionsparteien den Unmut ausnutzen wollen, um die Kommunalwahlen zu verschieben. Die sind bisher für 25. März vorgesehen und einige Parteien wollen ein späteres Datum mit dem Argument, die Tunesier seien noch nicht bereit für die Wahlen. Dann gab es – wie soll ich sagen – Schlaumeier und Eingebildete, die die Stimmung auf der Straße manipulieren wollten, um die Regierung zu ändern. Und es gab Plünderungen von Geschäften und Angriffe. Das hat viele Ursachen, aber es handelte sich nicht um politische Demonstrationen im eigentlichen Sinn. Das Problem ist, es herrscht eine Art politisches Vakuum. Bei uns gibt es historisch keine großen Parteien, und die Minister haben wenig Erfahrung.

Der Gewerkschaftsverband UGTT unterstützt die Proteste nicht?
Nein. Wir haben sie ausgebremst. Auf einer großen Versammlung zum Fest der Revolution am 14. Januar haben wir klar gesagt, dass wir gegen diese Art Proteste sind und Aggression und Diebstahl ablehnen. Danach haben sämtliche politischen Parteien das gleiche gesagt. Deshalb sind die Proteste abgeflaut.

War die Lage vergleichbar kritisch wie 2013, als die UGTT einen nationalen Dialog mit vorangetrieben hat, um die Demokratie zu stabilisieren?
Nein. Damals gab es öffentliche Selbstmorde, eine echte Krise. Es gab 2013 keine andere Lösung als einen nationalen Dialog. Heute sind wir zwar in einer Wirtschaftskrise. Aber heißt das, es gibt eine neue Revolution? Nein! Die Stabilität in Tunesien ist gesichert. Es herrschen Demokratie und Meinungsfreiheit. Jeder kann sich äußern und die Regierung kritisieren. Es geht nicht zurück zur Diktatur, das ist gar keine Frage. Denn die Bürgerinnen und Bürger wissen und verstehen, dass wir in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase sind.

Obwohl im Januar im Süden Tunesiens die Polizei gegen Unruhen vorgegangen ist und Menschen verhaftet hat?
Es gibt in vielen Ländern Unruhen, Zwischenfälle oder Streiks – in Deutschland vor kurzem in der Metallindustrie. Aber wenn in Tunesien gestreikt wird, heißt es sofort, dass wieder eine Revolution bevorsteht. Besonders die französischen Medien stellen das so dar. Dieses Bild von Tunesien ist bizarr. Unser Land ist heute stabiler als Europa. Man kann sich dort ohne Gefahr aufhalten, der Alltag verläuft normal. Denn seit der Revolution lieben die Bürger ihr Land und fühlen sich als sein Teil.

Wie viele der rund 11,5 Millionen Tunesier vertritt Ihre Metaller-Gewerkschaft und wie viele die UGTT?
Die Metallarbeiter-Gewerkschaft hat rund 50.000 Mitglieder. Sie ist die drittgrößte von 40 Gewerkschaften, die dem Dachverband UGTT angehören – die größten sind zwei Lehrergewerkschaften. Insgesamt hat die UGTT etwa 650.000 Mitglieder.

Worin sehen Sie die größten wirtschaftlichen Probleme Tunesiens?
Die Wirtschaft ist in vieler Hinsicht im Ungleichgewicht. Die Importe sind höher als die Exporte. Die Inflation liegt über 6 Prozent, die Arbeitslosigkeit über 15 Prozent, die staatliche Kreditaufnahme hat eine kritische Grenze erreicht. Viele Unternehmen stecken in der Klemme, vor allem kleine Dienstleister, die etwa Straßen oder Anlagen reparieren: Sie werden von ausländischen Anbietern verdrängt, unter anderem türkischen. In Tunesien gibt es kaum noch eine eigene Industrie. Und Tunesier, die Kapital haben, investieren nicht zu Haus.

Sind die Probleme hausgemacht oder haben sie auch äußere Gründe – zum Beispiel Auswirkungen der Kriege in der Region? 
Sicher. Weil wir an Libyen grenzen, denken viele im Ausland, Tunesien sei nicht stabil, und investieren da nicht. Und wir haben zahlreiche Flüchtlinge aus Syrien und Libyen im Land. Laut offiziellen Zahlen leben zurzeit etwa zwei Millionen Libyer in Tunesien. Aber der Schwarzmarkt und die Korruption sind heute große Probleme in Tunesien, und wir haben es selbst in der Hand, dagegen vorzugehen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat der Regierung strenge Sparmaßnahmen angeraten. Was halten Sie davon?
Das ist nicht der richtige Weg. Es stimmt, dass Tunesien stark verschuldet ist – das war es schon vor der Revolution von 2011. Aber man muss die Besonderheiten jedes Staates bedenken, statt die irrigen Rezepte des IWF einfach zu akzeptieren. Der IWF und auch Länder wie Deutschland verlangen, dass Tunesien seine Märkte vollständig öffnet. Aber das würde uns teuer zu stehen kommen. Wir würden jede Fertigung verlieren und wären nur noch ein Absatzmarkt für andere. 

Der IWF fordert unter anderem, die Summe der Gehälter der Staatsbediensteten zu deckeln. Ist das unumgänglich?
Laut IWF machen diese Gehälter inzwischen 13 Prozent des Sozialproduktes aus. Aber wir haben mehrere Jahre die Gehaltserhöhungen immer auf die Zukunft verschoben. Das ist ein Grund für die jüngsten Proteste gegen den Anstieg der Lebenshaltungskosten. Bei Gütern des Grundbedarfs wie Gemüse, die auch Arme brauchen, liegt die Teuerungsrate bei 13 Prozent, noch über der allgemeinen Inflationsrate. Dadurch ist auch die Armutsrate gestiegen. Wie soll man da überleben? 

Ihre Gewerkschaft hat für den Metallsektor gerade eine Gehaltserhöhung erstritten, oder?
Ja, im Dezember haben wir mit den Arbeitgebern einen Lohnanstieg um 6 Prozent ausgehandelt – rückwirkend für 2016 und 2017. Aber weil wir wissen, dass die Industrie schwierige Zeiten erlebt, haben wir die Lohnerhöhung für 2017 bereits auf 2018 verschoben. Und mit Unterstützung der deutschen IG Metall, die damit Erfahrung hat, versuchen wir, direkt in den Firmen soziale Dialoge über Löhne, Arbeitsbedingungen und Interessen der Unternehmen in Gang zu bringen. Das wollen jetzt auch viele Arbeitgeber. Das Ziel sind Betriebsvereinbarungen, statt bei jedem Problem zu streiken. Die schwierige Lage ist allen in Tunesien bewusst. Und die Frage ist nicht, ob man Löhne erhöht oder senkt. Wir als UGTT haben die Regierung aufgefordert, einen breiten Dialog über die Wirtschaft zu beginnen und so einen Rettungsplan für Tunesien zu erarbeiten. An dem Dialog sollen alle Seiten aus der Regierung und der Gesellschaft teilnehmen. Was uns fehlt, ist eine Vision für die Zukunft des Landes. 

Was könnte Europa tun, um Tunesiens Chancen auf wirtschaftliche Erholung zu verbessern?
Ehrlich gesagt möchte ich nicht, dass Europa eine Rolle dabei spielt, Tunesien zu retten. Hier gibt es keine Geschenke, sondern es wirken politische und wirtschaftliche Interessen. Es stimmt, Deutschland hat Tunesien geholfen – große Unternehmen, die viele Arbeitsplätze bieten, haben ihre Investitionen aufrechterhalten. Aber politisch geht es Europa in erster Linie um Libyen. Gerade hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einem Besuch in Tunesien erklärt, das Land solle eine wichtige Rolle dabei übernehmen, Stabilität in Libyen zu sichern. Daran sind europäische Länder gescheitert. Ich erwarte offen gesagt politisch nicht viel von Europa. Denn Tunesien und Europa haben nicht dieselben Interessen.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2018: Kunst und Politik: Vom Atelier auf die Straße
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