Den Toten ein Gesicht geben

Rapper AKA
Der 30-jährige Musiker will die Opfer des kolumbianischen Bürgerkrieges vor dem Vergessen bewahren und die Wunden der Überlebenden heilen – mit seinen Songs und praktischer Arbeit in kleinen Nutzgärten.

Zum Treffen erscheint AKA im knielangen Basketball-Trikot der New York Knicks, einer lachsfarbenen Sweatshirt-Jacke, halbhohen Trekkingschuhen, Bandana-Kopftuch und Kappe. Verabredet sind wir in der bevölkerungsreichen Comuna 13 im kolumbianischen Medellín, einem Stadtteil mit einer 30-jährigen Geschichte der Gewalt. Der Musiker, der sich als 13-Jähriger den Namen AKA gab – nach der englischen Abkürzung für Also Known As (deutsch: alias) –, setzt sich für eine Initiative ein, die Hiphop mit der Erde verbindet.

„Wir rappen und wir bauen an“, erklärt der 30-Jährige, der seinen Hochschulabschluss in Kunst an der staatlichen Universität von Antioquia in Medellín erworben hat. Derzeit verdient er seinen Lebensunterhalt mit der Musik und mit dem Verkauf von Pflanzen. Mit seinem Projekt unterstützt er Kleinbäuerinnen und -bauern, die viel zum Wohl des Landes beitragen und zugleich am meisten unter dem kolumbianischen Bürgerkrieg gelitten haben, der jahrzehntelang ihre Pflugscharen in Blut getränkt hat. Viele von ihnen sind auf der Flucht vor dem Krieg in die Stadt gezogen, wo sie heute unter armseligen Umständen leben. Sie wohnen ausgegrenzt an den Berghängen, die die zweitgrößte Stadt Kolumbiens umgeben.

AKA nutzt Freiflächen um die Häuser in Stadtvierteln wie San Javier in der Comuna 13 und legt kleine Nutzgärten an. Die Menschen hier haben in der Vergangenheit Gewalt erlebt und erleben sie bei Zusammenstößen zwischen illegalen bewaffneten Gruppen und Regierungskräften noch heute. Sie kümmern sich liebevoll um die Gärten und bauen verschiedene Gemüse- und Obstsorten sowie Heilkräuter an. AKA schätzt, dass an den Samstagen zwischen 70 und 100 Menschen zusammenkommen, um auf den Kleinstparzellen zu arbeiten, auf denen mehr als 300 Pflanzen wachsen.

„Wir sind auf einem Großteil der Berghänge dieser Stadt präsent“, sagt der Rapper. „Wir beschäftigen uns mit der Geschichte der Orte, sprechen mit den jungen Leuten und daraus entsteht ein Song, ein Video. Das machen wir ohne die Hilfe des Staates, weil wir für niemanden die Flagge hochhalten.“ Er klingt mit einem Mal rebellisch.

Die Gewalt ging mit

„Aufgewachsen bin ich im Stadtteil Manrique Oriental in Medellín“, erzählt AKA. „Aber der Krieg hat uns gezwungen, dort wegzugehen, und so kam ich in die Comuna 13.“ Doch die Gewalt ging mit. Er wurde Zeuge eines der brutalsten Übergriffe staatlicher Sicherheitskräfte in der Geschichte der Stadt: Die sogenannte Operación Orión  am 16. und 17. Oktober 2002. Soldaten und Polizisten fielen in das Viertel ein, um vorgeblich Stellungen der städtischen Milizen der linksgerichteten Guerillagruppen FARC und ELN sowie der Comandos Armados del Pueblo (CAP) zu bekämpfen, die an den Berghängen Quartier bezogen hatten.

Die Aktion uferte  zu einem gnadenlosen Gewaltakt gegen unbewaffnete Anwohner und Zivilisten aus. Danach eroberten paramilitärische Gruppen der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) die Comuna 13 und übten Terror aus. AKA schätzt, dass in der angrenzenden Bergregion, genannt La Escombrera (der „Schuttberg“), mindestens 650 Menschen verscharrt sind, die bis heute als verschwunden gelten.

AKA will dazu beitragen, dass die Operación Orión nicht vergessen wird. „Mit 15 habe ich zusammen mit anderen angesichts der Massengräber erste Schritte des Widerstandes organisiert. Seither kehrt das Verschwindenlassen in unseren Songs und unseren Aktionen immer wieder. Schließlich sind wir dort aufgewachsen.“ In der Nähe von La Escombrera legten sie Felder an. Sie ernteten genug für sich selbst und verkauften die Überschüsse. „Aber der Krieg hat uns auch von dort vertrieben“, berichtet AKA. „Deshalb haben wir vor fünf Jahren mit dem städtischen Gartenbau angefangen. Zurzeit bewirtschaften wir 22 Flächen in der Stadt.“

Hip-Hop agrario

AKA erzählt bedächtig, er klingt unbekümmert, doch in seiner Stimme klingt der Schmerz nach, der ihn dazu gebracht hat, seinen eigenen Musikstil zu kreieren, den er Hip-Hop agrario, „Agrar-Hip-Hop“, nennt. Er integriert ihn in Sozialprojekte, mit denen er Saatkörner der Hoffnung unter Jugendlichen ausstreuen möchte. Dabei konzentriert er sich auf junge Leute, die bisher wenig von sozialen Projekten profitiert haben. Seine direkte und unzensierte Sprache – wie auch seine Songtexte – lassen keinen Zweifel daran, dass er mit großem Einsatz  versucht, bei den Menschen vor Ort etwas zu verändern.

Warum Saatgut ausbringen? AKA antwortet: „Beim Säen erteilen dir die Leute Geschichtsunterricht. Das Säen zieht die Erwachsenen an, der Hip-Hop die Jugendlichen. Und die Menschen öffnen sich bei der Gartenarbeit und erleben Gemeinschaft. Es ist, als ob man eine Dosis gelebte Geschichte unter die Leute bringt, ganz ohne Bücher und Dokumentarfilme.“ In eine melodische Sprechweise verfallend, bekräftigt er sein Konzept: „Hip-Hop ist Straße und unter der Straße die Erde, und die Erde steht für unsere Geschichte und unseren Kampf.“

Er ist überzeugt davon, dass die Geschehnisse des Krieges nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Dazu arbeitet er auch mit Kindern und Jugendlichen  im Schulzentrum Benedikta Zur Nieden in San Javier. An einer Wand des Schulgebäudes sind Dutzende Pflanzen in bunten Töpfen angebracht: Sie stehen dort zu Ehren derer, die in den vergangenen  Jahren in Medellín und der Comuna 13 ermordet wurden. 2017 wurden 40 der stadtweit 577 gewaltsamen Tode in der  Comuna 13 gezählt.

Nach einem kurzen Rundgang durch das Viertel führt AKA auf den örtlichen Friedhof, auf dem jugendliche Gewaltopfer ihre letzte Ruhe gefunden haben. Doch es ist kein düsterer Ort. Verschiedene mit ihm befreundete Graffitikünstler haben die Außenfassade und die Innenwände bemalt. „Das ist der einzige künstlerisch gestaltete Friedhof in ganz Lateinamerika“, verkündet er stolz. „Es ist unsere lebendige Galerie.“

Autoren

Juan Diego Restrepo

ist Journalist und Redaktionsleiter der Nachrichtenseite „Verdad Abierta“.

Juan David Restrepo

studiert Philosophie und Literaturwissenschaften.
Die Wände zeigen eine Vielzahl an Bildern, darunter die Porträts von ermordeten Jugendlichen. Eines hat ein Vater nach dem Mord an seinem Sohn gemalt. Die Spuren der schmerzlichen Vergangenheit lassen sich an einer der Wände ablesen: „Dieser Pavillon kündet von der notwendigen Erweiterung des Friedhofs durch die Zunahme der Bestattungen in den Zeiten der extremen bewaffneten Gewalt in der Stadt.“

In einem kleinen Garten steht ein dicht belaubter Paprika­strauch, genannt der „Baum der Erinnerung“. Diese Fläche wurde von einer Gruppe von Frauen hergerichtet. Sie nennen sich Mujeres Caminando por la Verdad („Mütter unterwegs für die Wahrheit“) und weigern sich, die Suche nach ihren verschwundenen Familienmitgliedern aufzugeben. „Hierher können die Leute kommen, um in Ruhe zu trauern“, erklärt AKA.

Er hält kurz inne und erklärt dann, wie er gemeinsam mit Freundinnen und Freunden aus den Kriegsnarben ein Projekt entwickelt hat. Die „Cuerpos Gramaticales“ sind auf diesem Friedhof entstanden: Bei der Performance graben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur Erinnerung an verschwundene Menschen für mehrere Stunden mit ihren Körpern in die Erde ein. Die Botschaft: „Wir weigern uns, dem Pflug so viele Körper zu überlassen.“ Die erste Aufführung fand im Oktober 2014 statt. 2017 gelangte die Initiative nach Barcelona und Gernika in Spanien, wo man damit  an die brutalen Folgen von Kriegen erinnerte. „Wir wollen den Menschen ihren Erdboden zurückgeben“, sagt AKA. „Sie sollen begreifen, dass das hier ihr Land ist.“

Aus dem Spanischen von Barbara Kochhan.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2018: Kunst und Politik: Vom Atelier auf die Straße
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