Gefahrlos zum Gipfel

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Abstimmung in Kolumbien
Antipersonenminen
In Kolumbien hat die Räumung von Antipersonenminen begonnen. Das sieht der Friedensvertrag zwischen Regierung und Rebellen vor. In El Orejón spielen die Kinder jetzt wieder Fußball.

El Alto de Capitán ist der Hausberg von El Orejón im Norden Kolumbiens. Spektakulär ist der Ausblick über die Bergkette, die von einem Fluss zerschnitten wird. Weit lässt sich von hier in die benachbarten Täler blicken. Früher war der Gipfel ein beliebter Treffpunkt – für verliebte Pärchen und für Hochzeitsfeiern. Dann begannen die Rebellen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) den strategisch wichtigen Punkt zu verminen. So wurde der Weg dorthin zum lebensgefährlichen Risiko.

Doch jetzt ist Bernardo Peláez optimistisch: „Vielleicht wird das alles wieder aufleben“, sagt der 75-jährige Bauer. El Orejón im Norden des Verwaltungsbezirks Antioquia, rund sechs Stunden Fahrtzeit von Medellín entfernt, ist seit dem 21. Dezember frei von Antipersonenminen. „Soldaten, Kämpfer der FARC-Guerilla und internationale Spezialisten haben uns gemeinsam davon befreit“, berichtet Peláez stolz. 46 dieser Minen wurden in dem Dorf an Wegrändern unter Schutt, Gras oder Büschen gefunden, freigelegt, entschärft und beseitigt.

Knapp zwei Hektar in und um das kleine Dorf sind nicht länger mit den heimtückischen Sprengfallen verseucht, die in Kolumbien weit verbreitet sind. Nun können die Kinder aus dem Ort, in dem 24 Familien leben, wieder hinter dem Fußballplatz dem Ball hinterherjagen, ohne dass die Eltern befürchten müssen, dass sie auf eine Mine treten. Das ist in der Gemeinde Briceño, die aus mehreren Dörfern wie El Orejón sowie der Provinzstadt Briceño besteht, immer wieder vorgekommen.

Kolumbien ist eines der am stärksten mit Minen verseuchten Länder der Welt. Zwischen 1990 und November 2016 sind nach Angaben der Regierung 11.465 Menschen durch diese Waffe gestorben oder verstümmelt worden, darunter 4400 Zivilisten. Zu ihnen zählt Wilson de Jesús Martínez, Soldat des Minenräumkommandos der Armee, der im Juni 2015 ums Leben kam. Am Alto de Capitán steht ein Kreuz mit seinem Namen. An ihn erinnerte auch der Direktor des staatlichen Antiminenprogramms DAICMA, Sergio Bueno, als er am 21. Dezember gemeinsam mit dem FARC-Repräsentanten „Pastor Alape“ den erfolgreichen Abschluss des Pilotprojekts in El Orejón feierte.

Die Minenräumung sei ein Instrument des Friedens, betonte Bueno. Damit werde nicht nur Vertrauen in den Staat geschaffen, sondern auch der Zugang zu Anbauflächen wieder hergestellt. Das bestätigt Bernardo Peláez. „Wir können wieder auf den Feldern arbeiten, die vorher nicht erreichbar waren“, sagt der Bauer, der ein Sprecher des Dorfes ist. Darüber hinaus hat die Regierung in dem abgelegenen Dorf, das lange von den staatlichen Institutionen vernachlässigt worden war, eine neue Schule gebaut und die Wasserversorgung verbessert.

Eine Räumung braucht mehrere Durchgänge

Das kommt gut an bei der Zivilbevölkerung in El Orejón – genauso wie in Santa Helena, einem Dorf im Verwaltungsdistrikt Meta, in dem ebenfalls Minen geräumt wurden. Dort entschärften Experten 20 der handtellergroßen Sprengkörper. Die Verwaltungsdistrikte Antioquia und Meta sind die am stärksten mit Minen verseuchten Regionen Kolumbiens. Deshalb entschied man sich, die beiden Pilotprojekte, die im Friedensvertrag zwischen FARC und Regierung fixiert sind, hier anzusiedeln.

Doch das ist nicht mehr als ein Anfang, denn Experten wissen, dass Tausende Minen in Kolumbien auf ihre Räumung warten. Immerhin hat der erfolgreiche Abschluss der beiden Pilotprojekte Signalcharakter. „Das Ziel, Vertrauen in der Bevölkerung für den Friedensprozess, aber auch zwischen FARC-Guerilla und Armee zu bilden, wurde erreicht“, sagt Álvaro Jiménez von der nichtstaatlichen kolumbianischen Kampagne gegen Minen (CCCM). Nun müssten die nächsten Schritte für eine landesweite Räumung getan werden. Denn nur einer der 32 Verwaltungsbezirke Kolumbiens gilt derzeit als minenfrei, in allen anderen stellen die Sprengfallen eine latente Bedrohung dar, vor allem für die Bauern, die ihre Äcker bestellen wollen.

Verantwortlich für das „Säen“ der Minen, wie es in Kolumbien euphemistisch heißt, ist laut Regierungsangaben vor allem die Guerilla. Neben der FARC, die allerdings laut den Experten des staatlichen Antiminenprogramms seit Oktober 2015 keine Minen mehr legt, ist das die kleinere Nationale Befreiungsarmee (ELN). Nach Angaben der Kampagne CCCM hat auch die Armee in der Vergangenheit ihre Camps mit Sprengkörpern vor Angriffen geschützt, und die Paramilitärs setzen sie ebenfalls ein. Landminen passen oft in einen Handteller, sehen meist aus wie zwei übereinandergestülpte, gewölbte Plastikscheiben und sind oft kaum zu orten.

Vor allem die Plastikvariante, die ohne jedes Metallteil auskommt, ist für Detektoren nicht aufzuspüren. Deshalb benötigt eine Minenräumung mehrere Durchgänge, bis Entwarnung gegeben werden kann. Das erklärt auch, warum die Einsätze so lange dauern und so viel kosten. So hat es in El Orejón knapp achtzehn Monate vom ersten Besuch bis zur Freigabe am 21. Dezember gedauert. Zudem konnte ein Berg, der Alto de Oso, nicht komplett geräumt werden, weil das Gelände schwierig ist und Informationen fehlten; dort wurden nur sichere Wege markiert. Diese Probleme gibt es auch in anderen Regionen, in denen Berge und tiefe Täler die Landschaft prägen, etwa in Cauca und Nariño, zwei der im Bürgerkrieg hart umkämpften Verwaltungsbezirke im Süden Kolumbiens.

Auch die Versorgung und Entschädigung von Minenopfern geht nur schleppend voran – Libio Manuel Betancourth ist ein Beispiel dafür. Der heute 26-Jährige aus dem Ort Altaquer im Bezirk Nariño wurde im März 2011 verstümmelt, als er auf eine Mine trat. Sie zerfetzte einen Teil seiner linken Hand und verletzte ihn schwer an den Beinen. Das rechte Bein musste später oberhalb des Knies amputiert werden. „Immerhin konnten die Ärzte das linke retten, aber die Splitter der verdammten Mine haben große Teile der Oberschenkelmuskulatur weggerissen“, sagt  Betancourth und schlüpft im Büro der Pastoral Social von Pasto wieder in seine Jeans.

Zwanzig Operationen hat der junge Mann über sich ergehen lassen, Monate im Krankenhaus und in der Rehabilitation verbracht. Glück im Unglück hat er gehabt, denn beinahe wäre er neben dem Feldweg verblutet, da ihm niemand helfen wollte. „Sie hatten Angst, auch auf so ein Ding zu treten“, erinnert er sich. Eine mutige Nachbarin habe ihn schließlich auf den Weg gezogen, dann ging es ins Krankenhaus nach Pasto. Dort, in der Verwaltungsmetropole Nariños, hat er auch wieder laufen gelernt – mit einer Prothese und anfangs an Krücken.

Dabei hat ihm das Team der Pastoral Social geholfen. Die kirchliche Sozialeinrichtung wird von Handicap International und der deutschen Caritas mitfanziert und hat Libio von der ersten Wundversorgung im Krankenhaus bis heute beraten. Teamleiterin Rosa Palacios empfahl ihm die Anwältin Janneth Jaramillo Muñoz, die den Schwerversehrten vor Gericht vertrat. Das war nötig, denn in Kolumbien haben Minenopfer zwar seit 2011 einen staatlichen Versorgungsanspruch.

Opfer müssen ihre Invalidenrente einklagen

„Der muss in der Praxis jedoch meist vor Gericht durchgesetzt werden“, sagt Palacios. Bei Libio Manuel Betancourth hat das geklappt – seit April 2015 erhält der zweifache Vater eine Invalidenrente in Höhe des Mindestlohns von umgerechnet 250 Euro im Monat. Das bedeutet für ihn mehr Unabhängigkeit von der Familie, die ihn in den vergangenen Jahren versorgt hat. Und er hat ein Psychologiestudium an der Universität von Pasto begonnen. 

So etwas wäre früher in Kolumbien kaum denkbar gewesen. Opfer von Minenunfällen waren in aller Regel auf sich selbst gestellt und auf die Familie angewiesen. Das beginnt sich zu ändern, und Urteile wie jenes von Betancourth, das dritte dieser Art in ganz Kolumbien, sind wegweisend. Auch bei der medizinischen Versorgung der Opfer wurden große Fortschritte gemacht, sagt Dietrich H. Niklas. Der deutsche Experte für Pro- und Orthesen hat im Auftrag der  Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) rund fünf Jahre lang in Bogotá gearbeitet und rund 90 Orthopädietechniker ausgebildet. Sie arbeiten nach internationalen Standards, verwenden leichte Karbonfasern genauso wie neue Kunststoffe.

Autor

Knut Henkel

ist freier Journalist in Hamburg und bereist regelmäßig Lateinamerika und Südostasien.
Einer von ihnen ist Luis Carlos Muñoz Baltrán. Er trägt unter seiner weißen Hose ein funkelndes Stück Edelmetall. Dem 26-jährigen Polizeioffizier mit dem Bürstenschnitt wurde der Unterschenkel amputiert. „Dafür waren die Paramilitärs verantwortlich. Sie haben uns in einen Hinterhalt bei Villavicencia gelockt und dort bin ich auf der Flucht auf eine Mine getreten“, erklärt er. Für Baltrán ist die richtige Versorgung der Opfer ein großer Fortschritt und er ist froh, dass er dazu bald beitragen kann.

„Doch viel wichtiger ist mir, dass es mit dem Frieden voran geht und die Dinger endlich geräumt werden“, sagt er. El Orejón und Santa Helena seien nur der Anfang. Das sieht DAICMA-Direktor Bueno genauso. Sein Ziel ist es, Kolumbien bis 2021 komplett von den Minen zu befreien. Dafür entscheidend sei die Umsetzung des Friedensabkommens, das die kolumbianische Regierung im November 2016 mit der FARC geschlossen hat. Im Kapitel über die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer in die Gesellschaft enthält es klare Festlegungen zur Minenräumung. Aber auch bei der Landreform, bei den Regeln zum Anbau illegaler Drogen und bei der Entschädigung von Opfern des blutigen Konfliktes würden diese Waffen berücksichtigt, sagt Bueno. All diese Vorgaben müssten nun verwirklicht werden.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2017: Europa: Die zaudernde Weltmacht
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