Gespräch mit Carolin Kollewe
Wann jemand als alt gilt, hängt von der Gesellschaft ab, in der er oder sie lebt. Entsprechend unterschiedlich wird das Alter gemessen - nach Jahren, Fähigkeiten oder sozialen Ereignissen. Das Streben nach Jugend und Schönheit hingegen ist in den meisten Kulturen weit verbreitet. Damit sind erhebliche Anstrengungen verbunden, sei es beim indischen Ayurveda oder in der westlichen Anti-Aging-Medizin.
Ab wann ist ein Mensch eigentlich alt?
Alter ist schwer zu fassen, denn es ist nicht nur ein biologischer Prozess, sondern kulturell definiert. Unterschiedliche Kulturen verstehen darunter ganz verschiedene Dinge. So sagen die Ayizo in Westafrika, dass eine Frau alt ist, wenn sie verheiratet ist. Die Mahria im Sudan betrachten Frauen als alt, wenn sie in die Wechseljahre kommen und im indischen Kerala gelten sie als alt, wenn sie Großmutter werden. Für die Tscherkessen im Kaukasus beginnt das Alter erst mit dem 100. Geburtstag. Frauen gelten zudem früher als alt als Männer. Hier in Deutschland fängt das schon Mitte 40 an, während Männer dann noch „in den besten Jahren" sind und erst mit 60 als alt angesehen werden.
Und wie wird Alter gemessen?
Wir altern das ganze Leben, von der Geburt bis zum Tod. Dieser Prozess wird in verschiedenen Kulturen in unterschiedliche Abschnitte geteilt. In unserer Gesellschaft zählt neben dem kalendarischen Alter auch das soziale Alter, das sich etwa daran festmacht, dass ein Kind in die Schule kommt, eine Frau heiratet oder ein Mann Großvater wird. Viele Gesellschaften hatten, beziehungsweise haben noch heute sogenannte Altersklassensysteme. Die Kayapó in Zentralbrasilien beispielsweise unterteilen ihr Leben in längere Zeitabschnitte; die richten sich in erster Linie nach der körperlichen Entwicklung und erworbenen Fähigkeiten. Kleinkinder, die noch gestillt werden und nicht laufen können, werden „die Kleinen" genannt. Wenn sie abgestillt sind und laufen gelernt haben, kommen sie in die Altersstufe „Große Kinder". In solchen Gruppen sind „Gleichaltrige" zusammen, die nicht dasselbe kalendarische Alter haben müssen. Schmuck dient dazu, die unterschiedlichen Altersgruppen zu kennzeichnen. Wenn der erste Enkel geboren wird, kommt man in die Gruppe der „alten Menschen" und legt seinen gesamten Schmuck ab.
Welchen Status haben ältere Menschen in verschiedenen Kulturen?
In Deutschland herrscht ein eher abwertendes Bild vom Alter vor, obwohl sich das in jüngster Zeit etwas verändert. Es gibt zwar gewisse Regeln, etwa das vierte Gebot der Bibel „Du sollst Vater und Mutter ehren" oder Benimmvorschriften, wie man sich respektvoll gegenüber älteren Menschen verhält. Die Wirklichkeit sieht aber oft anders aus. Das ist in anderen Kulturen ähnlich. In China gibt es beispielsweise die „konfuzianische Kindespietät". Das sind Verhaltensregeln, nach denen Jüngere den Älteren Respekt und Achtung entgegenbringen sowie Söhne und Töchter ihren Eltern dienen sollen. Eine Geschichte aus den „24 Beispielen der Kindespietät", die rund 700 Jahre alt sind und uns heute sehr drastisch erscheinen: Ein Sohn, dessen Stiefmutter im Winter Karpfen essen will, legt sich auf einen zugefrorenen Teich, um das Eis aufzutauen und aus dem Loch Fische zu fangen. Sie können sich vorstellen, dass das in der Realität nicht so umgesetzt wird.
Wie wird denn mit diesen Regeln umgegangen?
Ein Beispiel: Traditionell schenkt der Sohn seinem Vater zum 60. Geburtstag einen Langlebigkeitssarg. Der 60. Geburtstag ist der erste Langlebigkeitsgeburtstag, mit dem man in den Status der Ahnen eintritt. Dieser Sarg soll bezeugen, dass der Sohn über den Tod des Vaters hinaus das ehrende Andenken bewahren wird und dass er ihm eine schöne Beerdigung ausrichtet. Solch eine pompöse Beerdingung ist auch eine Möglichkeit, darüber hinwegzutäuschen, dass das Zusammenleben der Generationen in einem Haushalt nicht immer ganz einfach war und die Regeln der Kindespietät nicht immer eingehalten wurden.
Haben ältere Frauen und Männer in China einen unterschiedlichen Status?
China ist eine sehr patriarchalisch geprägte Gesellschaft. Die Regeln der Kindespietät geben in erster Linie dem Sohn eine Anweisung, wie er sich gegenüber seinem Vater ehrenhaft verhalten soll. Frauen werden nach ihrer Heirat in die Familie des Ehemannes aufgenommen. Sie müssen sich zunächst unterordnen. Wenn sie dann im höheren Alter sind und der eigene Sohn verheiratet ist, haben sie mehr Macht und können außerdem mehr Aufgaben an die Schwiegertochter übergeben.
Wie gehen Menschen in anderen Kulturen mit dem Älterwerden um? Gibt es beispielsweise auch in Indien den Traum von der ewigen Jugend?
Das Streben nach Jugend und Schönheit ist alt und in sehr vielen Kulturen verbreitet. In Indien etwa gibt es seit 2000 Jahren die ayurvedische Verjüngungslehre. Dabei geht es allerdings nicht nur um Äußerlichkeiten oder darum, Falten zu beseitigen. Im Mittelpunkt des Ayurveda steht die Harmonie zwischen Körper und Geist, das Bestreben, sich insgesamt gesund zu erhalten. Nach ayurvedischer Lehre umfasst die Lebensspanne eines Menschen 100 Jahre. Das können wir nicht erreichen, weil wir nicht nach ayurvedischen Richtlinien leben: Wir sind zuviel Stress ausgesetzt und ernähren uns falsch. Nach ayurvedischer Lehre soll man schon in jungen Jahren eine Verjüngungskur machen, das heißt, sich zurückziehen und meditieren, den Körper reinigen und stärken, um sich gesund zu halten.
Vor allem Frauen benutzen Anti-Aging-Cremes und unterziehen sich Operationen, um jung und schön zu bleiben. Gilt das auch für Ayurveda?
Zumindest früher war eher das Gegenteil der Fall: In den alten Schriften richten sich die Anweisungen in erster Linie an Männer. Das liegt sicher auch daran, dass die Therapie in einer dreimonatigen Kur bestand, für die man sich in eine spezielle Hütte zurückzog. Das konnten sich in erster Linie wohlhabende Männer leisten. Ayurveda ist übrigens nicht so eine sanfte Methode, wie wir uns das hierzulande oft vorstellen. Die Reinigung des Körpers durch Abführmittel, Einläufe oder Erbrechen während einer Verjüngungstherapie ist eher unangenehm, genau wie Anti-Aging-Operationen auch.
Es ist ziemlich anstrengend, wenn man jung bleiben will.
Ja, das ist wirklich nicht so einfach.
Das Gespräch führte Gesine Wolfinger.
Carolin Kollewe ist Ethnologin bei den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen und betreut die Ausstellung „FaltenReich - Vom Älterwerden in der Welt", die bis 4. Oktober im Leipziger Grassi-Museum gezeigt wird.