Zu Hause neu beginnen

Jason Florio

Mustapha Sallah (vorn) verteilt Flyer für ein ­Konzert, bei dem Gefahren auf dem Weg nach ­Europa geschildert werden.

 

Rückkehrer in Gambia
In Gambia gilt als Vorbild, wer in Europa Geld verdient. Junge Migranten, die daran gescheitert und zurückgekehrt sind, gehen gegen dieses Ideal an.

Als ich Mustapha kennenlernte, war er so schwer geprügelt worden, dass er nicht stehen konnte“, erinnert sich sein Freund und ehemaliger Mitgefangener Jacob Ndow. „Da entschlossen wir uns, den Leuten klarzumachen, dass die Mittelmeerroute ein schlechter Weg ist.“ Mustapha hatte versucht, aus dem schmutzigen Sammellager in Libyen zu entkommen, in dem er seit vier Monaten festgehalten wurde. Dafür wurde er hart bestraft, aber er fand die Unterstützung anderer gambischer Insassen.

Gemeinsam überlegten sie, wie sie ihre schlimmen Erfahrungen in etwas Gutes wenden könnten. Für Mustapha Sallah war das der Wendepunkt. Er hatte versucht, Europa illegal auf dem lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer zu erreichen, der in Gambia „backway“ genannt wird. Die Träume des 26-Jährigen von einem besseren Leben für sich selbst und von der finanziellen Versorgung seiner Familie fanden – wie die zahlreicher Migranten – in einem libyschen Gefängnis ein jähes Ende.

Zehntausende Gambier haben sich seit Beginn der Migrationskrise im Mittelmeer in den Jahren 2014 und 2015 über den „backway“ nach Europa aufgemacht. Nach Angaben der Weltbank stellen Gambier inzwischen im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Landes von 1,9 Millionen die zweitgrößte Diaspora in Europa. Allerdings scheint es, als habe nach dem Sturz der Diktatur von Präsident Yahya Jammeh im Januar 2017 allmählich eine Wende in der Massenauswanderung aus Gambia eingesetzt. Laut den Statistiken der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zählt das Land bislang in diesem Jahr nicht mehr zu den zehn Staaten, aus denen die meisten Migranten in Italien ankommen.

Manche Gambier sind unter Jammehs repressivem Regime vor politischer Verfolgung geflohen. Eine viel größere Zahl wollte jedoch der bitteren Armut entkommen. Gambia ist eins der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Ein großer Teil der Bevölkerung hängt von Subsistenzlandwirtschaft ab und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die unerwartete Abwahl Jammehs Ende 2016, die von einer Mobilisierungswelle unter Jugendlichen mit ausgelöst worden war, scheint nun mehr junge Leute zu bewegen, im Land zu bleiben in der Hoffnung, dass ihre Aussichten sich verbessern. Es gibt allerdings keine Statistiken, die diesen Trend belegen.

Im vergangenen Jahr sind zudem viele Migranten auf dem Weg zum Mittelmeer wieder umgekehrt, vor allem weil die Bedingungen in Libyen sich verschlechtert haben. Mustapha und Jacob wurden im April 2018 aus dem Gefängnis von der IOM repatriiert. Die IOM hat seit Anfang 2017 mehr als 3000 solche „unterstützte humanitäre Rückführungen“ aus Libyen und anderen Transitländern vorgenommen. Unter Jammeh waren sie nicht möglich, weil er jede internationale Zusammenarbeit zur Bewältigung der illegalen Migration verweigerte.

Autorin

Louise Hunt

ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Soziales, Nachhaltigkeit und Entwicklungszusammenarbeit in London.
Damit bietet sich nun die einzigartige Chance, die Vorstellungen vom „backway“ zu verändern, indem die Rückkehrer aus Libyen ihre erschütternden Erfahrungen schildern. Sie berichten zum ersten Mal ehrlich von der brutalen Wirklichkeit der Reise – Flüchtlinge, die bereits in Europa angekommen sind, zeichnen in den sozialen Medien eher rosige Bilder ihres Lebens. Solche Aufklärung ist der Fokus von Youths Against Irregular Migration (YAIM), der Vereinigung, die Mustapha, Jacob und andere nach ihrer Rückkehr gegründet haben.

„Bisher gab es in Gambia keine Gruppe von Rückkehrern, die versucht hätten, Jugendliche von der illegalen Ausreise abzubringen“, sagt Mustapha im Haus seiner Familie. Er glaubt, dass ihr Ansatz des direkten Kontakts zu Gleichaltrigen einen Unterschied ausmacht: „Wir waren in Libyen und haben alles gesehen und erlebt. Wenn wir jetzt mit ihnen reden, nutzen wir unsere eigenen Geschichten“, fügt er hinzu.

YAIM klärt mit wöchentlichen Radiosendungen und sozialen Medien auf und hat kürzlich die zweite Informationstour für Jugendliche beendet. Sie hat Gemeinden in Regionen aufgesucht, in denen illegale Migration besonders stark ist. Finanziell unterstützt wurde das von der deutschen Botschaft in Banjul.

Auf Marktplätzen und anderen öffentlichen Treffpunkten nutzen die Zurückgekehrten eine Kombination aus harten Fakten und Unterhaltung, um ihre Botschaft zu vermitteln. Einen Starauftritt hat Jacob mit dem Song „The backway isn‘t an easy road“, den er im Gefängnis geschrieben und inzwischen aufgenommen hat. „Selbst die Kleinen und die Älteren singen ihn. Er wird ihre Vorstellung von der Flucht verändern, weil sie jetzt wissen, dass es kein leichter Weg ist“, sagt er.

YAIM lenkt aber auch die Aufmerksamkeit da­rauf, dass es Vorteile haben kann, in Gambia zu bleiben. Manche der YAIM-Mitglieder nehmen an Ausbildungsprogrammen teil. Einer von ihnen ist der 22-jährige Saihou Tunkara. Er ist im vergangenen Jahr aus Libyen zurückgekehrt und macht nun einen Friseurkurs, der gefördert wird von der Kampagne gegen Menschenhandel „I‘m not 4 Sale“ mit Sitz in Großbritannien. „Hätte ich diese Unterstützung früher gehabt, dann hätte ich mich gar nicht auf den ‚backway‘ begeben“, sagt er. „Gambia ist ein Land, in dem die Leute einen an der Basis nicht unterstützen. Bist du aber auf dem Weg nach Europa, dann helfen sie und schicken Geld.“

Die Überzeugung, man könne es nur in Europa schaffen, ist unter den meisten Gambiern fest verwurzelt: Viele Familien setzen noch immer eher ihren letzten Dalasi auf die Hoffnung, dass ihre Sprösslinge die gefährliche Reise überstehen, als sie beim Aufbau einer Lebensgrundlage zu Hause zu unterstützen. Das ist nicht verwunderlich. Denn Rücküberweisungen aus der Diaspora machen ein Fünftel des gambischen Bruttoinlandsprodukts aus, das ist einer der höchsten Anteile weltweit. Einen Verwandten in Europa zu haben, kann für eine Familie den Unterschied bedeuten, ob sie sich gut ernähren kann oder nicht genug zu essen hat. „Das Bewusstsein der Unterstützer von irregulären Migranten zu verändern, ist das Schwierigste. Ihnen fehlt das Vertrauen in die Jugend und das Land“, sagt Mustapha.

Der Vertrauensverlust ist eine Folge des jahrelangen wirtschaftlichen Stillstands unter dem Regime Jammeh, das einen Großteil des geringen Industriesektors kontrollierte und den Staat ausplünderte. Eine gambische Untersuchungskommission hat im August mit einem Bericht über die finanziellen Machenschaften des ehemaligen Präsidenten das Ausmaß von Jammehs Unterschlagungen aufgedeckt.

Sein Nachfolger Adama Barrow hat eine leere Staatskasse übernommen. Aber eine der vielen Prioritäten der neuen Regierung  ist, das Land zu einem attraktiveren Ort für seine Jugend zu machen und so der irregulären Migration zu begegnen. Eilig setzt sie neue Programme zur Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung um – finanziert vom Treuhandfonds für Afrika (EUTF), den die Europäische Union 2015 in einem umstrittenen Schritt als Instrument zur Eindämmung des Zustroms irregulärer Migranten nach Europa geschaffen hat.

Mit der Zeit sollten sich die Aussichten für junge Gambier verbessern. Denn die Regierung konzentriert sich auf marktorientierte Fertigkeiten und neue Arbeitsplätze in Bereichen der Privatwirtschaft wie Agrobusiness, Tourismus und Informations- und Kommunikationstechnologie, in denen man Wachstum erwartet. Das nationale Youth Empowerment Programme (YEP) wird mit elf Millionen Euro vom EUTF bezuschusst. Raimund Moser, Projektmanager beim YEP, sieht ein „unternehmerisches Erwachen“ bei jungen Gambiern, die an dem Programm teilnehmen möchten. Es ziele auf die Altersgruppe zwischen 18 und 35 Jahren und „erhöht bereits die Arbeitsmarktfähigkeit junger Leute“.

Allerdings richten sich die Projekte an die Jugend insgesamt. Kritiker bemängeln, dass Bewerber einen dreiseitigen Businessplan erstellen müssen; diese hohe Hürde schließe womöglich die aus, die am stärksten zur Abwanderung neigten, sowie die Mehrheit der Rückkehrenden. Unter den Migranten aus den fünf Ländern, aus denen die meisten nach Europa gekommen waren, hatten laut einer Studie der IOM die aus Gambia den höchsten Anteil ohne abgeschlossene Schulbildung. Sie waren zum Zeitpunkt ihrer Ausreise am ehesten arbeitslos. „Vieles wird besser, aber der Arbeitsmarkt für Jugendliche braucht Zeit“, räumt Moser ein. „Man kann nicht einen Schalter umlegen und plötzlich ist Gambia ein Jobparadies.“

Gambia ist keinesfalls in der Lage, die Reintegration Zehntausender in Europa gestrandeter Migranten zu verkraften. Eine Studie des Arnold-Bergstraesser-Instituts von 2017 zur Migrationssteuerung unter der neuen Regierung hat gezeigt, dass Gambier für den Fall rasch steigender Rückführungszahlen wachsende Instabilität befürchten. Laut dem Bericht könnten Massenrückführungen trotz des Regierungswechsels die Chancen Gambias auf eine nachhaltige Entwicklung verschlechtern, wenn sich nicht die ökonomische Lage radikal ändert. Ein Entwicklungsexperte wird mit der Warnung zitiert: „Sie jetzt zurückzubringen, ist ein Rezept für Gewalt und Unruhen.“ Präsident Barrow steht jedoch unter Druck: Ein 225 Millionen Euro starkes Hilfspaket der EU ist mit der Erwartung verbunden, dass Gambia mehr gegen irreguläre Migration tut, und Brüssel möchte im Gegenzug für das Geld mehr Kooperation bei Rückführungen und Rücknahmen.

Viele Migranten stranden in Europa oder auf der Transitroute, weil sie die Scham einer Rückkehr mit leeren Händen nicht ertragen. In vielen Fällen mussten die Familien sich verschulden, um die Reise zu finanzieren. Wer aus Libyen zurückkehrt statt aus Europa, trägt das noch schlimmere Stigma, das „gelobte Land“ erst gar nicht erreicht zu haben, erklärt Pa Modou Jatta: „Wir haben Folter, Sklavenarbeit, alle möglichen hässlichen Erfahrungen durchlitten“, sagt der 36-Jährige. „Wie wir als Rückkehrer angesehen werden, ist ebenfalls äußerst belastend. Man hat das Gefühl, sich selbst und seine Familie verraten zu haben, denn man hatte ja vor, jemand Großes zu werden.“

Pa Modou Jatta gehört heute zu einer anderen Gruppe von Rückkehrern aus Libyen, die sich Returnees From The Backway (RFTB) nennt. Sie will den Begriff des gescheiterten Migranten auf den Kopf stellen. „Man kann andere nicht davon abhalten, sich auf den ‚backway‘ zu machen, wenn man nichts für sich selbst tut. Aber wenn man in der Landwirtschaft arbeitet und es zu etwas bringt, zeigt man ihnen, dass man es auch ohne Europa schaffen kann“, sagt der Vorsitzende der Gruppe, Alhagie Camara.  
Ohne Hilfe von außen hat sich RFTB von einer Gemeinde, die sie aufgesucht hatte und die sehr unter der Migration litt, Ackerland schenken lassen. Gerade hat die Gruppe mit einer landwirtschaftlichen Ausbildung begonnen – dem ersten Schritt auf dem Weg zur geplanten Modellfarm, die Rückkehrern eine eigene Lebensgestaltung ermöglichen und Jugendliche inspirieren soll, in Gambia zu bleiben.

RFTB hat die IOM Gambia überzeugt, die landwirtschaftliche Ausbildung zu finanzieren. Das ist Teil eines neuen Programms zum Schutz und zur Reintegration von Migranten, das die Organisation mit 3,9 Millionen Euro aus dem EU-Treuhandfonds aufgelegt hat. Der Schwerpunkt liegt auf maßgeschneiderten Reintegrationspaketen, einschließlich Ausbildung und unternehmerischer Beratung, für 3000 Rückkehrer vornehmlich aus den Transitländern, in kleinerer Zahl auch aus Europa. „Das Motto ist ‚Du kannst es in Gambia schaffen‘. Wir glauben, das wird den ganzen Rückkehrprozess erleichtern“, sagte Fumiko Nagano, die Leiterin von IOM Gambia.
Und so rät Alhagie Camara für die Reintegration von Rückkehrern: „Wir müssen sie gut vorbereiten, bevor sie zurückkommen, damit sie nach ihrer Ankunft nicht entmutigt sind.“ „Es ist nicht leicht hier“, sagt er, „aber wenn man im Leben etwas tun will, muss man es für sich selbst tun. Keiner von uns war, bevor er fortging, in der Landwirtschaft tätig. Um im Leben voranzukommen, muss man Gelegenheiten ergreifen. Eines Tages werden wir es schaffen, dann werde ich in meinem Auto zur Farm fahren.“

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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