In der Speisekammer der Natur

Zum Thema
Traditionelle Lebensmittel
Barbara Fraser

Paranüsse aus dem Amazonasgebiet sind weltweit beliebt. Nach der Ernte werden sie  zunächst aus der Schale gebrochen und anschließend getrocknet.

Amazonas
Palmen, Knollen, Wurzeln: Der Wald im Amazonasgebiet bietet alles für eine gesunde Ernährung. Das gerät jedoch zunehmend in Vergessenheit.

Wer an einem schwülen Nachmittag in der Nähe eines Dorfes im Amazonasgebiet am Fluss entlangspaziert, kann manchmal ein Rascheln in den Ästen vernehmen: Dann pflücken Kinder dort oben frische Mangos oder rosarote Mamey-Früchte. Und wenn man Glück hat, kichert eines von ihnen und lässt eine reife Frucht herunterfallen. Frische Nahrungsmittel halten sich nicht lange in der tropischen Hitze, aber das ist kein Problem. Für indigene Familien am Amazonas ist die gesamte Natur eine Speisekammer. Selbst Grundnahrungsmittel wie Maniok, die heute kultiviert werden, stammen von verwandten Wildpflanzen. Der tropische Wald liefert Früchte, Wurzeln, Knollen und Nüsse, aber auch Fleisch von Wildtieren und Fisch. Mit dem Verzehr nehmen die Menschen eine Vielzahl von Nährstoffen zu sich, die zu einer ausgewogenen Ernährung beitragen.

Die seit Jahrtausenden traditionelle Ernährungsweise ist jedoch gefährdet – durch Klimawandel, Abholzung und die Einfuhr verarbeiteter Lebensmittel wie Nudeln, Kekse und Limonade, die in großen Paketen mit jedem Flussschiff eintreffen. „Unsere Ältesten raten uns, zu unserer traditionellen Ernährung zurückzukehren“, sagt Yanua Atamain aus Río Soritor in der peruanischen Region San Martín. „Sie sagen, wir müssten uns um den Wald kümmern. Wir dürften nicht die gesamte Palme fällen, damit wir weiter ihre Früchte ernten können, und müssten für die Tiere sorgen“, ergänzt die 33-Jährige. Yanua Atamains Vater ist ein Shuar, ihre Mutter eine Awajún. „Wenn wir zu diesen Traditionen zurückkehren, können wir gut leben und sind nicht auf Produkte von außerhalb angewiesen, die für uns schädlich sind“, meint sie.

Die Vielfalt des Ökosystems am Amazonas spiegelt sich in den Verwendungen der Pflanzen, etwa der verschiedenen Palmenarten. Mit den Blättern werden Dächer gedeckt, die Rinde dient Künstlern als Leinwand, weiche Palmherzen werden in lange Stücke geschnitten und kommen in den Salat. Ebenso vielfältig sind ihre Früchte. Am bekanntesten ist die Kokosnuss, aber auch die Frucht der Aguaje mit dem öligen gelben Fleisch und der schuppigen braunen Haut wird wegen ihres Geschmacks sehr geschätzt. Sie liefert viel Beta-Carotin und Vitamin E. Die Frucht der Ungurahui- oder Seje-Palme enthält Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren, die entzündungshemmende Eigenschaften haben und vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützen sollen.

Zur Ernte in den Wald

Viele andere Bäume im Amazonasgebiet tragen ebenfalls im Laufe des Jahres Früchte. Sie unterscheiden sich von Region zu Region und sogar von einem zum nächsten Flusstal. Weil die Männer im Wald jagen, fischen oder Baumaterial sammeln, bemerken sie oft als Erste, wenn bestimmte Früchte reif sind. Dann gehe die ganze Familie, selbst die kleinen Kinder, zur Ernte in den Wald, sagt Atamain.

Die Frauen in den indigenen Dörfern legen auf gerodeten Flächen im Wald kleine Gärten an. Ein Grundnahrungsmittel sind Bananen, ein anderes ist Maniok, der aus Wildpflanzen gezüchtet wurde. Er kann als Suppen- oder Eintopfzutat gekocht oder zerdrückt und zu einem vergorenen Getränk verarbeitet werden, das in Peru Masato heißt. Getrocknet dient er als Vorrat für die Regenzeit, wenn die Felder überflutet sind. Die Maniokblätter seien nahrhafter als die stärkehaltige Wurzel, aber die Menschen verwenden sie heute nicht mehr so häufig wie früher, sagt Atamain.

Autorin

Barbara Fraser

ist freie Journalistin in Lima, Peru. Sie beschäftigt sich vor allem mit Sozial- und Umweltthemen in Lateinamerika. Ihr Beitrag ist im Original in dem Internetportal „Forest News“ von CIFOR erschienen.
In den Gärten werden die Grundnahrungsmittel mit Knollen wie der lilafarbenen  Yamswurzel kombiniert, die als Sachapapa oder „Wildkartoffel“  bekannt ist. Viele Leute pflanzen Obstbäume wie den Zimtapfelbaum an, oder die Cocona, eine Frucht, die mit der Tomate verwandt und deren Saft sehr beliebt ist, sowie die Uvilla, die auch Amazon Tree Grape genannt wird. Während viele Obstbäume in höher gelegenen Gebieten wachsen und damit vor den saisonalen Überschwemmungen sicher sind, gehört die Camu-Camu zu den wenigen Arten, denen es nichts ausmacht, nasse Füße zu bekommen. Ihre Frucht ist außerordentlich reich an Vitamin C.

Manche Familien pflanzen Bäume an, die wegen ihres Holzes wertvoll sind. Sie dienen als Sparschwein; in der Not kann ihr Holz verkauft werden. Schnell wachsende Arten wie die Bolaina, deren natürliche Umgebung Brachland ist, können nach wenigen Jahren geschlagen werden, während langsamer wachsende Arten wie Mahagoni- und Zedernbäume ein Sparkonto für Kinder und Enkelkinder darstellen.

Tropische Früchte sind nicht nur Teil einer ausgewogenen Ernährung, sondern tragen auch zum Einkommen einer Familie bei. Am bekanntesten ist die Açai, die Frucht einer Palme, die in reicheren Ländern als „Superfood“ vermarktet wird. Allerdings sind Behauptungen, die Açai unterstütze die Gewichtsabnahme und verlangsame das Altern, wissenschaftlich nicht bewiesen. Andere Früchte aus den Wäldern am Amazonas verfügen vielleicht tatsächlich über „Superfood“-Eigenschaften – doch sie sind noch nicht ausreichend erforscht.

Paranuss-Erntearbeiter: Einkommen nur für kurze Zeit

Die Paranuss hingegen hat längst ihre Marktnische gefunden. Die in Bolivien, Brasilien und im südlichen Peru heimischen Paranussbäume gehören zu den größten Bäumen des Waldes, doch sie sind weit verstreut und Versuche, sie in Plantagen anzubauen, sind meistens gescheitert. Die Nüsse reifen in Kapseln, die Kanonenkugeln ähneln und im Januar von den Bäumen fallen. Der Erntearbeiter geht im Wald von Baum zu Baum, sammelt die Kapseln auf und öffnet sie geschickt mit einer Machete, um die Nüsse zu entnehmen, die dann zu ihrer Vermarktung getrocknet und geschält werden. Weil die Erntezeit nur bis März dauert, sichern die Nüsse nur für kurze Zeit ein Einkommen. Für den Rest des Jahres müssen die Arbeiter eine andere Verdienstquelle finden – manchmal beim illegalen Holzeinschlag oder beim Goldabbau. Beides ist gefährlich und umweltschädlich.

Sofía Rubio will das ändern. Im peruanischen Naturschutzgebiet Tambopata arbeitet Rubio auf dem Areal, für das ihre Mutter eine Paranuss-Konzession hat. Dort hat sie aus Paranüssen Produkte wie Müsli und Butter und Paranuss-Splitter-Mischungen mit Kräutern und Gewürzen entwickelt. Außerdem bietet sie Touristen die Möglichkeit, es selbst einmal mit der Nussernte zu versuchen. Sie möchte Wege finden, um Paranuss-Erntearbeitern für einen größeren Teil des Jahres ein Auskommen zu verschaffen. Rubio berät auch indigene Gemeinschaften, die ihre Paranüsse vermarkten wollen. Das ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. „Der Wald produziert nicht die Menge an Früchten und Nüssen, die für eine kommerzielle Vermarktung benötigt wird“, sagt Rubio. In der Natur „hat Vielfalt Vorrang vor Quantität.“

Eine Ernte im großen Umfang könne die Versorgung mit einer Frucht gefährden, gibt auch Dennis del Castillo zu bedenken. Der Agrarwissenschaftler arbeitet am Forschungsinstitut für das peruanische Amazonasgebiet (Institute de Investigaciones de la Amazonía Peruana - IIAP) in Iquitos. Um die in dieser Stadt beliebte Frucht Aguaje zu ernten, wird in der Regel die Palme gefällt. Del Castillo und andere Naturschützer ermutigen die Menschen, auf die Bäume zu klettern und die großen Fruchtbüschel abzuhauen – und so die nächste Ernte zu sichern. Diese Praxis verbreitet sich mehr und mehr; doch einige sträuben sich, denn es dauert länger und sie fürchten die Giftschlangen, die sich zwischen den Früchten verstecken können.

Geringe Mengen verbunden mit saisonaler Produktion machen es einer Gemeinschaft nicht leicht, die regelmäßige Lieferung eines Produktes zu garantieren, ob es nun Paranüsse oder Palmfrüchte sind. Menschen in abgelegenen Dörfern sind oft nicht mit den Geschmäckern und Vorlieben von Verbraucherinnen und Verbrauchern in fernen Großstädten vertraut, und sie brauchen Unterstützung bei der Entwicklung, Prüfung und Vermarktung von Produkten. Die bekommen sie zwar von einigen nichtstaatlichen Organisationen, Unternehmen und den Regierungen, doch die Ergebnisse sind sehr gemischt.

Zugleich stehen die Wälder selbst unter Druck. 2005 und 2010 erlebte das westliche Amazonasgebiet schwere Dürreperioden. In Verbindung mit dem Klimawandel können solche extremen Wetterereignisse dazu führen, dass Bäume weniger oder zu einer anderen Zeit Früchte tragen. Manche Samen werden von Fischen verbreitet, die lange Strecken bis zu ihren Laichplätzen im Amazonas zurücklegen. Wenn die Fische eintreffen, bevor oder nachdem die Bäume Früchte tragen, fehlt ihnen die Nahrung und die Samen werden nicht weiterverbreitet. Darunter könnte die Vielfalt des Waldes leiden. Sie wird zudem bedroht durch die Abholzung zugunsten von Landwirtschaft, die Trockenlegung von Sümpfen mit Aguaje-Palmen, um dort Plantagen mit afrikanischen Ölpalmen anzulegen sowie Straßen, die Wälder zerstückeln und die Waldränder austrocknen lassen.

Je mehr die Menschen die wichtige Rolle der Wälder für ihre Ernährung verstehen, desto eher seien sie bereit, sie nachhaltig zu nutzen – davon ist Roy Riquelme überzeugt. Er nennt sich selbst den „sammelnden Koch vom Amazonas“. Seine Organisation Cocinando y Conservando (Kochen und Erhalten) aus Puerto Maldonado in Peru hilft dabei, den Weg eines Produkts vom Wald zum Tisch nachzuvollziehen. Wenn die Menschen aus Nahrungsmitteln, die sie in ihrer Umgebung finden, schmackhafte, abwechslungsreiche und nahrhafte Mahlzeiten zubereiten können, sei das Risiko geringer, dass sie verarbeitete Lebensmittel aus der Stadt mit nach Hause nehmen. Maßgeblich seien Kenntnisse über die Zubereitung, meint Riquelme. Auf seinen Reisen zu indigenen Gemeinschaften sammelt und teilt er Rezepte. Er experimentiert mit Palmfrüchten, Pilzen, Rinde und Wurzeln. Sein Lieblingsgericht ist eine Soße aus Früchten und Pilzen – einige Geheimnisse hat ihm ein Wissenschaftler enthüllt, der Pilze im Amazonasgebiet untersuchte. „Der Wald gibt uns Nahrung, Wasser, Luft und sogar Medizin“, sagt Riquelme – und ist dabei einig mit Yanua Atamain aus Río Soritor: „Eine gesunde und nachhaltige Lebensmittelversorgung sichern wir am besten, indem wir für unsere Wälder sorgen.“

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2018: Mehr als Reis und Weizen
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