Worte machen nicht satt

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Acht von zehn Haitianern leben unter der Armutsgrenze. Die Ernährungskrise im vergangenen Jahr hat die Bevölkerung besonders hart getroffen, weil der Karibikstaat einen Großteil seiner Grundnahrungsmittel importieren muss. Internationale Geber haben jetzt Hilfe zugesagt, doch die Mehrheit der Haitianer verlässt sich lieber auf persönliche Beziehungen statt auf ihre Regierung, um zu überleben.

Von Michael Kühn und Astrid Nissen

Haiti hat in den vergangenen Jahren vor allem mit politischen Unruhen und Naturkatastrophen Aufmerksamkeit erregt. Nun scheint es so, als ob sich die Völkergemeinschaft, allen voran die USA, stärker ihrer Verantwortung für das ärmste Land der westlichen Hemisphäre bewusst würde. Vor einer internationalen Geberkonferenz Mitte April hat Hillary Clinton als erste US-Außenministerin seit 1997 den Karibikstaat besucht und Präsident René Préval finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt. Die Konferenz erbrachte Zusagen von immerhin rund 325 Millionen US-Dollar.

Das Geld soll dazu beitragen, die Anfälligkeit des Karibikstaates für politische Krisen oder Naturkatastrophen zu verringern, den Zugang zu staatlichen Grunddiensten zu verbessern und die Wirtschaft anzukurbeln. In den vergangenen drei Jahren konnte Haiti immerhin ein geringes Wachstum vorweisen. Darüber hinaus wurde eine großzügige Entschuldungskampagne angekündigt: Die USA stimmten auf der Konferenz einem Schuldenerlass von 20 Millionen US-Dollar zu. Wenn Haiti im Juli die Bedingungen des IWF-Programms für hochverschuldete Entwicklungsländer erfüllt, könnte auch die Weltbank einen Erlass gewähren. Das Land muss zur Zeit monatlich knapp 4 Millionen US-Dollar Schulden abzahlen, davon allein 1,4 Millionen Dollar an den Internationalen Währungsfonds (IWF). Zwar wurden die meisten der fälligen Kredite noch der Regierung unter dem Diktator Francois Duvalier gewährt, aber sie belasten den heutigen Haushalt erheblich.

Trotz dieser erfreulichen Anzeichen darf nicht vergessen werden, wie wenig Haiti in der Lage ist, die Auswirkungen nationaler und internationaler Krisen auf seine Bevölkerung abzufedern. Jüngstes Beispiel waren die Unruhen aufgrund der steigenden Nahrungsmittelpreise im April 2008. Dieser Ausdruck einer schleichenden Krise schlägt bis heute Wellen im Land. Sechs Menschen kamen damals bei den gewalttätigen Demonstrationen ums Leben, zahlreiche Personen wurden verletzt. Die Regierung unter Premierminister Jacques Eduard Alexis musste sich einem Misstrauensvotum beugen und abtreten.

Ein Teil der Verantwortung für diese Krisenanfälligkeit liegt im Ausland. Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des IWF ab den 1980er Jahren haben das Land in die Rolle eines Nettoimporteurs von Nahrung gebracht. Mehr als die Hälfte der konsumierten Lebensmittel in Haiti werden importiert. Nur 43 Prozent entstammen der heimischen Produktion und etwa fünf Prozent werden noch immer als Lebensmittelhilfen von internationalen Organisationen bereitgestellt. Die kontinuierliche Senkung von Importzöllen hat zu einer Überschwemmung des lokalen Marktes mit billigeren ausländischen Produkten geführt, mit denen die nationale Produktion nicht konkurrieren kann. Besonders deutlich zeigt sich das beim Reis. Seine Importquote ist seit den 1980er Jahren von 8 auf fast 80 Prozent gestiegen. Die Verfügbarkeit des für viele Jahre vergleichweise billigen importierten Reis auf dem haitianischen Markt hat die Essgewohnheiten verändert. Während Reis früher für Sonntage und besondere Anlässe reserviert war und Mais, Hirse, Kochbananen und Blattgemüse die Basis der Ernährung darstellten, ist er heute das am weitesten verbreitete Grundnahrungsmittel, und sprichwörtlich ist ein Tag ohne Reis ein Tag der Misere.

Anfang 2008 stieg dann der Preis für importierten Reis in Haiti um knapp 60 Prozent, der für Getreide sogar um 91 Prozent. Von den rund 9,6 Millionen Haitianern leben rund 4,4 Millionen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag, davon mehr als die Hälfte mit weniger als einem US-Dollar. Damit leben acht von zehn Haitianern unter der Armutsgrenze. Sie waren nicht in der Lage, die steigenden Preise für Transport und Nahrungsmittel zu zahlen. Die Preise sind in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr zwar wieder leicht gesunken. Doch schon jetzt gehen aufgrund der globalen Wirtschaftskrise die Direktüberweisungen von im Ausland lebenden Haitianern zurück. 2006 waren das etwa 1,7 Milliarden US-Dollar, mehr als ein Viertel des jährlichen Staatseinkommens. Rund eine Million Menschen hängen davon ab. Da in Haiti 90 Prozent der Schulen privat sind, sind besonders junge Menschen auf dieses Geld angewiesen.

Die Debatten in Haiti über die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage drehen sich vor allem darum, wie die Produktion gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen werden können. Zahlreiche Strategiepapiere dazu hat entweder die haitianische Regierung auf Druck der internationalen Kreditinstitute vorgelegt oder internationale Experten haben sie erarbeitet. „Besser jetzt als nie" hört man mit leicht ironischem Unterton in Fachkreisen, denn die Schwäche des landwirtschaftlichen Sektors ist seit vielen Jahren bekannt. Die schlecht entwickelte Infrastruktur für die Produktion und den Vertrieb und die mangelhafte technische und betriebswirtschaftliche Ausbildung der Bauern haben ihre Ursachen in der Politik und im Mangel an finanzieller Unterstützung für den Agrarsektor.

Die zunehmende Degradierung der Böden und die unkontrollierte Abholzung von bewaldeten Flächen machen die Bevölkerung verletzlich gegenüber Stürmen und Hurrikans. Die insgesamt acht tropischen Wirbelstürme der vergangenen zwei Jahre haben in vielen Teilen des Landes erheblichen Schaden angerichtet und nicht nur den Ernten, sondern auch den Entwicklungserwartungen der nationalen Wirtschaft schwer geschadet. Die Schäden werden insgesamt auf mehr als 897 Millionen US-Dollar geschätzt. Dies entspricht rund 14,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Erst die Juli-Ernte diesen Jahres wird zeigen, ob und wie sich die Landwirtschaft erholt hat.

Investitionen aus dem Ausland und ein sichtbares Engagement des nationalen Privatsektors sind in Haiti Mangelware. Zwar konnte die allgemeine Sicherheitslage mit Hilfe der UN-Mission MINUSTAH verbessert werden und der Ausbau der nationalen Polizei schreitet voran. Die Verwaltung ist jedoch altmodisch, in weiten Teilen korrupt und der Staat tut sich schwer, sich an die Bedingungen privater internationaler Investoren anzupassen. Die haben kein Vertrauen in die Regierungsführung - ein Schlüsselfaktor für Investitionen aller Art. Ein Beispiel ist der Versuch, die Vorteile aus den Freihandelsabkommen mit den USA für die Schaffung von Arbeitsplätzen im städtischen Bereich zu nutzen. Das sogenannte „HOPE II"- Abkommen, bereits im Dezember 2006 vom amerikanischen Kongress verabschiedet, sieht vor, für zehn Jahre die Produktion von Textilien in Haiti mittels zollfreien Abnahmen in den USA zu stimulieren. Waren vor zwanzig Jahren noch über 100.000 Menschen in der haitianischen Textilindustrie beschäftigt, sind es heute weniger als 30.000. Zwar hat „HOPE" zur Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen geführt; wegen Misstrauens gegenüber der Regierung, der schlechten Infrastruktur und nicht zuletzt der Weltwirtschaftskrise konnten bislang aber weniger Investoren angelockt werden als erhofft.

Wie es um die politische Kultur bestellt ist, zeigen die Vorbereitungen der Teilwahlen zum Senat am 19. April. Bereits im Februar hatte der vorläufige Wahlrat entschieden, die Kandidaten der Partei des ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, Fanmi Lavalas, sowie einige andere Kandidaten abzulehnen. Die Ablehnung von Kandidaten einer Partei, die jahrelang den Präsidenten gestellt hatte und bis heute ein Symbol für die Abschaffung der Duvalier-Diktatur ist, schien ein Skandal, der alle demokratischen Spielregeln auf den Kopf stellte. Die USA, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und andere diplomatische Vertretungen im Land wiesen darauf hin, dass diese Entscheidung die Glaubwürdigkeit und Rechtmäßigkeit der Wahlen in Frage stellen könne und ein Potenzial für neue Unruhen im Land berge.

Allerdings hatte die Partei Aristides es versäumt, ihre Listen rechtzeitig vorzulegen, und damit die Aufnahme zu den Wahlen verpasst. Außerdem fehlte laut Wahlrat die Autorisierung der Kandidaten durch den Vorsitzenden der Partei, Jean Bertrand Aristide, der sich bis heute in Südafrika aufhält. Ob das zutrifft oder dieser Prozess nur ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der Begleichung von persönlichen Rechnungen darstellt, ist nur schwer auszumachen. Bei den Wahlen hielt sich die Gewalt in Grenzen; die Partei Aristides, die einen Boykott angekündigt hatte, verzichtete auf Störaktionen. Ob sie nicht wollte oder nicht konnte, bleibt offen. Tatsache ist jedoch, dass die Wahlbeteiligung nur bei rund 11 Prozent lag und kein Kandidat siegreich aus den Wahlen hervorgegangen ist. Es wird also Anfang Juni eine zweite Runde geben. Erstaunlich ist das Ergebnis nicht: Die insgesamt 78 Kandidaten für die 12 Senatorenposten sind zum großen Teil unbekannt und das Wahlverfahren ist sehr kompliziert, was bei einer Analphabetenquote von 50 Prozent besonders schwer wiegt.

Dennoch: Der britische Wirtschaftsprofessor Paul Collier bezeichnete kürzlich auf einer Konferenz in Haiti, bei der er wider dem allgemeinen Trend die guten Ausgangsbedingungen für eine wirtschaftliche Entwicklung hervorhob, das „HOPE II"- Abkommen als eine von mehreren guten Chancen für das Land. Statt mit groß angelegten, unüberschaubaren Projekten sollten mit kurzfristigen, erfolgversprechenden Maßnahmen die Auswirkungen der lang andauernden Krise Stück für Stück überwunden werden. Mit gezielten Investitionen solle vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen vorangetrieben werden. Allerdings werden in Haiti die Arbeitnehmerrechte nicht umfassend durchgesetzt und es gibt zahlreiche Stimmen, die die Nachhaltigkeit der Entwicklung auf der Grundlage der Fertigungsindustrie in Frage stellen.

Mit einem Anteil von mehr als 25 Prozent am Sozialprodukt birgt die landwirtschaftliche Produktion erhebliches Potenzial für Arbeitsplätze. Hier sind allerdings neue umweltschonende Produktionsmethoden und klare Anreize für die Steigerung, Weiterverarbeitung und Kommerzialisierung der Produktion nötig. Der Großteil der landwirtschaftlichen Produktion dient der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse der Kleinbauern. Es fehlen zum Beispiel Kreditprogramme für den Anbau von Zitrusbäumen und anderen Bäumen und Pflanzen, mit denen sich Geld erzielen lässt, sowie Vorgaben zum Schutz der lebenswichtigen Ressourcen.

Viele Haitianer lassen diese Debatten allerdings kalt, denn von Worten wird man nicht satt. Marise zum Beispiel: Sie hat einige der Reden im Fernsehen gehört. Die 25-jährige alleinerziehende Mutter von zwei Kindern hat sich illegal an das Stromnetz in ihrem Stadtviertel angeschlossen, und wenn es tatsächlich einmal Strom gibt - selten mehr als drei bis vier Stunden am Tag und dies meistens nachts -, dann schaltet sie den Fernseher ein, um die von ihr bevorzugte brasilianische Telenovela zu verfolgen.

Dabei geht es Marise vergleichsweise gut: Sie hat einen Job. Seit kurzem arbeitet sie in einer Textilfabrik am Rande des internationalen Flughafens von Port-au-Prince und profitiert damit schon von dem „HOPE II"-Abkommen. Mit den Akkordzuschlägen bringt sie es auf 240 Gourdes, rund 6 US-Dollar, am Tag. Doch nach Abzug der ständig steigenden Transportkosten, die sie aufbringen muss, um von dem an der südlichen Ausfahrtsstrasse gelegenen Stadtteil Carrefour an ihren Arbeitsplatz zu gelangen, sowie der Kosten für Lebensmittel bleiben ihr am Ende gerade 20 Gourdes. Davon kann sie weder die Miete für die kleine Einzimmerwohnung noch das Schulgeld für die beiden Kinder aufbringen. Auch krank werden darf niemand. Das Parlament hat gerade eine Gesetzesinitiative zur Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 200 Gourdes pro Tag angenommen. Doch die Proteste aus dem Privatsektor sind groß und so konnte der Vorschlag bislang in der zweiten Kammer des Parlaments noch keine Mehrheit finden.

Marise hat sich wie die überwiegende Mehrheit der haitianischen Bevölkerung ein komplexes System von Überlebensstrategien aufgebaut, damit es zum Nötigsten reicht. Vor allem informelle Kredite unter Arbeitskollegen, Nachbarn und Freunden sowie die Überweisungen aus der Diaspora spielen darin eine wichtige Rolle. Doch diese Systeme sind äußerst labil und geraten leicht aus dem Gleichgewicht, wie die sinkenden Überweisungen aus dem Ausland zeigen. Ersparnisse hat Marise keine, und auch ihre Familie, die in einem abgelegenen Weiler im Südosten des Landes lebt, kann sie nicht unterstützen. Ihr Vater habe durch die Hurrikans im vergangenen Jahr die meisten seiner zehn Ziegen verloren, erzählt sie. Zwei weitere habe er nun verkauft, aber das Geld werde für den Rest der Familie benötigt. Der ältere Bruder Dieudonné hat sich gerade in die benachbarte Dominikanische Republik aufgemacht, um dort erneut sein Glück als Tagelöhner auf einer der zahlreichen Baustellen der Hauptstadt Santo Domingo zu versuchen. Doch der Druck auf die Arbeitsemigranten dort wächst. Jeden Monat werden tausende Haitianer ausgewiesen - häufig bevor sie ihren Lohn ausbezahlt bekommen haben. Wenn auch die Geberkonferenz in Washington - nicht zuletzt wegen des Regierungswechsels in den USA - erfreuliche Signale setzen konnte, bleiben viele Fragen offen. Wird die haitianische Regierung in der Lage sein, ihren internationalen Verpflichtungen gegenüber den Gebern nachzukommen? Halten die Geber ihre Finanzzusagen ein? Wird dieses Geld auch bei den Armen ankommen? Für Marise bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen ihren Kindern eine reelle Chance für die Zukunft eröffnen. Haiti hat in den vergangenen Jahren vor allem mit politischen Unruhen und Naturkatastrophen Aufmerksamkeit erregt. Nun scheint es so, als ob sich die Völkergemeinschaft, allen voran die USA, stärker ihrer Verantwortung für das ärmste Land der westlichen Hemisphäre bewusst würde. Vor einer internationalen Geberkonferenz Mitte April hat Hillary Clinton als erste US-Außenministerin seit 1997 den Karibikstaat besucht und Präsident René Préval finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt. Die Konferenz erbrachte Zusagen von immerhin rund 325 Millionen US-Dollar.

Das Geld soll dazu beitragen, die Anfälligkeit des Karibikstaates für politische Krisen oder Naturkatastrophen zu verringern, den Zugang zu staatlichen Grunddiensten zu verbessern und die Wirtschaft anzukurbeln. In den vergangenen drei Jahren konnte Haiti immerhin ein geringes Wachstum vorweisen. Darüber hinaus wurde eine großzügige Entschuldungskampagne angekündigt: Die USA stimmten auf der Konferenz einem Schuldenerlass von 20 Millionen US-Dollar zu. Wenn Haiti im Juli die Bedingungen des IWF-Programms für hochverschuldete Entwicklungsländer erfüllt, könnte auch die Weltbank einen Erlass gewähren. Das Land muss zur Zeit monatlich knapp 4 Millionen US-Dollar Schulden abzahlen, davon allein 1,4 Millionen Dollar an den Internationalen Währungsfonds (IWF). Zwar wurden die meisten der fälligen Kredite noch der Regierung unter dem Diktator Francois Duvalier gewährt, aber sie belasten den heutigen Haushalt erheblich.

Trotz dieser erfreulichen Anzeichen darf nicht vergessen werden, wie wenig Haiti in der Lage ist, die Auswirkungen nationaler und internationaler Krisen auf seine Bevölkerung abzufedern. Jüngstes Beispiel waren die Unruhen aufgrund der steigenden Nahrungsmittelpreise im April 2008. Dieser Ausdruck einer schleichenden Krise schlägt bis heute Wellen im Land. Sechs Menschen kamen damals bei den gewalttätigen Demonstrationen ums Leben, zahlreiche Personen wurden verletzt. Die Regierung unter Premierminister Jacques Eduard Alexis musste sich einem Misstrauensvotum beugen und abtreten.

Ein Teil der Verantwortung für diese Krisenanfälligkeit liegt im Ausland. Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des IWF ab den 1980er Jahren haben das Land in die Rolle eines Nettoimporteurs von Nahrung gebracht. Mehr als die Hälfte der konsumierten Lebensmittel in Haiti werden importiert. Nur 43 Prozent entstammen der heimischen Produktion und etwa fünf Prozent werden noch immer als Lebensmittelhilfen von internationalen Organisationen bereitgestellt. Die kontinuierliche Senkung von Importzöllen hat zu einer Überschwemmung des lokalen Marktes mit billigeren ausländischen Produkten geführt, mit denen die nationale Produktion nicht konkurrieren kann. Besonders deutlich zeigt sich das beim Reis. Seine Importquote ist seit den 1980er Jahren von 8 auf fast 80 Prozent gestiegen. Die Verfügbarkeit des für viele Jahre vergleichweise billigen importierten Reis auf dem haitianischen Markt hat die Essgewohnheiten verändert. Während Reis früher für Sonntage und besondere Anlässe reserviert war und Mais, Hirse, Kochbananen und Blattgemüse die Basis der Ernährung darstellten, ist er heute das am weitesten verbreitete Grundnahrungsmittel, und sprichwörtlich ist ein Tag ohne Reis ein Tag der Misere.

Anfang 2008 stieg dann der Preis für importierten Reis in Haiti um knapp 60 Prozent, der für Getreide sogar um 91 Prozent. Von den rund 9,6 Millionen Haitianern leben rund 4,4 Millionen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag, davon mehr als die Hälfte mit weniger als einem US-Dollar. Damit leben acht von zehn Haitianern unter der Armutsgrenze. Sie waren nicht in der Lage, die steigenden Preise für Transport und Nahrungsmittel zu zahlen. Die Preise sind in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr zwar wieder leicht gesunken. Doch schon jetzt gehen aufgrund der globalen Wirtschaftskrise die Direktüberweisungen von im Ausland lebenden Haitianern zurück. 2006 waren das etwa 1,7 Milliarden US-Dollar, mehr als ein Viertel des jährlichen Staatseinkommens. Rund eine Million Menschen hängen davon ab. Da in Haiti 90 Prozent der Schulen privat sind, sind besonders junge Menschen auf dieses Geld angewiesen.

Die Debatten in Haiti über die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage drehen sich vor allem darum, wie die Produktion gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen werden können. Zahlreiche Strategiepapiere dazu hat entweder die haitianische Regierung auf Druck der internationalen Kreditinstitute vorgelegt oder internationale Experten haben sie erarbeitet. „Besser jetzt als nie" hört man mit leicht ironischem Unterton in Fachkreisen, denn die Schwäche des landwirtschaftlichen Sektors ist seit vielen Jahren bekannt. Die schlecht entwickelte Infrastruktur für die Produktion und den Vertrieb und die mangelhafte technische und betriebswirtschaftliche Ausbildung der Bauern haben ihre Ursachen in der Politik und im Mangel an finanzieller Unterstützung für den Agrarsektor.

Die zunehmende Degradierung der Böden und die unkontrollierte Abholzung von bewaldeten Flächen machen die Bevölkerung verletzlich gegenüber Stürmen und Hurrikans. Die insgesamt acht tropischen Wirbelstürme der vergangenen zwei Jahre haben in vielen Teilen des Landes erheblichen Schaden angerichtet und nicht nur den Ernten, sondern auch den Entwicklungserwartungen der nationalen Wirtschaft schwer geschadet. Die Schäden werden insgesamt auf mehr als 897 Millionen US-Dollar geschätzt. Dies entspricht rund 14,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Erst die Juli-Ernte diesen Jahres wird zeigen, ob und wie sich die Landwirtschaft erholt hat.

Investitionen aus dem Ausland und ein sichtbares Engagement des nationalen Privatsektors sind in Haiti Mangelware. Zwar konnte die allgemeine Sicherheitslage mit Hilfe der UN-Mission MINUSTAH verbessert werden und der Ausbau der nationalen Polizei schreitet voran. Die Verwaltung ist jedoch altmodisch, in weiten Teilen korrupt und der Staat tut sich schwer, sich an die Bedingungen privater internationaler Investoren anzupassen. Die haben kein Vertrauen in die Regierungsführung - ein Schlüsselfaktor für Investitionen aller Art. Ein Beispiel ist der Versuch, die Vorteile aus den Freihandelsabkommen mit den USA für die Schaffung von Arbeitsplätzen im städtischen Bereich zu nutzen. Das sogenannte „HOPE II"- Abkommen, bereits im Dezember 2006 vom amerikanischen Kongress verabschiedet, sieht vor, für zehn Jahre die Produktion von Textilien in Haiti mittels zollfreien Abnahmen in den USA zu stimulieren. Waren vor zwanzig Jahren noch über 100.000 Menschen in der haitianischen Textilindustrie beschäftigt, sind es heute weniger als 30.000. Zwar hat „HOPE" zur Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen geführt; wegen Misstrauens gegenüber der Regierung, der schlechten Infrastruktur und nicht zuletzt der Weltwirtschaftskrise konnten bislang aber weniger Investoren angelockt werden als erhofft.

Wie es um die politische Kultur bestellt ist, zeigen die Vorbereitungen der Teilwahlen zum Senat am 19. April. Bereits im Februar hatte der vorläufige Wahlrat entschieden, die Kandidaten der Partei des ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, Fanmi Lavalas, sowie einige andere Kandidaten abzulehnen. Die Ablehnung von Kandidaten einer Partei, die jahrelang den Präsidenten gestellt hatte und bis heute ein Symbol für die Abschaffung der Duvalier-Diktatur ist, schien ein Skandal, der alle demokratischen Spielregeln auf den Kopf stellte. Die USA, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und andere diplomatische Vertretungen im Land wiesen darauf hin, dass diese Entscheidung die Glaubwürdigkeit und Rechtmäßigkeit der Wahlen in Frage stellen könne und ein Potenzial für neue Unruhen im Land berge.

Allerdings hatte die Partei Aristides es versäumt, ihre Listen rechtzeitig vorzulegen, und damit die Aufnahme zu den Wahlen verpasst. Außerdem fehlte laut Wahlrat die Autorisierung der Kandidaten durch den Vorsitzenden der Partei, Jean Bertrand Aristide, der sich bis heute in Südafrika aufhält. Ob das zutrifft oder dieser Prozess nur ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der Begleichung von persönlichen Rechnungen darstellt, ist nur schwer auszumachen. Bei den Wahlen hielt sich die Gewalt in Grenzen; die Partei Aristides, die einen Boykott angekündigt hatte, verzichtete auf Störaktionen. Ob sie nicht wollte oder nicht konnte, bleibt offen. Tatsache ist jedoch, dass die Wahlbeteiligung nur bei rund 11 Prozent lag und kein Kandidat siegreich aus den Wahlen hervorgegangen ist. Es wird also Anfang Juni eine zweite Runde geben. Erstaunlich ist das Ergebnis nicht: Die insgesamt 78 Kandidaten für die 12 Senatorenposten sind zum großen Teil unbekannt und das Wahlverfahren ist sehr kompliziert, was bei einer Analphabetenquote von 50 Prozent besonders schwer wiegt.

Dennoch: Der britische Wirtschaftsprofessor Paul Collier bezeichnete kürzlich auf einer Konferenz in Haiti, bei der er wider dem allgemeinen Trend die guten Ausgangsbedingungen für eine wirtschaftliche Entwicklung hervorhob, das „HOPE II"- Abkommen als eine von mehreren guten Chancen für das Land. Statt mit groß angelegten, unüberschaubaren Projekten sollten mit kurzfristigen, erfolgversprechenden Maßnahmen die Auswirkungen der lang andauernden Krise Stück für Stück überwunden werden. Mit gezielten Investitionen solle vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen vorangetrieben werden. Allerdings werden in Haiti die Arbeitnehmerrechte nicht umfassend durchgesetzt und es gibt zahlreiche Stimmen, die die Nachhaltigkeit der Entwicklung auf der Grundlage der Fertigungsindustrie in Frage stellen.

Mit einem Anteil von mehr als 25 Prozent am Sozialprodukt birgt die landwirtschaftliche Produktion erhebliches Potenzial für Arbeitsplätze. Hier sind allerdings neue umweltschonende Produktionsmethoden und klare Anreize für die Steigerung, Weiterverarbeitung und Kommerzialisierung der Produktion nötig. Der Großteil der landwirtschaftlichen Produktion dient der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse der Kleinbauern. Es fehlen zum Beispiel Kreditprogramme für den Anbau von Zitrusbäumen und anderen Bäumen und Pflanzen, mit denen sich Geld erzielen lässt, sowie Vorgaben zum Schutz der lebenswichtigen Ressourcen.

Viele Haitianer lassen diese Debatten allerdings kalt, denn von Worten wird man nicht satt. Marise zum Beispiel: Sie hat einige der Reden im Fernsehen gehört. Die 25-jährige alleinerziehende Mutter von zwei Kindern hat sich illegal an das Stromnetz in ihrem Stadtviertel angeschlossen, und wenn es tatsächlich einmal Strom gibt - selten mehr als drei bis vier Stunden am Tag und dies meistens nachts -, dann schaltet sie den Fernseher ein, um die von ihr bevorzugte brasilianische Telenovela zu verfolgen.

Dabei geht es Marise vergleichsweise gut: Sie hat einen Job. Seit kurzem arbeitet sie in einer Textilfabrik am Rande des internationalen Flughafens von Port-au-Prince und profitiert damit schon von dem „HOPE II"-Abkommen. Mit den Akkordzuschlägen bringt sie es auf 240 Gourdes, rund 6 US-Dollar, am Tag. Doch nach Abzug der ständig steigenden Transportkosten, die sie aufbringen muss, um von dem an der südlichen Ausfahrtsstrasse gelegenen Stadtteil Carrefour an ihren Arbeitsplatz zu gelangen, sowie der Kosten für Lebensmittel bleiben ihr am Ende gerade 20 Gourdes. Davon kann sie weder die Miete für die kleine Einzimmerwohnung noch das Schulgeld für die beiden Kinder aufbringen. Auch krank werden darf niemand. Das Parlament hat gerade eine Gesetzesinitiative zur Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 200 Gourdes pro Tag angenommen. Doch die Proteste aus dem Privatsektor sind groß und so konnte der Vorschlag bislang in der zweiten Kammer des Parlaments noch keine Mehrheit finden.

Marise hat sich wie die überwiegende Mehrheit der haitianischen Bevölkerung ein komplexes System von Überlebensstrategien aufgebaut, damit es zum Nötigsten reicht. Vor allem informelle Kredite unter Arbeitskollegen, Nachbarn und Freunden sowie die Überweisungen aus der Diaspora spielen darin eine wichtige Rolle. Doch diese Systeme sind äußerst labil und geraten leicht aus dem Gleichgewicht, wie die sinkenden Überweisungen aus dem Ausland zeigen. Ersparnisse hat Marise keine, und auch ihre Familie, die in einem abgelegenen Weiler im Südosten des Landes lebt, kann sie nicht unterstützen. Ihr Vater habe durch die Hurrikans im vergangenen Jahr die meisten seiner zehn Ziegen verloren, erzählt sie. Zwei weitere habe er nun verkauft, aber das Geld werde für den Rest der Familie benötigt. Der ältere Bruder Dieudonné hat sich gerade in die benachbarte Dominikanische Republik aufgemacht, um dort erneut sein Glück als Tagelöhner auf einer der zahlreichen Baustellen der Hauptstadt Santo Domingo zu versuchen. Doch der Druck auf die Arbeitsemigranten dort wächst. Jeden Monat werden tausende Haitianer ausgewiesen - häufig bevor sie ihren Lohn ausbezahlt bekommen haben. Wenn auch die Geberkonferenz in Washington - nicht zuletzt wegen des Regierungswechsels in den USA - erfreuliche Signale setzen konnte, bleiben viele Fragen offen. Wird die haitianische Regierung in der Lage sein, ihren internationalen Verpflichtungen gegenüber den Gebern nachzukommen? Halten die Geber ihre Finanzzusagen ein? Wird dieses Geld auch bei den Armen ankommen? Für Marise bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen ihren Kindern eine reelle Chance für die Zukunft eröffnen.

Michael Kühn ist Regionaldirektor der Welthungerhilfe in Haiti.
Astrid Nissen leitet das Büro der Diakonie Katastrophenhilfe in Haiti.

 

erschienen in Ausgabe 6 / 2009: Kleidung – Wer zieht uns an?
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