Schweben wie ein Vogel

Danilo Ramos

Auch Sehbehinderte können tanzen. Viel Geduld, Kraft und Unterstützung sind nötig, bis die Bewegungen sitzen und leicht aussehen.

Ballettschule
Den Tanz erfühlen: Eine Ballettschule in São Paulo bildet blinde Mädchen aus. Manch eine bringt es bis zur Profitänzerin.

Eine Ballerina muss immer nach den Sternen greifen“, sagt Fernanda Bianchini. „Auch wenn sie sie nicht sehen kann.“ Der Satz ist Ansporn und Lebensmotto zugleich. Viele ihrer Freunde haben den Kopf geschüttelt, als Bianchini vor rund 20 Jahren von ihrem Projekt erzählte: Eine Ballettschule für Blinde wollte sie gründen. Sie hat die Skeptiker eines Besseren belehrt und eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Dabei geht es um sehr viel mehr als das Tanzen.

Bianchinis Ballettgruppe aus professionellen blinden Tänzerinnen ist die einzige weltweit. Sie hat große Aufführungen einstudiert: Der Nussknacker, Dornröschen und Don Quijote gehören zu ihrem Repertoire. Bisheriger Höhepunkt war der Auftritt bei der Abschlussfeier der Paralympischen Spiele 2012 in London. Im vergangenen Jahr ist die Truppe bei der Gala des blinden Popstars Stevie Wonder in Hollywood aufgetreten – ein voller Erfolg. 

Jede Position muss zunächst ertastet werden

„Bei uns gibt es kein Nein und keine Grenzen“, sagt Bianchini. Das habe sie schon früh zum Motto ihres Unterrichts gemacht. Die Schule ist in einem unscheinbaren gelben Haus im Stadtteil Vila Mariana im Süden von São Paulo untergebracht. In dem hellen Probenraum steht die 40-Jährige an der Ballettstange und zeigt zuerst eine Position, dann die Schrittfolge.

Mariane Mayumi und Geyza Pereira hocken vor ihrer Lehrerin und ertasten die Ausführung Stück für Stück – sie gleiten mit ihren Fingern über die gestreckten Fußspitzen, das angewinkelte Bein bis hin zu den ineinander verschränkten Armen. Sie haben gelernt, das Ertastete wieder zu einer Ballettposition zusammenzusetzen. An der Stange entstehen dann die neuen Schrittfolgen für eine anspruchsvolle Choreographie. Immer wieder verbessert Bianchini die Position von Füßen und Armen, achtet auf die akkurate Ausführung und auf Eleganz. 

Als Mariane Mayumi vor sechs Jahren das erste Mal in die Schule kam, saß sie aufgrund einer chronischen Muskelkrankheit noch im Rollstuhl. „Ich konnte nicht einmal meinen Kopf richtig bewegen“, sagt sie. Seit ihrer Geburt hat sie eine starke Sehschwäche, kann nur Umrisse erkennen. An der Ballettstange konnte sie sich nicht allein halten, ihre Beine knickten immer wieder weg. Das tägliche Training hat ihre Muskeln gestärkt und sie hat Kraft bekommen. „Tanzen ist für mich immer noch wie ein Wunder“, sagt die 32-Jährige gerührt.

Die Größe der Bühne ist im Kopf gespeichert

Heute ist der 24-jährige Anderson Carneiro mit im Ballettsaal. Er ist ausgebildeter Tänzer und hat keine Sehbehinderung. Vorsichtig übt er mit Mariane die Schrittfolgen für den Grand Jeté, eine schwierige Sprungkombination, bei der die Tänzerin die Beine in der Luft zu einem Spagat formt. Mariane hat die Größe der Bühne in ihrem Kopf abgespeichert. Nein, sie hat keine Angst hinzufallen. Denn sie vertraue ihrem Tanzpartner, sagt sie. Nach den ersten vorsichtigen Versuchen werden die Sprünge immer weiter und höher – bis sie federleicht aussehen.

Autorin

Susann Kreutzmann

arbeitet als Journalistin und lebt in Berlin. Die Recherche für diesen Artikel wurde von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und dem UN-Welternährungsprogramm unterstützt.
Fernanda Bianchini kommt aus einer Mittelklassefamilie aus São Paulo und  hat schon früh mit dem klassischen Ballett begonnen. Mit 15 Jahren hat sie angefangen, blinde Mädchen im Tanzen zu unterrichten – durch einen Zufall. Sie arbeitete ehrenamtlich in der Nachbarschaft in einem Projekt für Blinde. Eine der Lehrerinnen dort habe sie gefragt, ob sie den Mädchen ein paar Schritte zeigen könne, erinnert sich Bianchini. Die Lehrerin habe gehofft, dass sich damit die gebückte Haltung der Mädchen verbessern würde und sie einen besseren Gleichgewichtssinn erlangten. Damals habe sie Zweifel gehabt. „Doch meine Eltern gaben mir einen Satz mit auf den Weg, den ich nie vergessen werde: Lehne niemals eine Herausforderung ab, denn sie wird dir in deinem Leben noch viel zeigen.“

Es war der Anfang ihres Traums und ihres Lebensprojektes. Viele Jahre feilte sie an der Methodik ihres Unterrichts, denn sie war die Erste weltweit, die mit Hilfe von Ertasten Ballett unterrichtete. 2005 schrieb sie ihre Abschlussarbeit in Sportwissenschaften darüber.
„Ihr müsst eure Arme schwingen wie die Vögel“, habe sie zu ihren ersten Schülerinnen gesagt, erzählt Bianchini. Doch die hatten noch nie Vögel gesehen. „Da habe ich verstanden, dass ich zuerst in ihre Welt eintauchen muss, um ihnen dann meine zu zeigen.“ Später brachte Bianchini Palmenwedel mit in den Unterricht und ließ ihre Schülerinnen die Schwingungen erfühlen – fast genauso wie der Flügelschlag eines Vogels.

Für Marina Guimarães, die zu den ersten Ballettschülerinnen gehörte, sind die Drehungen und Pirouetten immer noch am schwierigsten. „Normalerweise suchen sich Tänzerinnen einen fixen Punkt im Raum. Den haben wir nicht“, erklärt sie. Deshalb sind kleine Hilfestellungen notwendig. Durch Fingerschnipsen gibt die Tanzlehrerin den Mädchen die Richtung vor. Auch bei leichten schwebenden Bewegungen der Arme muss sich Marina Guimarães kontrollieren. „Ich habe manchmal zu viel Kraft“, sagt sie lachend.

Die Tänzerin verdient ihr Geld mit Ernährungsberatung

Marina Guimarães gehört zu den professionellen Tänzerinnen der Kompanie. Ihren Lebensunterhalt verdient sie allerdings als Ernährungsberaterin. „Als Künstler in Brasilien zu überleben ist schwer, erst recht, wenn du eine Behinderung hast“, sagt sie. Marina Guimarães hatte  Glück: Ihre Eltern haben sie früh gefördert und sie hat eine private Schule für Blinde besucht. So konnte sie sich ein selbstbestimmtes Leben aufbauen. Sie weiß, dass sie damit eine Ausnahme in Brasilien ist.

In viel zu wenigen Schulen werde die Blindenschrift Braille unterrichtet, bestätigt Markiano Charam. Und in der Mehrzahl seien es private Einrichtungen, in denen Schulgeld bezahlt werden muss. „Alphabetisierung ist aber die Voraussetzung für ein eigenständiges berufliches Leben“, betont der Präsident der gemeinnützigen Organisation Adeva für Blinde und Sehbehinderte (Associação de deficientes visuais e amigos).

Bei Adeva werden jährlich rund 300 Schüler in Braille unterrichtet, alle sind bereits erwachsen. „Nur Bücher vorgelesen zu bekommen, etwa vom Computer, reicht nicht. Sie selbst in Braille zu lesen, ist die Herausforderung“, betont Charam. Adeva bietet zudem Berufskurse, etwa als Mitarbeiter für Callcenter, für technische Berufe oder als Aushilfe in Apotheken an. Staatliche Einrichtungen, in denen Blinde und Sehbehinderte auf ein Berufsleben vorbereitet werden, gibt es kaum.

Umso wichtiger sind private Initiativen wie die Ballettschule von Fernanda Bianchini. Derzeit besuchen rund 380 Schülerinnen und Schüler, überwiegend Mädchen, dort den Tanzunterricht. Die meisten von ihnen kommen aus ärmeren Familien. Die Schule lebt ausschließlich von Spenden und vom Eintrittsgeld für Auftritte. Mit den Einnahmen werden die Lehrer bezahlt. In den Kursen  lernen körperlich und geistig Behinderte zusammen. Von Anfang an sei es ihr außerdem wichtig gewesen, dass zehn Prozent der Schüler keine Behinderung hätten, sagt Bianchini. Aufnahmeprüfungen gibt es keine, samstags wird offener Unterricht angeboten, an dem jede und jeder teilnehmen kann. In Bianchinis Schule wird Inklusion gelebt – davon ist die brasilianische Gesellschaft noch weit entfernt.

Einen Blindenhund kann sich kaum jemand leisten

Für Blinde ist das Leben in einer Großstadt wie São Paulo kompliziert und voller Widersprüche. In fast jedem Bus ist ein Platz für Blindenhunde ausgewiesen, doch kaum ein Blinder kann sich die Ausbildung und Anschaffung eines solchen Hundes leisten, die rund 100.000 Reais (etwa 25.000 Euro) kostet. Für viele Blinde ist es die größte Herausforderung, überhaupt zur Bushaltestelle zu gelangen, denn es gibt keine Leitsysteme und keine Signalampeln. Die Bürgersteige sind eine einzige Stolperfalle.

„Beim Tanzen bin ich noch nie gestürzt, aber auf der Straße“, erzählt Mariane Mayumi. Sie wohnt im äußersten Süden von São Paulo in einer einfachen Gegend. Zwei Stunden braucht sie täglich, um in die Ballettschule zu kommen. Immer ist sie auf die Hilfe von anderen angewiesen. „Inzwischen traue ich mich zu fragen“, sagt sie schüchtern. Dennoch kommt es zu merkwürdigen Situationen. „Manche denken, ich bin taub, und fassen mich einfach am Arm, um mir über die Straße zu helfen. Das erschreckt mich sehr“, sagt Mariane Mayumi.

Überhaupt ist die brasilianische Gesellschaft wenig aufgeklärt im Umgang mit blinden Menschen, weiß auch Physiotherapeut Everton Bispo, der in der Ballettschule als Freiwilliger arbeitet. „Blinde werden in Brasilien von der Gesellschaft als störend empfunden und ausgegrenzt“, sagt er. Im öffentlichen Straßenbild kommen sie nur selten vor. Vor allem die ärmeren Familien können sich eine Förderung ihres blinden Kindes nicht leisten. „Damit ist das Schicksal vieler Kinder besiegelt.“

Die Ballettschule ist ein geschützter Raum, der schon das Leben vieler Schülerinnen verändert hat. Bianchini erinnert sich an eine Aufführung ihrer Ballettkompanie, bei der auch ein befreundetes Paar im Publikum saß. In der Pause, als schon knapp eine Stunde vergangen war, seien beide auf sie zugekommen. „Fernanda, wann kommen denn endlich die blinden Tänzerinnen?“, hätten sie gefragt. „Aber die sind doch die ganze Zeit da“, lautete ihre Antwort.  „Das war für mich das schönste Geschenk“, sagt Bianchini. „Ich möchte den Applaus für meine Schülerinnen nicht aus Mitgefühl, sondern einzig und allein für ihr Können“, fügt sie hinzu. „Denn sie zeigen uns allen jeden Tag, dass es nichts Unmögliches gibt.“

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erschienen in Ausgabe 3 / 2019: Rassismus
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