Kaum noch Platz für Schmetterlinge

Artenschutz
Was dient der Natur mehr: abgetrennte Schutzgebiete oder eine Landwirtschaft, die Raum für die ursprüngliche Flora und Fauna übrig lässt?

Der Artikel ist zuerst in Englisch bei der Online-Plattform YaleEnvironment360 erschienen.

Es ist eine der wichtigsten Fragen im Naturschutz: Sollen wir die von uns genutzten Landschaften mit der Natur teilen, indem wir kleine Waldgebiete neu beleben und auf umweltfreundliche Kleinlandwirtschaft setzen? Oder sollten wir lieber weite Landstriche ausschließlich der Natur überlassen und die Landwirtschaft auf den bereits existierenden Äckern industrialisieren?

Der Streit, ob zum Schutz der Natur Land „eingespart“ oder „geteilt“ werden sollte, tobt, seit Wissenschaftler vor über zehn Jahren diese Begriffe geprägt haben. Der Ursprung des Konflikts hingegen dürfte fast ein halbes Jahrhundert zurückliegen: Damals erklärte Norman Borlaug, der Vater der sogenannten Grünen Revolution, dass die Produktion von mehr Nahrung pro Einheit Ackerland mittels Hochertragssorten mehr Fläche für Erholungsgebiete und Lebensraum für Tiere freimachen würde. Der US-amerikanische Biologe und Insektenforscher Edward Osborne Wilson griff das auf und legte im Jahr 2016 nach. In seinem Buch „Die Hälfte der Erde“ forderte er, die Schutzgebiete, die derzeit 15 Prozent der Erdoberfläche ausmachen, auf 50 Prozent zu erweitern.

Allmählich scheinen die Einsparer die Oberhand zu gewinnen. Sie zeigen, dass auf lokaler Ebene und auf kurze Sicht in der Regel mehr Arten erhalten werden, wenn der Naturschutz von der Landwirtschaft und anderer Landnutzung durch den Menschen getrennt wird. Kritiker wenden ein, die Einsparer beschäftigten sich zu wenig damit, wie nachhaltig solche Inseln der Biodiversität sind. Zudem bleibe die Frage außen vor, ob wir tatsächlich mehr Nahrungsmittel produzieren müssen.

Vogelvielfalt und Ackerbau

Einer der Wortführer der Einsparer ist Benjamin Phalan. Der Zoologe hat im Rahmen seines Studiums an der Universität Cambridge das Verhältnis zwischen den Ernteerträgen und der Zahl der Vogel- und Baumarten in den Wäldern von Ghana und den Überschwemmungsebenen des Ganges untersucht. Phalan hat festgestellt, dass die Biodiversität dort am größten ist, wo der Intensivanbau Raum für unbewirtschaftete Flächen lässt. Wird mehr Platz in Anspruch genommen und die Fläche mit der Natur geteilt, ist die biologische Vielfalt geringer – trotz wildtierfreundlicher Anbaumethoden.

Andere Studien sind zu ähnlichen Schlüssen gekommen. In einer Gegend im südlichen Uganda, in der hauptsächlich Bananen und Kaffee angebaut werden, war die Vogelvielfalt am größten, wenn der Ackerbau intensiv auf kleineren Flächen betrieben wurde. Dasselbe gilt für das Vorkommen von Vögeln und Mistkäfern in den kolumbianischen Anden sowie im Pampasgrasland im Süden von Brasilien und Uruguay.

Im Mai 2018 veröffentlichte Phalan eine kritische Übersicht dieser Studien. Darin kommt er zu dem Schluss, dass die meisten Arten in größeren Populationen vorkommen, wenn die Nahrungsmittelproduktion sich auf einen kleinen Raum beschränkt und der ursprünglichen Vegetation eine möglichst große Fläche überlasen wird. „Das gilt besonders für Arten mit geringer weltweiter Verbreitung, die oft am stärksten schutzbedürftig sind“, heißt es in dem Papier.

Autor

Fred Pearce

ist Journalist in England. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter „Land Grabbing: Der globale Kampf um Grund und Boden“ (München 2012). Der Artikel ist zuerst auf der Online-Plattform „YaleEnvironment360“ (https://e360.yale.edu) erschienen.
Das Problem bei der Landteilung bestehe darin, so Phalan, dass jede Art von Landwirtschaft schlecht für die Natur sei. Daran änderten auch naturverträglichere Anbaumethoden nicht viel: Agrarforstwirtschaft sei kein Ersatz für echte Wälder; Pampasgrasland verliere selbst bei geringer Beweidung rasch Arten. Und auch der Ökolandbau schütze Insekten nicht besser als die konventionelle Landwirtschaft, verbrauche dabei aber mehr Land.

Das Einsparen von Flächen allein reicht nicht aus

Doch so einfach ist es nicht. Die Biologin Claire Kremen von der Universität Berkeley widerspricht den Einsparern. Sie zählt zu den führenden Verfechterinnen des wildtierfreundlichen Landbaus und hält die von Phalan zitierten Forschungsergebnisse für irreführend. Es handele sich um Momentaufnahmen, in denen „die langfristigen Folgen der Isolierung von Arten in Schutzgebieten, die von naturfeindlichen Systemen umgeben sind, außer Acht gelassen werden“, sagt sie. Andere Forschungsarbeiten zeigten, dass „sogar sehr weiträumige Schutzgebiete Arten verlieren, wenn sie über einen längeren Zeitraum isoliert bleiben“. Langfristig werde deshalb das Einsparen von Flächen allein nicht ausreichen.

Im Oktober 2018 erschien in der Zeitschrift ­„Science“ ein von Kremen und ihrer Kollegin Adina Merenlender verfasstes Manifest zum „Naturschutz auf bewirtschafteten Flächen“. Dass intensive Landwirtschaft mehr Land für den Naturschutz bedeute oder die Weltbevölkerung unbegrenzt ernähre, sei ein Trugschluss, heißt es dort. „Um das große Artensterben und den Zusammenbruch des Ökosystems zu verhindern, müssen wir den Schutz der Artenvielfalt in die von uns genutzte Landschaft integrieren.“

Das Manifest provozierte wiederum eine kämpferische Antwort der am kalifornischen Breakthrough Institute angesiedelten sogenannten Ökomodernisten. Sie halten den Teilern vor, sich in „magischem Denken“ zu üben. Der Ökolandbau erfordere ein Viertel mehr Ackerfläche als die industrialisierte Landwirtschaft, um dieselbe Menge an Nahrungsmitteln zu erzeugen, schrieb etwa Linus Blomqvist. Das seien rund 300 Millionen Hektar Land, also annähernd die Fläche von Westeuropa. Als Folge würde eine riesige Fläche potenzieller Wildnis verlorengehen.

Eine solche Nullsummenrechnung ist allerdings selbst unter den Einsparern umstritten. So argumentieren mehrere der von Phalan zitierten Autoren, dass die Intensivierung der Landwirtschaft nur dann Land freigebe, wenn noch nicht bewirtschaftete Flächen streng geschützt würden. Anderenfalls könnte das Ergebnis eine landwirtschaftliche Version des nach dem britischen Ökonomen William Jevons benannten Jevons-Paradoxons sein. Jevons hatte im 19. Jahrhundert festgestellt, dass die Entwicklung leistungsfähigerer Maschinen die Verbrennung von Kohle nicht etwa verringert, sondern drastisch erhöht hatte, weil sie den Anstoß zur industriellen Revolution gegeben hatte. Folgt man diesem Paradigma, wird eine intensivierte Landwirtschaft zwangsläufig dazu führen, dass mehr Fläche unter den Pflug genommen wird.

Phalan räumt in seiner Kritik ein, dass die durch die Grüne Revolution erzielte Flächenersparnis geringer ausgefallen ist, als deren Vordenker Borlaug das vorhergesagt hat. Statt der erwarteten 560 Millionen Hektar seien nur rund 20 Millionen Hektar eingespart worden. „Die Hochertragssorten wurden eher dazu benutzt, mehr und günstigere Nahrungsmittel zu erzeugen als Fläche für die Natur einzusparen“, schreibt Phalan. Das kann man in Brasilien gut beobachten. Dort wurden in den vergangenen Jahrzehnten große Teile des Amazonas-Regenwalds und der Cerrado-Savannen in intensiv genutztes Ackerland umgewandelt – allerdings nicht zur Versorgung der brasilianischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, sondern für den Export von Rindfleisch und Sojabohnen, der einer kleinen Gruppe reicher Landbesitzer Wohlstand und politischen Einfluss gebracht habe, so Phalan.

Auch der überwiegende Teil der riesigen Maisanbaufläche in den USA diene „verschwenderischen Zwecken wie etwa der Nutzung als Biokraftstoff oder der Viehwirtschaft“. Die Biologin Claire Kremen kommt zum Schluss: Die Daten ließen nicht erkennen, „dass dank der Intensivlandwirtschaft in den vergangenen Jahren Flächen eingespart wurden“.

Die Natur hält sich nicht an die Grenzen von Nationalparks

In der Debatte scheinen beide Seiten zu einem gemeinsamen Schluss zu kommen: Damit die Intensivierung der Landwirtschaft zum Naturschutz beitragen kann, muss sichergestellt sein, dass die eingesparten Flächen dem profitorientierten Anbau von Agrarrohstoffen entzogen bleiben. Kremen zufolge bleibt jedoch die Frage offen, wie effektiv Inseln des Naturschutzes inmitten einer von industriellen Anbaumethoden beherrschten Landschaft sein können.

Die Natur hält sich nicht an die Grenzen von Nationalparks. Ob Wanderelefanten in Kenia oder amerikanische Monarchfalter: Viele Tiere leben vorwiegend in menschengemachten Agrarlandschaften. In einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie argumentiert Stephen Kearney von der australischen University of Queensland, dass es nicht ausreiche, „Land zum Schutzgebiet zu erklären und dann sich selbst zu überlassen“. Dadurch bewahre man lediglich drei Prozent der Arten vor sämtlichen Bedrohungen.

Kremen und Merenlender gehen noch weiter: „Wenn Schutzgebiete durch naturfeindlich genutzte Flächen voneinander getrennt und einem sich rasch verändernden Klima ausgesetzt sind, verlieren sie weiterhin Arten“, schreiben sie. Manche Wissenschaftler halten das Konzept der inselartigen Naturschutzgebiete deshalb schon jetzt für gescheitert. Obwohl deren Gesamtfläche in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist, haben wild lebende Wirbeltierpopulationen innerhalb eines halben Jahrhunderts um 60 Prozent abgenommen. In Deutschland wurde seit 1990 ein Rückgang der Insektenbiomasse um 76 Prozent verzeichnet – obwohl die Naturschutzgebiete im selben Zeitraum ausgeweitet wurden.

Um die Artenvielfalt zu retten, brauche es eine Kombination aus Naturschutzgebieten und einer großflächigen naturnahen Landwirtschaft, glaubt Kremen. Ein Beispiel für einen solchen „Naturschutz auf bewirtschafteter Fläche“ sei der mesoamerikanische biologische Korridor, der sich von Mexiko bis nach Panama erstreckt. Die Initiative verfolgt das Ziel, mehr als 650 kleine Schutzgebiete über ein Netz aus Waldstücken entlang von Flussufern sowie quer über Weiden und Felder miteinander zu verbinden.

Andere Beispiele seien die Renaturierung von Mangroven in Asien oder die kommunale Landverwaltung in Australien entlang den Great Eastern Ranges von Cairns bis nach Melbourne. Und quer durch Europa fänden Fleischfresser, insbesondere der Wolf, durch die Wiederaufforstung früheren Ackerlandes neuen Lebensraum.

Der Streit zwischen den Einsparern und den Teilern eröffnet zudem eine Debatte über die Art von Umwelt, in der wir leben wollen. Kremen argumentiert, dass durch das Teilen auch untere Einkommensschichten in einer städtischen Umgebung Zugang zu unbebauten Flächen und der Natur erhielten. Die Einsparer betonen hingegen, dass hochverdichtete städtische Räume notwendig seien, um größere Flächen offen und frei von Menschen zu halten.

Ökozentrische Einsparer, anthropozentrische Teiler

Der Zoologe Phalan schreibt, hinter der wissenschaftlichen Debatte verberge sich zuweilen eine eher ethische Debatte. Die Einsparer wollten die Natur um ihrer selbst willen schützen, seien also „ökozentrisch“. Die Teiler bezeichnet er dagegen als „anthropozentrisch“: Sieorientierten sich an den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen. Die Einsparer kümmere es unter Umständen nicht, ob auf den intensiv bewirtschafteten Äckern profitable Agrarrohstoffe oder Nahrungsmittel für die Hungernden angebaut werden: Hauptsache, es würden Naturflächen frei. Den Teilern gehe es hingegen auch um eine faire Verteilung zwischen Menschen.

In den vergangenen zwei Jahren ist ein neuer Streit über das bestehende System der Nahrungsmittelversorgung entbrannt, das für einen Großteil des Naturverlusts verantwortlich ist. Die Teiler werfen den Einsparern vor, sie verstünden weder die Angebots- noch die Nachfrageseite der Nahrungsmittelproduktion. So sei die Vorstellung, dass großflächige kommerzialisierte Intensivlandwirtschaft effizienter und produktiver sei, nicht immer richtig. Vincent Ricciardi von der University of British Columbia berichtete, dass Kleinbauern mit weniger als zwei Hektar Land auf gerade mal 24 Prozent der gesamten Agrar­fläche 30 bis 40 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel produzieren. Das sei möglich, weil sie überwiegend Nahrungsmittel und kaum nicht essbare Pflanzen wie etwa Baumwolle anbauten.

Zudem setzen viele Kleinbauern auf schonendere Anbaumethoden, die die ursprüngliche Vegetation miteinbeziehen. Dabei vertrauen sie auch auf die Bestäubung durch Bienen und die Schädlingsbekämpfung durch Vögel. Würden alle Kleinbauern auf „teilende“ Methoden setzen – etwa die Agrarforstwirtschaft oder den Anbau von mindestens zwei Feldfrüchten in unmittelbarer Nachbarschaft –, könnten sie mehr Natur bewahren und gleichzeitig die weltweite Nahrungsmittelproduktion steigern, glaubt die Biologin Kremen.

Der Anstoß, die Intensivlandwirtschaft im Sinne der Einsparer als Naturschutzinstrument zu akzeptieren, geht zum Teil auf Vorhersagen der Vereinten Nationen (UN) zur künftigen Nachfrage nach Lebensmitteln zurück. Die UN haben prognostiziert, dass die globale Nahrungsmittelproduktion bis zum Jahr 2050 verdoppelt werden müsse. Neuere Forschungsarbeiten deuteten jedoch darauf hin, dass die Vorhersage „maßlos überzogen“ sei, erklärt Fabrice DeClerck von Bioversity International, einer Forschungseinrichtung für Agrobiodiversität mit Sitz in Rom.

Wir produzieren jetzt schon genug Nahrungsmittel, um eine Weltbevölkerung von mehr als zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Davon wird ein Drittel weggeworfen und ein weiteres Drittel dient als Viehfutter – keine effiziente Methode, die Welt zu ernähren. Statt mehr Lebensmittel zu produzieren, sollten wir weniger wegschmeißen und unseren Fleischkonsum reduzieren.

Das Potenzial, das vorhandene Land zu teilen, ohne der Natur ihre letzten unberührten Gebiete zu nehmen, ist größer als gedacht: „Wir können die Hälfte einsparen und den Rest teilen“, sagt DeClerck.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2019: Erde aus dem Gleichgewicht
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