Gassenhauer auf Limas Straßen

Hildegard Willer

Edilma Betancourt und ihr Mann Diego Delgado schmettern Boleros für die Passanten – und für ihre sechs Monate alte Tochter Sofia.

Musiker aus Venezuela
In Venezuela waren sie Berufsmusiker in Orchestern. Doch seit ihr Lohn nicht mehr zum Leben reicht, wandern viele klassisch ausgebildete Musiker nach Peru aus – und beginnen dort als ­Straßenmusiker.

Als das Leben in Caracas immer schwieriger wurde, Raubüberfälle zunahmen, Proben ausfielen, weil es keinen Strom gab oder der Bus nicht mehr fuhr, als  ihr Monatslohn gerade noch für einen Karton Eier reichte, da beschloss Cecilia Tuesta, die erste Geigerin im Venezolanischen Symphonieorchester Simon Bolivar, nach Peru auszuwandern. Aus dem Land waren ihre Großeltern väterlicherseits fast 70 Jahre davor aufgebrochen. Ein Angebot für eine feste Stelle in einem neu gegründeten Symphonieorchester in Lima, Peru, gab den Ausschlag. Cecilia Tuesta kaufte mit ihrem restlichen Geld ein Flugticket nach Lima und betrat Silvester 2017 mit etwas Wehmut im Herzen, aber auch mit Vorfreude auf ihr neues Leben, peruanischen Boden.

Cecilia Tuesta ist ein Kind des „Sistema“, des weltberühmten venezolanischen Musikschulprogramms für Kinder vor allem aus armen Gesellschaftsschichten. Rund eine Million Kinder und Jugendliche haben in Venezuela diese Musikschulen absolviert, haben in Orchestern gespielt, in Chören gesungen und wiederum jüngeren Kindern die Begeisterung für klassische Musik weitergegeben.

Gegründet wurde „El Sistema“ 1975 vom venezolanischen Pianisten, Dirigenten und Politiker José Antonio Abreu, der im vergangenen Jahr gestorben ist. Zur Blüte kam das Programm zu Beginn der Präsidentschaft von Hugo Chávez ab dem Jahr 1999, als die Erdöldollars sprudelten und Musikschulen und Orchester im ganzen Land am Leben hielten. El Sistema hatte neben seinem musikalischen immer auch den sozialen Anspruch, Kinder marginalisierter Gesellschaftsschichten mittels klassischer Musik von der Straße zu holen und zu fördern. „El Sistema war mein Zuhause, meine Freunde, da wo ich alles über Musik und Orchester lernte“, erinnert sich die heute 32-jährige Cecilia Tuesta. „Aber das Venezuela, das ich kannte, existiert heute nicht mehr“, fügt sie wehmütig hinzu.

Arbeit im großen informellen Sektor Perus

Über vier Millionen Venezolaner haben laut den jüngsten Zahlen des UN-Flüchtlingshochkommissariats ihr Land verlassen, die meisten in den letzten vier Jahren  – 860.871 davon in Richtung Peru. Das Andenland ist damit nach Kolumbien das Land mit der zweithöchsten Anzahl von Migranten und Flüchtlingen aus Venezuela. Das liegt in erster Linie an der bis vor dem 31. Oktober 2018 geltenden Möglichkeit, in Peru rasch eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Venezolaner, die nach diesem Datum in Peru eingereist sind, müssen entweder vorher auf dem peruanischen Konsulat in Venezuela ein Visum beantragen – oder, was die meisten tun, bei der Einreise Asyl beantragen. Dabei finden die Venezolaner vor allem schlecht bezahlte Arbeit im großen informellen Sektor Perus – als Straßenhändler, als Kellner, als Verkäuferinnen. Oder eben als Musiker. In eines der fünf professionellen Symphonieorchester des Landes schaffen es aber nur wenige.

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Mit klammen Fingern holt Bany Graterol seine Violine aus dem Kasten, klemmt sie sich unters Kinn und streicht mit dem Bogen zaghaft über die Saiten, bis er zufrieden ist mit dem Klang. Dann legt er los. Zusammen mit seinen Landsleuten Efrain Escalona am Cuatro, einer kleinen, viersaitigen Gitarre, und Keiber Gonzalez am Fagott spielt er die Gassenhauer, die in ganz Lateinamerika dieselben sind: einen Walzer, die Habanera aus der Oper Carmen oder einen gefühlvollen Bolero.

Die Wintermonate in Lima sind kalt und neblig-feucht. Dennoch bleiben Passanten vor den Musikern stehen oder setzen sich auf eine Bank, um ihnen länger zuzuhören. „Diese Art von Musik ist neu auf unseren Straßen“, sagt eine rund 60-jährige Zuhörerin, „wirklich sehr schöne Musik.“ In Peru gibt es so gut wie keine klassische musikalische Bildung in den öffentlichen Schulen. Die meisten peruanischen Volksmusiker haben nach Gehör gelernt und können keine Noten lesen.

Als die Passantin erfährt, dass die Musiker aus Venezuela kommen, ändert sich ihre Körperhaltung. Neben der Überraschung wird ein Hauch von Ablehnung spürbar. Sie verkörpert damit eine Einstellung, die sich in der peruanischen Gesellschaft zunehmend verbreitet. Nach einer anfänglichen Solidaritätswelle sehen heute fast 80 Prozent der Peruaner die Venezolaner als unerwünschte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, und 44 Prozent halten die Mehrheit der Venezolaner für unehrlich und nicht vertrauenswürdig, wie aus einer im Februar 2019 veröffentlichten Umfrage der katholischen Universität Perus in Lima hervorgeht.

Der 26-jährige Geiger Bany Graterol ist im April 2018 nach einer einwöchigen Busreise in Lima angekommen. Er hat schon allerlei erlebt. „Wenn ich im Bus höre, wie jemand über die Venezolaner schimpft, muss ich mich ganz schön zusammennehmen, um nichts zu sagen“, sagt er. Aber auch erfreuliche Momente gibt es: „Einmal kam die Polizei und wollte uns das Spielen verbieten. Da haben unsere Zuhörer, die Passanten, uns verteidigt.“

Bany Graterol und seine zwei Mitmusiker sind ebenfalls Kinder von El Sistema. In Venezuela hat er mit dem Nationalorchester Tourneen in der ganzen Welt absolviert. In Peru spielt er auf der Straße und zuweilen als Aushilfsmusiker im peruanischen Jugendsymphonieorchester.

Hedes Orchester brauche halt nur eine Tuba

Dessen Dirigent Pablo Sabat hat selbst einen Teil seiner musikalischen Ausbildung in Venezuela genossen und kennt das musikalische Leben beider Länder. „Venezuela hat sehr viele Musiker ausgebildet, das kann man mit Peru gar nicht vergleichen.“ Zugleich war es in Venezuela früher viel einfacher als heute in Peru, den Sprung vom Laienmusiker in eines der vielen mit Erdölgeldern unterhaltenen Berufsorchester zu schaffen. „Ich bekomme regelmäßig Anfragen von venezolanischen Musikern, die kostenlos mitspielen wollen, um nicht aus der Übung zu kommen. Für den Lebensunterhalt machen die alles Mögliche, wir haben einen, der in der Bäckerei arbeitet“, sagt Sabat. Derzeit stamme etwa ein Viertel der Musiker des 34-köpfigen Jugendorchesters aus Venezuela. Die venezolanischen Musiker seien eine kulturelle Bereicherung für Peru. Sabat betont aber auch, dass Peru ebenfalls sehr gute Musiker hervorbringe.

Viele der venezolanischen Musiker, die nicht im Orchester untergekommen sind, findet man in Lima vor dem schicken Einkaufszentrum La Rambla im Stadtteil San Borja. Alle 30 Meter spielt ein anderer: Da ist der Saxofonist; etwas weiter singt einer zur Gitarre, direkt vor dem Eingang spielt Kleiver Echenique mit der Tuba den Gassenhauer „Bésame mucho“. Auch er ist ein Kind des Sistema, doch jedes Orchester brauche halt nur eine Tuba, da habe er nicht so viele Chancen. Dennoch ist der 23-Jährige mit den kurzen Haaren frohen Mutes. „Ich wurde gut aufgenommen hier in Peru, kann weiterhin Musik machen und davon leben.“ Bis zu acht Stunden bläst er pro Tag in sein Instrument; die Passanten lohnen es ihm, in seinem Becher haben sich einige Münzen und Scheine angesammelt.

Eine Ecke weiter bereiten sich Diego Delgado und seine Frau Edilma Betancourt auf ihren Auftritt vor. Zuerst nimmt Delgado seine sechs Monate alte Tochter Sofia aus dem Kinderwagen und setzt sie in einen Tragegurt vor seinem Bauch. Edilma, die Mutter, packt derweil die Gitarre aus. Zweistimmig schmettern sie einen der in ganz Lateinamerika beliebten Boleros in die Welt. Sofia quiekt vergnügt ihrem singenden Vater ins Gesicht.

Seit einem guten Jahr ist das Ehepaar in Peru. Anders als die meisten Musiker stammen sie nicht aus El Sistema, sondern haben als ausgebildete Laborkräfte gearbeitet. Aber ihre Berufsabschlüsse werden in Peru nicht anerkannt, und so haben sie ihr Hobby, die Musik, zum Beruf gemacht. „Am Anfang war es ein wenig schwierig, wenn Leute kamen und uns fast mitleidig angeschaut haben. Aber heute sind wir selbstbewusster, wir verrichten eine anständige Arbeit.“ Mit ihren Liedern verdienen sie genug, um die Miete für ihr Zimmer, das Essen und die Windeln für Sofia zu bezahlen – was in ihrer Heimat Venezuela nicht mehr möglich war.
„Ich hatte keine Ahnung davon, dass es so viele tolle venezolanische Musiker gibt“, sagt Lucila García Calderon. Die Peruanerin ist bei den Sozialwerken der peruanischen Jesuiten für das Fundraising zuständig. Und da kam sie auf eine neue Idee: Benefizkonzerte mit venezolanischen und peruanischen Musikern, mit deren Erlös wiederum die Migranten‑ arbeit der Jesuiten in Peru finanziert werden kann. Das Flüchtlingswerk der Jesuiten ist einer der wichtigen Partner des UN-Flüchtlingskommissariates.

Am 7. August 2019 fand das Benefizkonzert „Vibramerica“ zum zweiten Mal statt.  Dieses Mal im 2000 Sitze zählenden Nationaltheater, das fast vollständig gefüllt war. Die 65 Musiker begeisterten mit einem anspruchsvollen Programm peruanischer und venezolanischer zeitgenössischer Komponisten. Zu Beginn spielte das Orchester die peruanische und die venezolanische Nationalhymne – bei den venezolanischen Zuhörern lief da so manche Träne über die Wangen, als sie ihre Nationalhymne sangen. 

Cecilia Tuesta, die Geigerin aus Caracas, hat den künstlerischen Teil des Benefizkonzertes übernommen. Sie musste am eigenen Leib erfahren, wie es ist, als Migrantin auf einmal mittellos dazustehen. Denn das Symphonieorchester, das sie mit der Aussicht auf eine feste Stelle nach Lima gelockt hatte, erwies sich als Betrug. „Wir spielten einige Konzerte und wurden nie bezahlt.“ Auf einmal stand sie im fremden Lima auf der Straße.

Doch Cecilia Tuesta hatte Glück und fand Unterschlupf bei einem peruanischen Musikerehepaar aus demselben Orchester. Mittlerweile, zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Lima, hat Tuesta Fuß gefasst, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Unterstützung ihrer peruanischen Musikerfreunde. Heute spielt sie im peruanischen Jugendsymphonieorchester, hat mehrere Privatschüler und führt zusammen mit ihren peruanischen Freunden eine kleine Produktionsfirma für klassische Konzerte.

„Auf der Bühne spielt die Nationalität keine Rolle, da sind wir alle gleich“, sagt Cecilia Tuesta. Sie möchte in Peru weitergeben, was sie im Sistema in Venezuela gelernt hat: die Liebe zur Gemeinschaft, die Werte, der Glaube daran, dass man es schaffen kann.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2019: Aufbruch am Horn von Afrika
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