„Hätte ich den Fahrstuhl genommen, würde ich hier nicht sitzen“

Knut Henkel

Freiwillige der Opferorganisation Movice stellen im März 2019 vor dem Justizpalast in Bogotá Porträts von Menschen auf, die von staatlichen Sicherheitskräften ermordet worden sind.

Kolumbiens Justizsystem
In Kolumbien häufen sich Angriffe auf Justizbeamte, vor allem von Paramilitärs und Drogenhändlern. Die Richterin Ana Joaquina Cormanes hat das am eigenen Leib erlebt.

Edificio Galaxia“ steht an dem weißen mehrstöckigen Bürogebäude an der Calle 22 in Santa Marta,  einer Stadt an der Karibikküste Kolumbiens. Darunter ist die Tafel mit dem Logo der Generalstaatsanwaltschaft Kolumbiens angebracht. Zwei Polizisten in schusssicheren Westen stehen lässig auf der Treppe vor dem Gebäude und blicken in ihre Mobiltelefone. Hin und wieder werfen sie einen Blick auf die Passanten, mustern die Besucher, die das Gebäude betreten und eines der Büros im Erdgeschoss anpeilen. Im ersten Stock, an dessen Treppe ein privater Sicherheitsdienst Ausweise und Taschen kontrolliert, hat Ana Joaquina Cormanes ihr Büro. Die 58-jährige Richterin ist für Kapitalverbrechen zuständig und steht im Vorzimmer zu ihrem Büro, wo mehrere Frauen mit der Koordination von Terminen und dem Kopieren und Archivieren von Unterlagen beschäftigt sind.

„Das ist mein Team“, erklärt die quirlige Frau mit der mattschwarzen Brille und dem kurzen rötlich-blonden Haarschopf und weist den Weg in ihr kleines Büro. Akten türmen sich auf dem Schreibtisch, ein Computer, zwei Regale und ein rollbarer Metallschrank – mehr steht nicht in dem spartanisch eingerichteten Raum. Die schusssichere Weste, die an einem Haken an der Tür hängt, fällt ins Auge, als Ana Joaquina Cormanes an ihrem Schreibtisch Platz nimmt. „Die hängt dort seit fast fünf Jahren. Ich habe sie nur einmal getragen – sie ist einfach zu schwer“, sagt die Richterin mit einem entschuldigenden Schulterzucken. 

Vor fünf Jahren hat Richterin Cormanes die erste Morddrohung erhalten, seit fünf Jahren ist die Angst ihr ständiger Begleiter. „Ich habe es mit Kapitalverbrechen zu tun: Mord, Korruption, Erpressung sowie Drogendelikten. Santa Marta ist eine Drehscheibe – von hier wird Kokain, aber auch Marihuana aus der Sierra Nevada de Santa Marta ins Ausland geschmuggelt“, erklärt sie. In das Drogengeschäft sind etliche Banden involviert, oft mit paramilitärischem Hintergrund

Die ersten Morddrohungen kamen 2015

Autor

Knut Henkel

ist freier Journalist in Hamburg und bereist regelmäßig Lateinamerika und Südostasien.
Gleich mehrere Anführer, Comandantes, von Paramilitärs hat Cormanes verurteilt. Das könnte der Grund dafür sein, dass sie am 11. März 2015 die erste Morddrohung von den Águilas Negras erhielt, einer der paramilitärischen Organisationen. „Ein oder zwei Tage später wurde ich von einem Motorradfahrer bis nach Hause verfolgt, und wäre ich wie gewöhnlich in dem Außenfahrstuhl aus Glas in mein Apartment gefahren, statt die Treppe zu nehmen, würde ich hier nicht mehr sitzen“, erzählt die Juristin. 

Getroffen hat die engagierte Juristin vor allem die Untätigkeit ihres Arbeitgebers. Sie musste klagen, um das gepanzerte Fahrzeug ihrer Dienststelle in Anspruch nehmen zu können; und auch der Polizist, der sie später begleiten sollte, wurde Ana Joaquina Cormanes erst auf juristischen Druck zugeteilt. Von der Nationalen Schutzeinheit (Unidad Nacional de Protección, UNP), die landesweit bedrohte Menschen schützen soll – von Politikerinnen bis zu Landrechtsaktivisten –, habe sie nach der ersten Morddrohung lediglich die schusssichere Weste, ein Mobiltelefon und einen Signalknopf erhalten, den sie im Notfall hätte aktivieren sollen. Die UNP habe sie lediglich als „grundsätzlich extrem bedroht“, aber nicht als „extrem gefährdet“ eingestuft. Das kann Cormanes nicht nachvollziehen, denn schließlich hat sie nicht nur eine, sondern mehrere Morddrohungen erhalten. Zudem wurden mehrere Anschläge auf sie verübt, der letzte im Juni 2018.

Von den Kollegen im Stich gelassen

Die Untätigkeit ihrer Dienststelle und die mangelnde Solidarität von Kollegen haben Cormanes tief getroffen. „Kollegen, aber auch Freunde haben mir ins Gesicht gesagt, dass ich eine Zeitbombe bin. Dass sie sich mit mir nicht mehr sehen lassen wollen“, sagt sie mit leiser Stimme. Im Stich gelassen fühlt sie sich bis heute; sie habe lernen müssen, mit der Bedrohung zu leben, und sich selbst um ihren Schutz gekümmert. 

Geholfen hat ihr dabei FASOL, der Solidaritätsfonds für kolumbianische Richter. Die in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá ansässige Stiftung, die vom Deutschen Richterbund und dem katholischen Hilfswerk Misereor finanziert wird, hilft in ganz Kolumbien bedrohten Richterinnen, Staatsanwälten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ermittlungsbehörden. „Ana Joaquina Cormanes haben wir eine Psychologin zur Seite gestellt, sie bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegenüber dem Arbeitgeber beraten und bei der UNP darauf gedrängt, der Richterin Leibwächter und ein gepanzertes Fahrzeug rund um die Uhr zur Verfügung zu stellen“, sagt FASOL-Direktor Carlos Ojeda. 

Der 37-Jährige war mehrfach in Santa Marta und hat im November 2017 ein Treffen von Cormanes mit drei Richterinnen und Richtern einer Delegation des Deutschen Richterbundes in Bogotá arrangiert, um auf ihre unhaltbaren Arbeitsbedingungen hinzuweisen. Nach der Morddrohung im Frühjahr 2015 hatte sich die Richterin hilfesuchend an die Polizei gewandt. Damals habe sie nicht weiter gewusst, sagt Cormanes. Eine Polizeioffizierin habe ihr vorgeschlagen, ihr Büro in die Polizeizentrale von Santa Marta zu verlegen, und sie habe angenommen. Dort stand ihr Schreibtisch bis September 2018, bis ihr Richterkollege dann aufgrund der besseren Infrastruktur den Umzug ins Haus der Staatsanwaltschaft veranlasste.

Immer wieder gibt es Attentate auf Justizangestellte

Keine Sekunde habe sie damals daran gedacht, dass der Umzug in die Polizeistation auch zum Bumerang werden könnte, denn Prozesse gegen korrupte Polizeibeamte sind in Kolumbien an sich nichts Besonderes. Die Drohungen gegen sie kamen denn auch nicht aus der Polizei, sondern von Paramilitärs, die in das Drogengeschäft verwickelt sind. 

Carlos Ojeda hat damals befürchtet, Cormanes könnte mit dem Umzug ihre Unabhängigkeit als Richterin verlieren. „Wir brauchen eine unabhängige Justiz in Kolumbien und dafür muss die persönliche Sicherheit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Justizsektor garantiert werden“, fordert er. Sein Vater, ein Richter, wurde bei einem Bombenanschlag der FARC-Guerilla 1991 ermordet. Kein Einzelfall: In Kolumbien hat es immer wieder Attentate, Entführungen und Morddrohungen gegen Justizangestellte gegeben – vor allem in den 1980er und 1990er Jahren. 

Sechs Morde im Jahr 2018

Erschreckend ist jedoch, dass die Zahlen drei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen FARC-Guerilla und Regierung wieder nach oben weisen. Sechs Morde und fünf Attentate hat FASOL im Jahr 2018 registriert, zwei Morde und fünf Attentate waren es zwischen Januar und Mai 2019; die Zahlen für das ganze vergangene Jahr sind noch nicht  freigegeben. „Der letzte Mord datiert vom 23. Dezember 2019. In Cali wurde der Staatsanwalt Alcibiades Libreros Varela auf offener Straße erschossen. Er war auf Bandenkriminalität spezialisiert und vieles deutet darauf hin, dass das Attentat als Raubmord getarnt wurde“, so Carlos Ojeda. Er fordert genauso wie die Justizgewerkschaft Asonal Judicial mehr Schutz und mehr Personal für die Justiz in Kolumbien. Doch dafür fehlen laut der Regierung in Bogotá die Mittel. 

Das hat auch Ana Joaquina Cormanes immer wieder zu hören bekommen. „Ich habe keine Hoffnung, dass die Justiz in Kolumbien unter diesen Bedingungen ihrer Aufgabe gerecht werden kann. Ich werde noch bis zu meiner Pensionierung Urteile sprechen und gehe dann zu meiner Tochter nach Wales“, sagt die Richterin. Sie sei es leid, in einem Land zu leben, wo es am politischen Willen zum Frieden fehle.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2020: Willkommen – oder nicht?
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