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Michele Tantussi/Reuters

Jeder für sich: Das Kabinett im März 2020 während einer Parlamentssitzung. Zu Fragen der Nachhaltigkeit stimmen sich die Ressorts kaum ab.
 

Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung
Ein Ausschuss, der nicht steuert, Ressortpolitik im eigenen Silo, nichtssagende Antworten auf Fragen der Opposition: Fachleute halten die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung für einen Reinfall.

Bundeskanzlerin Angela Merkel begann ihre Regierungserklärung im Herbst 2015 vor prall gefüllten Bundestagsreihen mit einer Zahl: Knapp 60 Millionen Menschen seien weltweit auf der Flucht. Es war das Jahr, in dem knapp 900.000 Menschen in Deutschland Schutz suchen würden, und weite Teile der Rede kreisten um die dafür erforderlichen „Kraftanstrengungen“. 

Wenige Tage vor dem UN-Gipfel im September 2015, der die Agenda 2030 und die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) verabschiedete, sagte Angela Merkel aber auch, die SDGs seien ein Lösungsentwurf, um Probleme wie Hunger und Armut „als Ganzes“ anzugehen. Die Flüchtlingskrise zeige wie kein anderes Thema, wie notwendig der von der Agenda 2030 gewählte Ansatz sei, sagte Merkel. „Sie kann auch als globaler Plan zur Verringerung von Fluchtursachen gesehen werden.“

Fünf Jahre später kommen weit weniger Geflüchtete nach Deutschland, aber weltweit ist ihre Zahl gestiegen: auf 70 Millionen. Die Ursachen sind geblieben, etwa Konflikte um knappe Ressourcen wie Land und Wasser oder die Folgen des Klimawandels. Fünf Jahre nach Verabschiedung der SDGs ist unübersehbar, dass die in der Agenda 2030 angelegte grundlegende Transformation auch in Deutschland (und Europa) vernachlässigt wurde: Klimaschutz, der Umbau der Energieversorgung und der Agrar-, Verkehrs- und Rohstoffpolitik müssten viel energischer angegangen werden. 

Die Bundesregierung hat die Agenda 2030 zum Leitmotiv ihres Handelns erklärt, zum Maß aller Dinge in sämtlichen Politikfeldern. Stellungnahmen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft, aber auch vom Bundesrechnungshof sprechen indessen eine andere Sprache: Demnach wird den Nachhaltigkeitszielen in Deutschland nicht genug Gewicht eingeräumt. 

Verteilungskämpfe und Erkenntnishürden

„Die Agenda hat noch nicht die Relevanz, die ihr für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zukommen müsste“, sagt Imme Scholz, die stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE). Gemessen an den selbst gesetzten Indikatoren hinke deutsches Handeln hinterher, etwa in der Energie- und der Klimapolitik, der Förderung einer Kreislaufwirtschaft und von nachhaltigen Ernährungssystemen oder dem Schutz der Biodiversität. „Oft stehen erhebliche Konflikte und Verteilungskämpfe im Weg – und immer noch Erkenntnishürden. Es wird aber nicht besser, wenn man es liegen lässt“, sagt Scholz.

Strukturell hat die Bundesregierung durchaus Vorsorge getroffen. In einem gedachten Organigramm deutscher Nachhaltigkeitspolitik thront in der Mitte das Bundeskanzleramt mit dem beauftragten Minister Helge Braun. Das Amt ist federführend zuständig für die nachhaltige Entwicklung auf nationaler Ebene. Als Fundament für die Umsetzung der 17 Agendaziele hat die Bundesregierung die Nachhaltigkeitsstrategie reformiert: Sie steckt nun den Rahmen mit 66 eigenen Zielen, vielen Schwerpunkten und Prioritäten ab. Alle Ministerien sind gehalten, diese Ziele in eigener Regie und gemeinsamer Verantwortung für das große Ganze zu erreichen. 

Autorin

Marina Zapf

ist Berlin-Korrespondentin von „welt-sichten“.
Allerdings, so monierte 2019 der Rechnungshof, seien dies nur notwendige Voraussetzungen für ein kohärentes Handeln. In der Praxis gebe es keine systematische Abstimmung unter dem Dach des Kanzleramtes, um die Einzelinteressen der Ministerien politisch in Einklang zu bringen, moniert der Rechnungshof etwas verklausuliert. Das Kanzleramt müsse viel energischer Ressortstrategien mit Nachhaltigkeitsbezug untereinander abstimmen, konkretisieren und Prioritäten setzen. Kaum besser benoten die Prüfer den eigens geschaffenen Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung. Der treffe sich zwar regelmäßig, handle aber nicht strategisch und sorgfältig genug. Laut Auftrag betreiben die Ministerien darin gemeinsam Nachhaltigkeitspolitik, so wie Merkel es in ihrer Regierungserklärung angesagt hatte: Man müsse „wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte gleichermaßen ins Auge nehmen“. 

Doch im Alltag betreibt jedes Ressort weiter Politik im eigenen Silo. Das zentrale Steuerungsorgan der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie steuert nicht, zumindest nicht erkennbar. Ministerien erstellen für das Gremium alle drei bis vier Jahre Ressortberichte, die Zielkonflikte und Wechselwirkungen der Politikbereiche benennen sollen, etwa zwischen Energie- und Umweltpolitik. Meist seien die Konfliktlinien hinreichend bekannt, sagt Imme Scholz vom DIE. Ausgefochten werden die Konflikte indes an anderen Stellen, etwa zwischen den Parteien oder den Ministerien.  

Schwache politische Verankerung

Hat die Staatssekretärsrunde wichtige Impulse gegeben? Das wollten die Grünen im Bundestag in einer Anfrage an die Bundesregierung im Jahr 2019 wissen. Eine aufschlussreiche Antwort bekamen sie nicht. Auch im Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) hält man die politische Verankerung der Agenda für noch zu schwach. Mittelfristige Ziele würden häufig überlagert von politischen oder Lobbyinteressen, sagt Scholz, die auch stellvertretende Ratsvorsitzende ist. 

Sie würde sich einen Wirtschafts- und einen Agrarminister wünschen, die den Nutzen gemeinsamen Handelns in den Vordergrund stellen. Artenvielfalt schützten am besten Agrar- und Umweltressort zusammen. „Die Chance wird nicht ausreichend genutzt“, sagt Scholz. Oft stehen überkommene Denkweisen im Weg. „Wenn man in der Landwirtschaft meint, man tue seiner Klientel einen guten Dienst, wenn man Schutzansprüche abwehre, dann ist das eine erhebliche Fehleinschätzung. Landwirte wollen fruchtbare und nicht dürre Böden – und Insekten.“ 

Marlehn Thieme, die langjährige Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, sieht nur zwei vorbildliche Initiativen, um partei-, ressort- und interessenübergreifend gemeinsame Lösungen zu finden: die Kohlekommission und das Klimakabinett. Was Umsetzung und Gesetzgebung angehe, sei die Regierung aber zu zögerlich, sagte sie einmal in einem Interview. Der Rat fordert, Nachhaltigkeit in der Verfassung zu verankern, um diese rechtlich zu stärken. 

Das Sustainable Development Solutions Network (SDSN Germany), eine Art Lobbyinitiative für die SDGs, monierte jüngst, es mangele an Willen und an der Bereitschaft, politischen Einsatz für die Agenda 2030 zu riskieren. Um einige Hürden aus dem Weg zu räumen, schlägt das Netzwerk vor, die Nachhaltigkeitsstrategie bei ihrer Überarbeitung in diesem Jahr grundlegend umzubauen. Dafür gebe es zwei Modelle: international den von Wissenschaftlern für die UN erstellten Global Sustainable Development Report (GSDR) und den European Green Deal der EU-Kommission (siehe dazu Seite 24). Ihr gemeinsamer Kern: die Ziele mittels tiefgreifender Transformationen zu erreichen, von der Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft über Energie-, Agrar- und Verkehrswenden bis hin zu einer Umwelt frei von Schadstoffen. Statt sich in Einzelindikatoren zu verlieren, wäre ein solcher Denkansatz eine Chance, die politische Relevanz der Nachhaltigkeitsziele zu stärken, meint das SDSN. 

Das halten Nachhaltigkeitsverfechter gerade in Zeiten der Corona-Krise für existenziell, da im Zuge der Pandemiebekämpfung und der wirtschaftlichen Schäden Druck entstehe, ökonomische über ökologische und soziale Ziele zu stellen. Dabei sei die Lehre aus der Krise, dass es darum gehen muss, die Widerstandskraft von Gesellschaften zu stärken.  

Die Kanzlerin hatte 2015 unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise gesagt, Deutschland verpflichte sich zu einer „ehrgeizigen Umsetzung“ der Agenda 2030. Nun hoffen viele, dass Merkel und die Bundesregierung in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab Juli auch unter dem Druck der Corona-Krise für eine „Green Recovery“ eintreten – eine Wachstumsstrategie, die Umweltschutz und wirtschaftliche Erholung miteinander vereint. 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2020: Der Plan für die Zukunft?
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