Nueva Sociedad (Caracas, Nov./Dez.2007): Lateinamerika ist der am stärksten urbanisierte Kontinent der Dritten Welt. Die Modelle der Bürgerbeteiligung in den Städten, die in den vergangenen Jahrzehnten eingeführt wurden, waren eine der bemerkenswertesten Neuerungen der Linken in Peru und Brasilien. Sie zeigten damit den unterprivilegierten Schichten erstmals eine Perspektive zur Verbesserung ihrer sozialen Lage auf. Die sozialistische Partei von Luiz Inácio Lula da Silva führte etwa in Porto Alegre eine partizipative Haushaltsplanung ein und ermöglichte die Beteiligung unterer Einkommensgruppen an der Kommunalverwaltung. Dies führte zu einer Aufwertung bislang vernachlässigter Stadtrandsiedlungen und hat Vorbildcharakter für andere, schnell wachsende Millionenstädte.
Gleiches gilt für die seit Ende der 1960er Jahre bestehende Squatter-Siedlung Villa El Salvador in Lima. Deren Bewohner legten bereits vor der Besetzung ungenutzten Landes in einem basisdemokratischen Verfahren die Verteilung der Baugrundstücke, die Freiflächen für das Straßennetz sowie die öffentlichen Einrichtungen und Grünanlagen der künftigen Vorortgemeinde fest. Auf diese Weise wurde der Grundstein gelegt für eine geordnete,am Wohlergehen ihrer Bewohner ausgerichtete Stadtentwicklung. Obwohl die Einwohnerzahl stark gestiegen ist, konnte die für vergleichbare Metropolen charakteristische Verelendung der Zuwanderer weitgehend vermieden werden.
In der Einführung zum Themenschwerpunkt hebt der ecuadorianische Sozialwissenschaftler Fernando Carrion vom lateinamerikanischen Flasco-Institut hervor, dass die Stadtentwicklung auf Grund des ungezügelten Bevölkerungswachstums und begrenzter öffentlicher Mittel kaum noch steuerbar ist. Auf diesem Hintergrund hätten sich zwei kommunalpolitische Modelle herausgebildet, so Carrion.Der marktliberale Ansatz wolle durch Konkurrenz und die Beteiligung der Privatwirtschaft die Effizienz der Verwaltung steigern und eine wirksame Verwendung der knappen Mittel erreichen. Das Idealbild der Linken sei hingegen eine Stadt, die durch die Aufwertung des öffentlichen Raumes und die Unterstreichung von Rechten und Ansprüchen der Unterprivilegierten eine weitere Spaltung in reiche Wohnviertel und schnell wachsende Elendsquartiere verhindert. Angesichts der zunehmenden Armut und der anhaltenden Landflucht eröffne die Linke damit der breiten großstädtischen Bevölkerung die Perspektive auf eine bessere Zukunft.
Carrion betont, die Unfähigkeit der Städte, die Lebensbedingungen ihrer Bewohner zu wahren oder gar zu verbessern, habe in den 1980er Jahren eine breite Oppositionsbewegung entstehen lassen. Sie führte zur Ablösung der Diktaturen und zur Demokratisierung Lateinamerikas. Die politische Umgestaltung, die auf kommunaler Ebene ansetzt, habe eine Dezentralisierung der Staatsgewalt bewirkt. Sie habe neue Wege der Beteiligung geebnet und neue politische Akteure hervorgebracht. Wie die Beispiele Brasilien und Uruguay zeigten,hätten linke Parteien auf Grund ihrer kommunalpolitischen Kompetenz schließlich die Zentralregierung übernehmen können.
Die Stadt sei schon immer der Ort gewesen, an dem Forderungen nach sozialen Verbesserungen relativ erfolgreich durchgesetzt werden konnten. Dies gelte auch heute, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Auf das Gemeinwohl bezogene Forderungen „werden in einen Rahmen erhoben, der von progressiven oder linksorientierten Regierungen bestimmt wird“. Allerdings durchlebten die Stadtregierungen im Zeitalter der Globalisierung eine Phase des Wandels. Dank der modernen Informationstechnik und der offenen Märkte sei es den Metropolen in Nord und Süd möglich, sich zu vernetzen. Die Lebensverhältnisse in den modernen städtischen Zentren glichen sich deshalb an.
Karl Otterbein
welt-sichten 1-2008