Im Königreich der Baumwolle

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Baumwollernte in einem Dorf in Benin. Die Regierung erwartet erneut ein Rekordergebnis. 
Benin
Benin dürfte dieses Jahr zu den zehn wichtigsten Baumwollproduzenten weltweit gehören. Die Regierung fördert den Anbau stark. Was bringt das der Bevölkerung?

Auf den wie mit Watte gesäumten Zufahrtsstraßen nach Bohicon, 125 Kilometer nördlich von Cotonou, geht nichts mehr. Betagte Lastwagen, vier Meter hoch mit dem „weißen Gold“ beladen, schleichen im Schritttempo zu den beiden lokalen Anlagen zur Baumwollentkernung. Freie Plätze und Straßenränder sind zugeparkt; die müden Fahrer, die ihre Fracht über Hunderte von Kilometern hierher gebracht haben, überlassen ihre Fahrzeuge den als „Lehrlinge“ bezeichneten Halbwüchsigen, die Führerhaus und Ladung Tag und Nacht bewachen, bis sie endlich an die Reihe kommen.

Januar 2021, die Baumwollernte nähert sich ihrem Ende. Die Regierung erwartet erneut ein Rekordergebnis wie in den vier Jahren zuvor, in denen sich die kleine westafrikanische Republik Benin Ballen für Ballen den Spitzenplatz unter den Baumwollexporteuren des Kontinents erkämpft hat. Mit einem Ertrag von etwa 700.000 Tonnen für die aktuelle Ernte scheint ein Rang in der Reihe der zehn Top-Produzenten der Welt gesichert. 

Das war nicht immer so: Vor 2016, als der gerade wiedergewählte Präsident Patrice Talon sein Amt antrat, dümpelte der Sektor einige Jahre mehr schlecht als recht vor sich hin. Talon, der aufgrund seiner geschäftlichen Engagements den Beinamen „roi du coton“ – König der Baumwolle – trägt, maß in seinem Regierungsprogramm vor fünf Jahren der Förderung landwirtschaftlicher Wertschöpfungsketten wie Baumwolle, Cashew und Ananas einen besonderen Stellenwert bei und kündete einschneidende Agrarreformen an. Seither wächst die Baumwollproduktion exponentiell.

In West- und Zentralafrika ist die Baumwolle zum Treibstoff der landwirtschaftlichen Entwicklung geworden. 4,5 Prozent der weltweiten Produktion von etwa 26 Millionen Tonnen (2018/19) werden hier erzeugt. Der Beitrag der Baumwolle zur Wertschöpfung in den westafrikanischen Ländern steigt und liegt aktuell bei Werten zwischen 3 und 15 Prozent. Hauptexportländer der Region sind Benin, Burkina Faso, Côte d’Ivoire und Mali.

Autoren

Agnès Badou

ist Sozialanthropologin und arbeitet an der Universität Abomey-Calavi in Benin.

Hans-Joachim Preuß

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Benins Hauptstadt Cotonou.
Benin weist im regionalen Vergleich die dynamischste Entwicklung auf. Seit 2015 stieg die Produktion jährlich um 30 bis 40 Prozent. Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf die erhebliche Ausdehnung der bearbeiteten Flächen zurückzuführen; die Flächenerträge haben sich im Mittel der letzten vier Jahre bei rund einer Tonne pro Hektar eingependelt.

Knapp 40 Prozent der beninischen Arbeitskräfte sind in der Landwirtschaft tätig, wobei angesichts eines informellen Sektors, der über 90 Prozent der Beschäftigten aufnimmt, allen Statistiken mit großem Vorbehalt zu begegnen ist. Die absolute Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen hat zugenommen, ihr Anteil an der rasch wachsenden Erwerbsbevölkerung hat sich jedoch in den vergangenen 20 Jahren um etwa ein Fünftel reduziert. Die gesamte Agrarproduktion liefert ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts und 15 Prozent der Staatseinnahmen. Drei Viertel der offiziellen Exporte gehen auf ihr Konto – wobei der sogenannte informelle Handel und der Schmuggel in den amtlichen Statistiken nicht aufgeführt werden, obwohl diese für die Ökonomie des Landes von erheblicher Bedeutung sind. Der Baumwollsektor beschäftigt lediglich zwei Prozent der Arbeitskräfte; ihre Zahl ist in den vergangenen drei Jahren gestiegen, allerdings weniger stark als die Flächenausweitung.

Kaum Baumwollverarbeitung in Benin

Die Weiterverarbeitung des „weißen Goldes“ im Land hält mit den Rekordernten nicht Schritt. In Benin gibt es 19 meist ältere Anlagen zur Baumwollentkernung, deren Kapazität von maximal 600.000 Tonnen die Anlieferungen unterschreitet. Nach Angaben der Association Interprofessionnelle du Coton, die mit der Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette beauftragt ist, werden aktuell weniger als ein Prozent der entkernten Baumwolle in vier kleinen Manufakturen versponnen und zu meist einfachen Tuchen gewoben. 3500 Menschen finden dort Arbeit; würde mehr Baumwolle in Benin verarbeitet und nicht fast die gesamte Ernte unverarbeitet exportiert, könnten viele neue Jobs geschaffen werden.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird in Benin Baumwolle produziert. Französische Unternehmer mussten während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs infolge des Exportverbots nach neuen Anbietern Ausschau halten und zwangen die Bauern in Afrique Occidentale Française zum Anbau. Noch über das Ende der Kolonialzeit 1960 hinaus kontrollierte die Compagnie française pour le développement des fibres textiles Bestellung, Verarbeitung und Vermarktung. 1972 legte die marxistisch-leninistisch ausgerichtete Regierung unter Mathieu Kérékou diese Funktionen zunächst in die Hände einer Reihe von Regierungsagenturen und später, nach enttäuschenden Ergebnissen, in die einer einzigen staatlichen Organisation. Auch das beendete aber das staatliche Missmanagement nicht, so dass nach der demokratischen Umgestaltung Benins 1990 eine wilde Liberalisierung der Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Baumwolle einsetzte, zusätzlich befördert von den Strukturanpassungsprogrammen der internationalen Geber. 

Die Vereinigung der Baumwollproduzenten drang schließlich erfolgreich auf eine stärker regulierte Saatgut-, Düngemittel- und Pflanzenschutzversorgung, die 1999 mit der Gründung der Association Interprofessionnelle du Coton (AIC) erreicht wurde. Vor dem Hintergrund politischer Querelen wurde sie mehrfach suspendiert und wieder eingesetzt. Seit dem Wahlsieg von Patrice Talon 2016 steuert sie erneut mit staatlicher Rückendeckung die gesamte Wertschöpfungskette. Talons Familie gehören die meisten der mit der Baumwollproduktion verbundenen Firmen und Talon selbst war vor der Übernahme der Regierungsgeschäfte lange Jahre Vizepräsident der AIC. Kaum ein anderer Wirtschaftszweig des Landes war mit so vielfältigen institutionellen Änderungen konfrontiert, bei denen sich staatliche, halbstaatliche und private Monopole in unterschiedlichen Kombinationen abgewechselt haben.

Staatspräsident Patrice Talon vor seiner Wahl im Frühjahr 2016 in Cotonou. Seiner Familie gehören die meisten Baumwollunternehmen.

Talons Reform der Landwirtschaft nach der Wahl 2016 enthielt unter anderem die Schaffung von sieben „Entwicklungspolen“ in den verschiedenen Landesregionen, die sich auf strategisch vorrangige Agrarprodukte konzentrieren sollten. Ein wichtiger Schritt der neuen Regierung bestand in der erneuten Privatisierung des 2012 in staatliche Hände gelegten Baumwollsektors. Zudem wurde die Einfuhr von Düngemitteln, Saatgut und Pflanzenbehandlungsmitteln von Steuerzahlungen und Zollabgaben befreit. Diese Subventionierung kommt fast ausschließlich dem Baumwollsektor zugute, obwohl sie ausdrücklich auch den Anbau von Grundnahrungsmitteln fördern sollen. Im Endeffekt konnten die Baumwollproduzenten den Anbau weiterer Markterzeugnisse wie Soja und Mais ausdehnen; an den anderen Bauern geht die Unterstützung hingegen vorbei. 

Die Regierung bemüht sich um ausländische Investoren

Stabile Preise für die Produktionsmittel, die Erhöhung der Preise für Rohbaumwolle über den regionalen Durchschnitt hinaus, Zugang zu Anbaukrediten und die schnelle Bezahlung der produzierten Mengen sind weitere Faktoren, die den Baumwollanbau attraktiver machen. Das Straßennetz ist in den vergangenen vier Jahren stark ausgebaut worden, so dass die Baumwollanbauzonen besser an die Verarbeitungsanlagen angebunden sind. Derzeit bemüht sich die Regierung mit Hilfe ausländischer Investoren verstärkt um die Mechanisierung der Baumwollproduktion, die nach wie vor von traditionellen Produktionsmethoden geprägt ist: Lediglich ein Drittel der Produzenten, vorwiegend die wohlhabenderen, setzt eigene oder gemietete Ein- oder Zweiachstraktoren ein.

Der Fokus der Regierung auf die Landwirtschaft und ihre Wertschöpfungsketten, die klare Regulierung durch staatliche Stellen einschließlich Preisgarantien bei Beibehaltung privatwirtschaftlichen Managements sowie hohe öffentliche Investitionen in die Infrastruktur haben in Benin Ernteerträge und Ausfuhren gesteigert – bislang allerdings lediglich bei Baumwolle; bei anderen vorrangig behandelten Agrarerzeugnissen ist das Bild weniger klar.

Risiken der Baumwollerzeugung bestehen in der Bodendegradierung und der Vergiftung von Menschen, Tieren und Böden durch den unsachgemäßen Einsatz von Herbiziden und Pestiziden. Zudem beansprucht die Baumwolle Flächen, die auch für den Anbau von Nahrungsmitteln und anderen Exportprodukten sowie für die halbnomadische Viehhaltung genutzt werden könnten. Doch bislang geht der Baumwollanbau nicht zulasten anderer Agrargüter. Stattdessen werden bislang ungenutzte Flächen in die Produktion einbezogen, was die Entwaldung erheblich beschleunigt hat. Satellitenaufnahmen der Jahre 2000 und 2020 zeigen, dass in den zentralen Regionen Benins die bewaldeten Gebiete um 30 bis 65 Prozent geschrumpft sind – zugunsten landwirtschaftlich genutzter Flächen. Halbnomadische Viehhirten, die auch aus den Nachbarländern nach Benin kommen, finden für ihre Viehhaltung kaum noch Futtergrundlagen, was zu steigenden Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit sesshaften Bauern in den nördlichen Regionen führt.

Der Einsatz von Pestiziden und Herbiziden, von denen viele in Benin nicht zugelassen sind, schadet bei unsachgemäßer Anwendung der Umwelt und der Gesundheit. Diese Gefahr ist umso größer, da die Bauern in aller Regel nicht über Schutzausrüstung wie Masken oder Handschuhe verfügen. Drei Viertel von ihnen können nicht lesen, und lediglich fünf Prozent werden im Gebrauch der Mittel geschult.

Noch keine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse

Bleibt als Fazit: Die Steigerung von Baumwollproduktion und -exporten hat die Einnahmen von Staat, Industrie und Produzenten erhöht. Der Löwenanteil der Erlöse der Wertschöpfungskette verbleibt in Transport, Verarbeitung und Export. Inwieweit die Staatsausgaben für die Baumwollproduktion – hauptsächlich finanziert mit Krediten und Zuwendungen internationaler privater und öffentlicher Finanzinstitutionen – einen Mehrwert für Benin und seine Bevölkerung erzeugen, müsste eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse zeigen – aber eine solche Rechnung gibt es noch nicht. Es ist daher aktuell nicht festzustellen, ob die Verteilung der zusätzlichen Einnahmen in Landwirtschaft und vor- und nachgelagerten Dienstleistungen tatsächlich zur Reduzierung der Armut im Land beiträgt.  

Die Familie des Präsidenten besitzt und kontrolliert den Großteil der vor- und nachgelagerten Dienstleistungen und Geschäfte wie den Import und die Bereitstellung von Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmitteln, die Entkernung der Rohbaumwolle, die Ölextraktion und die Ausfuhr. Gleichzeitig ist sie an Kontrollinstanzen des Hafens von Cotonou beteiligt. Einerseits ist so garantiert, dass das Interesse der Regierung am Erfolg der Baumwollproduktion auch in der neuen Amtszeit Patrice Talons bis 2026 nicht erlahmt. Andererseits birgt diese Konzentration in der Familie des Präsidenten die Gefahr, dass der Boom erlischt, wenn eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger nicht dasselbe Engagement für die Baumwolle an den Tag legt. 

Darüber hinaus verstärkt diese Politik die Abhängigkeit Benins von der Produktion des „weißen Goldes“, zumal Investitionen in die Weiterverarbeitung in Stoffe und Textilien nicht absehbar sind. Das Argument, der Binnenmarkt sei zu klein für eine industrielle Fertigung, ist angesichts der geplanten Einführung der afrikanischen Freihandelszone einerseits und der unmittelbaren Nachbarschaft des ökonomischen Giganten Nigeria nicht überzeugend.

Baumwolle in Benin, das ist ein für Afrika bislang beispielloser Aufschwung einer landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Das ist aber auch eine kaum kaschierte Vermengung privater Interessen und politischer Macht. Ein fader Beigeschmack bleibt.

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