Medizin statt Heroin?

Neue Strategien im Kampf gegen die Drogenökonomie in Afghanistan

Pro: Ein Beitrag zu Frieden und Stabilität

Von Emmanuel Reinert

Die gegenwärtige Drogenpolitik in Afghanistan ist nicht nur unwirksam, sondern auch hochgradig kontraproduktiv. Die Zerstörung von Mohnfeldern vernichtet die Haupteinkommensquelle von mehr als drei Millionen Afghanen. Das fördert die Popularität der Taliban und setzt die Soldaten der Koalitionstruppen zusätzlichen Gefahren aus. Zugleich schwächt diese Politik den Rückhalt der afghanischen Regierung in der Bevölkerung und untergräbt deren Legitimität.

Offensichtlich brauchen wir einen neuen Ansatz in der Drogenbekämpfung, der die Belange der Armen berücksichtigt und dazu beitragen kann, die Sympathie der Bevölkerung zurückzugewinnen und der Aufstandsbewegung die Unterstützung zu entziehen. Ein solches in der Praxis bewährtes Konzept gibt es bereits: Projekte, bei denen der Opiumanbau lizenziert wird und zur Herstellung von Medikamenten dient. Schlafmohn liefert den Rohstoff für Morphine. Ein Lizenzierungssystem, das den kontrollierten Mohnanbau für medizinische Zwecke erlaubt, wurde in den 1970er Jahren in der Türkei eingeführt, um die Bauern vom illegalen Heroinmarkt abzukoppeln. Es war erfolgreich, und diese Erfahrung sollte auch in Afghanistan genutzt werden.

Das türkische System, das die Probleme des Landes mit dem illegalen Mohnanbau in nur vier Jahren bewältigen half, ist eine pragmatische Antwort auf  wirtschaftliche Unterentwicklung. In Afghanistan herrschen andere Bedingungen als in der Türkei der 1970er Jahre. Der staatlich kontrollierte Anbau von Opium muss deshalb auf die spezifische Situation des Landes, seine Sicherheitsprobleme und seine wirtschaftlichen Umstände zugeschnitten werden.

Statt zum Beispiel mit Hilfe von staatlichen Subventionen mit den Schwarzmarktpreisen für Opium konkurrieren zu wollen und für den internationalen pharmazeutischen Opiummarkt Rohopiate zu produzieren sowie kontrolliert zu exportieren, müssten lizenzierte Anbauprojekte in Afghanistan ein höherwertiges Produkt erzeugen: für pharmazeutische Zwecke nutzbares Morphium. Der damit erzielte Wertzuwachs würde es erlauben, den Bauern marktgerechte Preise anzubieten und aktuelle Preisschwankungen auf dem Schwarzmarkt zu berücksichtigen.

Der Mohn würde in den Dörfern zu Morphiumpillen verarbeitet

Auf der Grundlage ausgedehnter Feldstudien über drei Jahre hat der Senlis Council ein spezielles, an der Dorfgemeinschaft orientiertes Modell der lizenzierten Opiumwirtschaft für Afghanistan entwickelt: „Mohn für Morphium“. Das Besondere daran: Erstens würde der Mohn direkt in den afghanischen Dörfern zu Morphiumtabletten verarbeitet. Die Ernte würde nicht eingelagert, und so würden auch keine Drogenhändler angelockt. Zweitens würden die Tabletten direkt nach Kabul oder auf dem internationalen Markt verkauft. Die Gewinne flössen an die Dorfgemeinschaften zurück.

Die „Mohn für Morphium“-Projekte könnten die Erfahrung und das Wissen der Afghanen beim Mohnanbau und die Autorität der Kontrollorgane auf Dorfebene nutzen. Sie könnten dem illegalen Mohnanbau entgegenwirken und der afghanischen Regierung sowie der internationalen Gemeinschaft helfen, die Bauern für sich zu gewinnen. Als wirtschaftlich nachhaltige Entwicklungsprojekte trügen sie zu einer Diversifizierung der Wirtschaft auf dem Land bei und befreiten die Bevölkerung aus ihrer Abhängigkeit vom illegalen Opiummarkt und ihrer Bindung an die Taliban. Das bezahlbare Morphium aus den Projekten käme jenen 80 Prozent der Weltbevölkerung in armen Ländern zugute, die bisher keinen Zugang zu wirksamen Schmerzmitteln haben.

Die Initiative hat bereits beachtliche Unterstützung gefunden, vor allem vom Europäischen Parlament im Oktober 2007. Doch um zu prüfen, ob sich das System der lizenzierten Opiumwirtschaft verwirklichen lässt, muss die internationale Gemeinschaft grünes Licht geben für wissenschaftlich begleitete Pilotprojekte in einer gewissen Anzahl afghanischer Dörfer. Eine solche pragmatische Strategie bietet nicht nur die Möglichkeit, die Opiumkrise in Afghanistan zu überwinden. Sie wird auch die Zustimmung der Bevölkerung finden. Nur so kann es in Afghanistan jemals Stabilität und dauerhaften Frieden geben.

 

Kontra: Gefahr für den Staat

Von Frédéric Grare

So attraktiv sie zunächst scheinen mögen – die Vorschläge des Senlis Council bieten keine Patentlösung. Sie setzen politische Bedingungen voraus, die in Afghanistan noch nicht gegeben sind. In der gegenwärtigen Situation würden sie die Umwandlung Afghanistans in eine reine Drogenwirtschaft noch beschleunigen. Denn sie würden die Stellung der Drogenbosse legitimieren, die jetzt an Stelle der Warlords die Macht im Land ausüben. Auch wäre das Senlis-Konzept nicht geeignet, den Drogenhandel zu unterbinden. Was immer an wertvollen Ansätzen darin stecken mag – die Legalisierung der Opiumherstellung darf bestenfalls am Ende des politischen Wiederaufbaus in Afghanistan ins Auge gefasst werden, nicht aber als seine Voraussetzung.

Der Senlis Council geht bei seinen Vorschlägen von der zentralen Annahme aus, dass der Weltmarkt für Opiate weitgehend unerschlossen ist. Doch laut dem Internationalen Suchtstoffkontrollrat (International Narcotics Control Board, INCB) war das Angebot an Rohopiaten in den vergangenen fünf Jahren größer als die weltweite Nachfrage nach Opiaten für medizinische und wissenschaftliche Zwecke. Im Jahr 2007 betrug der Überschuss nach Schätzungen des INCB etwa 550 Tonnen Morphin-Äquivalente. Die 2007 in Afghanistan produzierten 8200 Tonnen Opium wären zu 1000 Tonnen Morphinen verarbeitet worden, die den Überschuss noch vergrößert hätten.  

Das bedeutet nicht, dass die Berechnungen des Senlis Council falsch sind, doch ist ein Markt nicht einfach die Summe des individuellen Bedarfs. Er erfordert gesetzliche Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene, die die Einnahme von Drogen unter medizinischer Aufsicht gestatten, sowie Systeme der nationalen Gesundheitsfürsorge, finanzielle Ressourcen und ausgebildetes Personal. All diese Voraussetzungen sind zur Zeit in den meisten Entwicklungsländern nicht gegeben – also dort, wo der Senlis Council den größten Bedarf an morphinhaltigen Schmerzmitteln feststellt. Diese Umstände erklären die Diskrepanz zwischen der potentiellen Nachfrage und den tatsächlichen Beständen.

In Afghanistan fehlen wirksame Kontrollmechanismen

Das wichtigste Argument gegen die Legalisierung des Schlafmohnanbaus in Afghanistan ist jedoch, dass ausreichende Kontrollmechanismen fehlen. Der Senlis Council plädiert für ein an der Basis ansetzendes System, das sich auf afghanische Traditionen der Rechtspflege stützt und verhindern soll, dass das Opium in den Heroinhandel fließt. Dies betrachtet er als einen ausschlaggebenden Faktor für den Erfolg des Lizenzierungssystems.

Doch selbst wenn man einräumt, dass die lokalen Strukturen trotz ihrer Mängel eher greifen als die Strafverfolgung  auf nationaler Ebene, bleibt doch offensichtlich, dass die Legalisierung der Opiumproduktion den Bauern nicht genügend Anreiz bieten würde. Der Preis, den sie erzielen würden, könnte sich kaum mit dem durchschnittlichen Gewinn messen, den die gleiche Opiummenge beim illegalen Verkauf einbringt. Wie sollten dann die Shuras und Jirgas ihre Dorfgemeinschaften dazu bewegen, den illegalen Märkten den Rücken zu kehren? Das wahrscheinlichste Ergebnis wäre nicht, dass der illegale Drogenhandel fast gänzlich unterbunden würde, sondern bestenfalls das gleichzeitige Fortbestehen der Schattenwirtschaft neben dem legalen Markt.

Die Legalisierung des Opiums unter solchen Voraussetzungen würde allerlei Risiken mit sich bringen. Sie würde das Eindringen von Drogenbaronen in offizielle Ämter legitimieren und so die bereits angeschlagene Glaubwürdigkeit der afghanischen Regierung weiter schwächen. Außerdem würde sie die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verwischen und den Kampf gegen die illegalen Drogen erschweren.

Damit die Drogenbekämpfung Erfolg haben kann, muss zuvor die Autorität des afghanischen Staates gefestigt sein. Die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden müssen stärker werden, bevor der Produktion von Drogen und dem Handel damit ein Ende gesetzt werden kann. Um den Bauern ein ausreichendes Einkommen zu bieten, müssen neue Verdienstmöglichkeiten entwickelt werden. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, könnte die Legalisierung der Opiumproduktion für pharmazeutische Zwecke in Betracht gezogen werden.

Emmanuel Reinert ist Direktor des Senlis Council mit Sitz in Paris und Kabul.

Frédéric Grare ist Experte für Südasien am Carnegie Endowment for International Peace in Washington.

welt-sichten 6-2008

 

erschienen in Ausgabe 6 / 2008: Welternährung
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