Wider den kolonialen Blick auf die Welt

Wolfgang Ammer
Journalismus
In vielen internationalen Medien kommen Konflikte und Krisen in Regionen des globalen Südens bestenfalls am Rande vor. Das muss sich ändern – nicht zuletzt dadurch, dass einheimische Journalisten mehr Gelegenheit bekommen, darüber zu berichten, meint Anjan Sundaram.

Vor zehn Jahren war ich als Journalist in der bürgerkriegsgeplagten Zentralafrikanischen Republik unterwegs. Dort hörte ich von Massakern, die schon in fünf Kilometern Entfernung vom Tatort unbemerkt blieben. Soldaten ermordeten Hunderte Zivilisten, die angeblich Rebellen unterstützten, und zerstörten anschließend Sendemasten des Rundfunks, um jede Berichterstattung über ihre Taten zu verhindern. Aus Angst vor Repressalien wagten die Menschen nicht, über die Morde zu reden. So blieben diese Massaker über Monate undokumentiert.

Während Dutzende Journalisten aus zahlreichen Ländern in der Ukraine unterwegs sind und uns rund um die Uhr über den Krieg dort informieren, erreichen uns aus weiten Teilen der Welt fast keine Nachrichten. Die Toten im Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik bleiben ungezählt. Der Krieg in der Demokratischen Republik Kongo, der schon mehr Menschenleben gefordert hat als jeder andere Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg, schafft es nur bei besonders exzessiven Gewaltausbrüchen sporadisch auf die Titelseiten. Die Ermordung von Hunderten Umweltaktivisten in Lateinamerika, die mutig für den Erhalt unersetzlicher Wälder, Berglandschaften und Flüsse eintreten, ist den Medien oft nur eine Randnotiz wert. Die Gründe: mangelndes Interesse an allem, was sich nicht vor unserer Haustür abspielt, und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Menschen, die wir als „anders“ betrachten. 

Ein Geistlicher sammelt handgeschriebene Zettel ein

Nachrichten darüber erreichen uns manchmal nur dank der mutigen Initiative einzelner Personen – und auf handgeschriebenen Zetteln. Vor zehn Jahren lernte ich in Bouar, einer Stadt im Westen der Zentralafrikanischen Republik, einen polnischen Priester namens Mirek kennen. Er erzählte mir von einem kürzlich erfolgten Überfall auf die weiter nördlich gelegene Ortschaft Bohong. Dabei hatten Soldaten auch die Kirche beschossen und deren Tür fortgeschleppt, um sie als Feuerholz zu nutzen. Mirek plante, durch unsicheres Rebellengebiet nach Bohong zu fahren und eine neue Tür zu bringen. Ich bat darum, ihn begleiten zu können.

Autor

Anjan Sundaram

ist Journalist und Autor von „Breakup: A Marriage in Wartime“ (Catapult 2023). Sein Beitrag ist zuerst bei „Foreign Policy“ erschienen.

Die Dörfer, in die wir kamen, wirkten menschenleer – beim Geräusch des herannahenden Autos waren die Bewohner aus Angst vor Soldaten in den Wald geflohen. Wenn Mirek aber anhielt und hupte, kam jemand herbeigelaufen und schob einen Zettel durchs Wagenfenster. Dies wiederholte sich in allen Dörfern.

Auf den Zetteln waren in akkurater Handschrift die Namen von Kranken zusammen mit den von ihnen benötigten Medikamenten aufgelistet. Auch die Verstorbenen und Toten waren verzeichnet, welche Lebensmittel benötigt wurden und wie es um die Wasserversorgung stand. Ein halbes Dutzend solcher Listen sammelte Mirek in den Dörfern ein und brachte sie zurück nach Bouar, wo er sie Hilfsorganisationen übergab. Ohne die Initiative des tapferen Geistlichen und die handgeschriebenen Zettel wäre nichts nach außen gedrungen. Mirek war im Grunde ein Kriegsberichterstatter, nur dass keine Zeitung ihn je als Autor eines Artikels nannte.

Das Desinteresse an Kriegsgebieten wie der Zentralafrikanischen Republik ist eine Folge davon, dass die internationale Berichterstattung nach wie vor von Strukturen der Kolonialzeit geprägt ist. Die Auslandskorrespondenten mit Sitz in den Hauptstädten der Welt wie Washington und London fliegen häufig alle zur selben Zeit an dieselben Orte, um von dort mehr oder weniger identische Berichte mitzubringen. Einheimische Journalisten, ob fest angestellt oder freie Mitarbeiter, haben es hingegen schwer, ihre aus erster Hand stammenden Erfahrungen unterzubringen. Soll dem westlichen Publikum ein Konflikt und seine Relevanz erklärt werden, lässt man für viel Geld bekannte Korrespondenten einfliegen. In der internationalen Berichterstattung herrscht ein System des Starjournalismus, das auf Kosten der Qualität und der Bandbreite der Berichterstattung geht.

Mit dem Motorrad zum Ort des Massakers

Im Jahr 2005 begann in der Zentralafrikanischen Republik und im Kongo meine Laufbahn als Journalist. Da die Medien der Zentralafrikanischen Republik kaum Informationen aus den ländlichen Gebieten erhielten und ihren Journalisten keine Reisen finanzieren konnten, war der aktuelle Frontverlauf stets unklar. Von Thierry Messongo, einem zentralafrikanischen Kollegen, erfuhr ich, dass es etwa 250 Kilometer von der Hauptstadt Bangui entfernt zu einem Massaker gekommen war. Da er kein Auto hatte, fuhr ich zusammen mit ihm dorthin. Ein Armeegeneral hatte gerade eine Offensive gegen Rebellen gestartet, die sich in einem abgelegenen Ort versteckt hielten.

Ich brauchte ein paar Tage, um mit dem Motorrad zu diesem tief im Dschungel liegenden Ort zu gelangen. Der General hatte ihn in Brand stecken lassen, von den Strohdächern waren nur verkohlte Überreste übriggeblieben. Auf den Tischen stand noch Essen, und überall lag Kleidung herum, die die Menschen auf ihrer eiligen Flucht in den Wald zurückgelassen hatten. Der Ort wirkte verlassen. Thierry rief laut, wir seien keine Soldaten, es bestehe keine Gefahr, die Leute könnten herauskommen.

Zuerst tauchte eine Frau in einem roten Hemd aus dem Wald auf. Andere, die sahen, dass wir ihr nichts taten, folgten ihrem Beispiel. Überraschenderweise galten ihre ersten Fragen nicht Lebensmitteln oder Medikamenten – sie wollten vor allem wissen, ob man da draußen über ihre Lage Bescheid wüsste. Denn nur dann konnten sie überhaupt auf Hilfe hoffen. Journalisten können dem Töten zwar keinen Einhalt gebieten, einen Krieg nicht beenden. Aber allein ihr Auftauchen und ihre Dokumentation der Geschehnisse kann die Brutalität etwas mildern, weil die Täter sich unter Beobachtung fühlen. Die bloße Anwesenheit von Journalisten setzt Machtmissbrauch Schranken und macht es möglich, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Art der Produktion und Verbreitung von Nachrichten muss sich ändern

Doch das allein reicht nicht aus. Die in der Kolonialzeit geprägte Art der Produktion und Verbreitung von Nachrichten muss sich ändern. Der globale Süden muss endlich erfahren, dass seine Nachrichten und Ereignisse für die Welt genauso wichtig sind wie das Geschehen im Westen. Wohlhabende afrikanische Staaten wie Nigeria, Kenia und Südafrika müssen ihre Journalisten auch in die Zentralafrikanische Republik und den Kongo schicken. Brasilianische Journalisten sollten beispielsweise auch über die Morde an Umweltschützern in Mexiko berichten, die in den dortigen Nachrichten unerwähnt bleiben.

Für die Berichterstattung im Westen wäre hingegen mehr Bescheidenheit und Einsicht in die eigenen blinden Flecken vonnöten, damit es freie Journalisten, die in diesen Konflikten nahe am Geschehen sind, nicht so schwer haben, ihre Artikel unterzubringen. Bislang scheitern sie häufig am Unverständnis von Redakteuren, die das Geschehen in ihren Ländern als irrelevant betrachten. Es muss endlich der Mythos zertrümmert werden, was in den Medien weltweit berichtet wird, sei alles, was wir über die Welt wissen müssen.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2023: Wasser: Knapp und kostbar
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