Konflikte wie im Kosovo oder in Georgien lassen sich nur politisch lösen
Von Bruno Schoch
Russland hat seinen Krieg gegen Georgien sowie die Anerkennung von Südossetien und Abchasien mit Verweis auf das Beispiel Kosovo begründet. Tatsächlich hat der Westen Moskau mit seiner Kosovopolitik eine Vorlage geliefert. Andererseits gibt es erhebliche Unterschiede zwischen beiden Fällen, die Russland ignoriert. Die Europäische Union ist nun gefordert, im Dialog mit allen Konfliktbeteiligten einer weiteren Eskalation im Kaukasus vorzubeugen.
Als der georgische Präsident Michail Saakaschwili zur Gewalt griff, reagierte Russland blitzschnell. Es marschierte in Georgien ein und erkannte nach ein paar Tagen die Sezession Südossetiens und Abchasiens an. „Das Gerede über die territoriale Unversehrtheit Georgiens kann man vergessen“, trumpfte der russische Außenminister Sergej Lawrow auf.
Das war eine überraschende Kehrtwendung. Denn im Streit um die Autonomie des Kosovo hatte sich der Kreml – mit guten Gründen – lange als Anwalt der staatlichen Souveränität Serbiens dargestellt. Die nonchalante Arroganz, mit der er jetzt die beiden abtrünnigen Kaukasus-Provinzen als unabhängig anerkannt hat, straft seine völkerrechtliche Grundsatztreue im Kosovo-Konflikt im Nachhinein Lügen.
Zur Begründung imitierte Moskau einfach die Position des Westens im Fall Kosovo: Es habe Georgiens Integrität nur zum Schutz einer bedrohten Minderheit verletzt, gar von „Genozid“ war die Rede – eine Begründung, die allerdings schon im Kosovo nur zu vertreten war, wenn man in der Politik Belgrads die Wiederkehr des Krieges gegen die Zivilbevölkerung in Bosnien sah. Zudem nannte Russland den Angriff auf Georgien eine „humanitäre Aktion“ – so wie die NATO ihren Luftkrieg 1999 gegen Serbien. Und mit dem Beispiel Kosovo legitimierte Russland auch die Anerkennung der Sezessionen Südossetiens und Abchasiens.
Die Parallele hat etwas Bestechendes: Der Westen hat die Unabhängigkeit des Kosovo unterstützt, obwohl sie der UN-Resolution 1244 vom Juni 1999 widerspricht. Er hat damit einen Präzedenzfall geschaffen, auch wenn er das immer abgestritten hat. Aber alles Beteuern, das Kosovo sei ein absoluter Ausnahmefall, hilft nicht. Die nationale Selbstbestimmung als solche ist kein unfehlbarer Kompass für derartige Fragen. Der Charta der Vereinten Nationen ist ein Widerstreit eingeschrieben sowohl zwischen dem Recht der Staaten und dem universellen Charakter der Menschenrechte als auch zwischen staatlicher Souveränität und dem nationalen Selbstbestimmungsrecht. Wenn alle Macht vom Volk ausgeht, dann kommt es darauf an, wer zum Volk gehört – und wer nicht. Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechtes muss definiert werden. Dabei spielen Großmächte von jeher eine entscheidende Rolle.
Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Fällen: Das Kosovo erklärte die Unabhängigkeit nach neun Jahren und mehreren ernsthaften Versuchen, auch von den Vereinten Nationen, zu vermitteln und einen Konsens zu finden. Russland dagegen machte nicht viel Federlesens: Wenige Tage nach der Intervention erkannte es die abtrünnigen Provinzen an ohne auch nur den Hauch eines Versuchs, die UN einzubeziehen. Es hat sich damit selbst isoliert – weder die Staaten der GUS noch die des Shanghai-Kooperationsrates, zu dem außer Russland noch China und vier zentralasiatische Staaten gehören, wollten ihm folgen.
Der Georgien-Krieg hat den sicherheitspolitischen Zündstoff im Kaukasus bloßgelegt. Um die Konflikte einzudämmen, ist ein multilaterales Verfahren notwendig, das die sich wechselseitig ausschließenden Interessen aller Seiten einzubinden vermag. Die USA haben den NATO-Russland-Rat eingefroren. Dagegen ist die Europäische Union im Dialog mit Moskau geblieben. Sie ist deshalb gefordert, ein Krisenmanagement zu entwickeln, das Georgien, Südossetien, Abchasien und Russland einbezieht.
Die ethno-territorialen Konflikte im Kaukasus haben sich durch die Kriege seit 1990 ähnlich verhärtet wie im Kosovo. Die Formel, die auf dem Balkan zur Anwendung kommen sollte, war prinzipiell richtig und wäre auch für den Kaukasus angemessen: Erst bestimmte Standards durchsetzen, zum Beispiel im Minderheiten- und Menschenrechtsschutz, und erst dann die Frage des Status der abtrünnigen Provinzen angehen. Der Fehler des Westens war, dass er im Kosovo zu früh von dieser Formel abgerückt ist. Und dass er Russland als zu vernachlässigende Größe marginalisieren wollte. Das hat Moskau im August mit Gewalt demonstriert.
Bruno Schoch ist Vorsitzender des Forschungsrats der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Mitherausgeber des Friedensgutachtens. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Nationalismus, Demokratisierung und Minderheitenkonflikte.
welt-sichten 11-2008