Bhutans König hat seinen Untertanen parlamentarische Demokratie verordnet
Von Manfred Kulessa
Das letzte Königreich im Himalaya ist seit dem Sommer eine konstitutionelle Monarchie. In der Bevölkerung Bhutans hat Engagement für die demokratische Entwicklung die anfängliche Skepsis abgelöst. Am Staatsziel „Bruttosozialglück“ wollen die Parlamentarier, die Regierung und der neue Monarch Jigme Khesar Namgyel Wangchuck festhalten.
2008 wird als Jahr großer Veränderungen in die Geschichte des Königreichs von Bhutan eingehen. Das „Land des Donnerdrachens“ (Druk Yul) erlebt zur Zeit einen ungewöhnlichen historischen Vorgang: Seine Majestät Jigme Singye Wangchuck hat seinem Volk die parlamentarische Demokratie verordnet. Seit der Unterzeichnung der Verfassung am 18. Juli 2008 ist das Königreich im Himalaya eine konstitutionelle Monarchie. Am 6. November ist zudem sein Sohn und Nachfolger Jigme Khesar Namgyel Wangchuck zum 5. Drachenkönig von Bhutan gekrönt worden. Die Wangchuck-Dynastie feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen.
Die neue Staatsform ist nicht vom Volk oder einer privilegierten Elite erstritten, sondern vom absoluten Herrscher gewünscht und gegen Bedenken und das Zögern seiner Untertanen durchgesetzt worden. Die Weisheit dieser Entscheidung lässt sich wahrscheinlich am ehesten am Schicksal anderer Fürsten der Region im Einflussbereich der Giganten China und Indien messen – man denke nur an Afghanistan, Kaschmir, Sikkim, Tibet und nun auch Nepal. Tatsächlich sind die Träger der Rabenkrone die letzten ihres Standes in diesem Teil der Welt und wollen es in der neuen Form gewiss bleiben. Das sollen eine demokratische Verfassung und die Staatsphilosophie des „Bruttosozialglücks“ (Gross National Happiness, GNH) garantieren.
Das Glück ist nach allgemeiner Erfahrung weder Herrschern noch Untertanen sicher. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika spricht davon, dass die Politik „pursuit of happiness“ ermöglichen soll. Ein altes deutsches Märchen berichtet über „das Hemd des Zufriedenen“, das dem melancholischen König sein Glück zurückbringen würde. Als schließlich ein Zufriedener gefunden wird, stellt sich heraus, dass er gar kein Hemd besitzt. Das Bruttosozialglück ist keine gänzlich neue Vorstellung. So haben etwa Barbara Ward, Robert Kennedy, Jan Tinbergen und andere Vordenker im Westen schon vor vier Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass das Bruttosozialprodukt kein brauchbarer Maßstab für menschliche Entwicklung ist und etwas wie GNH definiert werden müsste.
Wenig später hat der junge König Jigme Singye Wangchuck diese Vorstellung aufgegriffen und versucht, sie in die politische Praxis einzuführen, als er 1972 im Gymnasiasten-Alter zum König gekrönt wurde. Dafür, dass dieser Herrscher kein Kaiser ohne Kleider blieb, sorgten dann seine Gefolgsleute in Wissenschaft und Politik. Das Standardwerk „Gross National Happiness and Development“, ein Sammelband von gut 750 Seiten, wurde 2004 im Zuge der Vorbereitung einer internationalen GNH-Konferenz veröffentlicht, die im darauf folgenden Jahr in Kanada stattfand. Inzwischen wird vielerorts an einem GNH-Index gearbeitet, und eine englische Universität hat den Versuch gewagt, die Staaten der Welt nach derlei Kriterien einzuordnen. Die Vereinten Nationen, in ihrem jährlichen „Bericht über die menschliche Entwicklung“ ähnlichen Vorstellungen folgend, leisten Bhutan auch in diesem Bereich Entwicklungshilfe.
Dass Bhutan in vergleichender Wertung gute Noten erhält, ist kein Zufall. Der Staat gewährt beispielsweise freie Schulbildung und Gesundheitsversorgung. Die Bewahrung des kulturellen Erbes hat hohen Stellenwert. Auch der Erhalt der Umwelt genießt Priorität: Etwa zwei Drittel des Landes sind bewaldet, und ein Viertel gehört zu geschützten Reservaten. Es gibt ein beachtliches Wirtschaftswachstum. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen hat sich laut Weltbank in den vergangenen sieben Jahren auf 4.980 US-Dollar (Kaufkraftparitäten) verdoppelt. Größter Einnahmeposten ist der Export von Strom, der aus Wasserkraft gewonnen wird.
Doch das Paradies hat seine Schattenseiten. Der Klimawandel droht auch hier: Von 2500 Gletscherseen werden 25 als gefährlich im Sinne potentieller Flutkatastrophen eingestuft. Und die geopolitische Lage zwischen Indien und China verlangt ständig ein hohes Maß an diplomatischer Sensibilität. Hinzu kommt ein seit Jahren ungelöstes Flüchtlingsproblem: Mehr als hunderttausend Angehörige der nepali-stämmigen Minderheit Bhutans leben in Lagern in Ost-Nepal. Sie sind Opfer eines tragischen Konflikts früherer Jahre. Zahlreiche Regierungsverhandlungen haben bislang nicht zu einer praktikablen Lösung geführt. Jetzt haben die USA und vier andere Industrieländer den Menschen die Einwanderung angeboten. Das hat zu Auseinandersetzungen unter den Flüchtlingen geführt.
Der Dialog zwischen Herrscher und Volk in Bhutan wird traditionell von Ritualen der Loyalität bestimmt. Die Bürger gingen deshalb zum Beispiel davon aus, dass der König sie glücklich sehen wollte, als 2005 eine Volkszählung stattfand und sie unter anderem nach ihrem Glück gefragt wurden. Entsprechend zeigten alle das Hemd des Zufriedenen vor: Über 90 Prozent bezeichneten sich als glücklich oder sehr glücklich. Dieselbe Loyalität kam schließlich auch bei der Einführung der Demokratie zum Tragen, selbst wenn es zuerst nicht den Anschein hatte. Die ersten Reaktionen auf den von einer Kommission im Auftrag des Königs erstellten Entwurf einer demokratischen Verfassung waren eher skeptisch. Es ist anzunehmen, dass die Mehrheit lieber beim alten System geblieben wäre.
Auch existierte keine Institution, die diese Verfassung mit genügender demokratischer Legitimation hätte verabschieden können. Ein Referendum wäre möglich gewesen, wenn auch mit ungewissem Ausgang. Der König entschied sich für eine Alternative: Er besuchte, allein und manchmal gemeinsam mit dem Kronprinzen, alle zwanzig Distrikte des Landes und stellte die neue Ordnung in Volksversammlungen vor. Die so vermittelte Botschaft hieß „Wenn Ihr mich liebt und mir vertraut, macht Ihr das von jetzt an so!“, und sie kam an. Abstimmungen fanden nicht statt. Aber am Ende war die Verfassung so etwas wie ein anerkanntes Faktum. Das nach dem neuen System gewählte Parlament hat schließlich den Verfassungstext im Sommer 2008 ohne Zögern verabschiedet.
Zunächst wurden die notwendigen institutionellen Voraussetzungen geschaffen – vor allem eine Wahlkommission berufen, Wahlgesetze und Verordnungen erarbeitet und erlassen und die ersten Wahlen vorbereitet. Parteien mussten gegründet und zugelassen, Wahlregister und Ausweise eingeführt werden. Noch bevor es in die entscheidende Runde ging, trat der König überraschend zugunsten seines ältesten Sohnes Jigme Khesar zurück, der mit der Krönung der erste konstitutionelle Monarch geworden ist und auch der Jahrhundertfeier der Wangchuck-Dynastie im Herbst präsidieren wird. Nach der Verfassung wäre der Wechsel erst in vierzehn Jahren notwendig gewesen. Der König muss wie jeder Staatsdiener mit 65 Jahren in den Ruhestand treten, ein echtes Unikum der Verfassungsgeschichte.
Auch an anderen Stellen ist der sorgfältig gearbeitete Verfassungstext durch ungewöhnliche Rigidität gekennzeichnet. Die an sich wünschenswerte Gewaltenteilung wirkt sich in der Abgrenzung von Verwaltung, Politik, Justiz und Klerus ziemlich radikal aus. Wenn ein Beamter in die Politik geht, muss er seine Karriere im öffentlichen Dienst endgültig aufgeben. Geistliche und Angehörige der Königsfamilie dürfen nicht wählen. Kandidaten für die Sitze des Oberhauses dürfen keiner Partei angehören.
Die Bestimmung, nach der das passive Wahlrecht an Bildungsvoraussetzungen geknüpft werden kann, wird so ausgelegt, dass nur Hochschulabsolventen als qualifiziert gelten. Derzeit sind das zwischen zwei und drei Prozent der registrierten Wähler. Im Unterhaus dürfen nur zwei Parteien vertreten sein, von denen die stärkere die Regierung und die schwächere die Opposition bildet. Kleinere Parteien sind praktisch von der Mitwirkung ausgeschlossen. Das führte schon im Vorfeld der Wahlen zur Fusion verschiedener Gruppierungen zu zwei registrierten Parteien: der „Harmonie Partei Bhutans“ (DPT) und der „Demokratische Volkspartei“ (PDP). Die Übernahme des reinen Personenwahlrechts erwies sich insofern als unglücklich, als die DPT unter der Führung des Exministers und jetzigen Regierungschefs Jigmi Thinley 45 von 47 Sitzen der Nationalversammlung gewann, obwohl die konkurrierende PDP über 30 Prozent der insgesamt abgegebenen Stimmen erhalten hatte. Man entschloss sich, deren zwei Abgeordneten nach Kräften zu unterstützen und im Übrigen besonderen Wert auf das System von „checks and balances“ zu legen, in dem vor allem den 25 Mitgliedern des Oberhauses, dem Obersten Gerichtshof und dem König Funktionen des Ausgleichs zukommen, weil sie an der Gesetzgebung mitwirken und die Verfassung interpretieren. Allen Beteiligten ist zudem an einer harmonischen Entwicklung gelegen. Die Verfassung will man aber in zentralen Punkten nicht ändern.
Die Wahlen selbst erhielten von der internationalen Gemeinschaft durchweg gute Noten, so auch von der Europäischen Union, die sich die Entsendung von 15 Beobachtern im März 2008 eine Million Euro kosten ließ. Jedenfalls hat die neue Ordnung dafür gesorgt, dass alle Regionen und Ethnien nach Bevölkerungszahl und Bedeutung angemessen vertreten sind. Das gilt auch für die nepali-stämmigen Lhotshampas, die neben einigen Abgeordneten auch zwei Minister und den Vizepräsidenten des Parlaments stellen. Einer von ihnen, der Katholik Justin Gurung, wurde das erste christliche Mitglied eines Bhutaner Parlaments. Beobachter werten das als ein Indiz für die Ernsthaftigkeit der verfassungsmäßigen Glaubens- und Meinungsfreiheit.
Wie sich die nun etablierten Parteien in politischen Fragen unterscheiden werden, muss sich noch erweisen. Die beiden von ihnen vorgelegten Programme, die sich entschieden zu den Zielen der Verfassung, zur kulturellen Tradition, zu GNH und zur Monarchie bekennen, hätten ohne weiteres vom gleichen Autor stammen können. Die Wähler haben sich verständlicherweise eher an den Personen als an den Programmen orientiert. Unter diesen Umständen erscheint es auch abwegig, wenn ausländische Medien von einem „Sieg der Monarchisten“ sprechen. Schließlich dürfte der Führer der unterlegenen Partei als Onkel des jungen Königs und ehemaliger Ministerpräsident kaum als weniger königstreu anzusehen sein als die anderen Politiker.
Inzwischen haben Nationalrat und Nationalversammlung bereits ihre Ausschüsse gebildet, den Haushalt verabschiedet, einen neuen Fünfjahresplan vorbereitet und sich mit Energie der Aufgabe zugewandt, den Stau in der Gesetzgebung abzuarbeiten. Dabei zeigt sich, dass die neue politische Elite aus einer ziemlich ausgewogenen Mischung von erfahrenen Exministern, erprobten Beamten und Altersgenossen des früheren Königs sowie Nachwuchspolitikern aus akademischen Berufen besteht. Der Korruptionsgefahr, die in der Diskussion zur Einführung der Demokratie eine erhebliche Rolle spielte, will man durch eine besondere Kommission und allgemeine Wachsamkeit begegnen.
Der Vorsitzende der Verfassungskommission, Chief Justice Sonam Tobgye, berichtet, dass er zum Entwurf mehr als 500 Stellungnahmen aus dem In- und Ausland erhalten habe. Darunter befand sich auch der Bericht einer Fachkonsultation, die im September 2005 bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung unter Mitwirkung der Deutschen Bhutan Himalaya Gesellschaft stattgefunden hatte. Dass die Bundesrepublik etwa zur gleichen Zeit ihre Entwicklungszusammenarbeit mit Bhutan auslaufen ließ, ist eher als unglücklicher historischer Zufall zu werten – bedauerlich, aber angesichts mangelnder politischer und wirtschaftlicher Interessen wohl verständlich. Es erstaunt hingegen, dass sich deutsche politische Stiftungen und Akademien, deren Arbeit der demokratischen Entwicklung in aller Welt gewidmet ist, anscheinend kaum um diesen historischen Vorgang gekümmert haben. Schließlich bieten sie anderswo, etwa in Nordkorea, unermüdlich Rat und gute Dienste an. Möglicherweise vertrauen sie auf Bhutans Kräfte der Eigenständigkeit, und vermutlich ist das gar nicht einmal so falsch.
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Bhutan haben sich seit der EXPO 2000 mit dem schönen Tempelpavillon in Hannover ständig verbessert. Der Tourismus hat erheblich zugenommen, gegenseitige Besuche wichtiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind keine Seltenheit. Das Konsularabkommen wird leider nur einseitig wahrgenommen: Die Bundesrepublik hat bislang keinen Honorarkonsul in Bhutans Hauptstadt Thimphu ernannt. Das führt zu erheblichen Schwierigkeiten, wenn sich Bhutaner für eine Deutschlandreise ein Visum ausstellen lassen wollen: Sie müssen es persönlich in Neu-Delhi beantragen. Doch es steht zu hoffen, dass es in absehbarer Zeit sogar zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen kommen wird.
Manfred Kulessa ist Ehrenvorsitzender der Deutschen Bhutan Himalaya Gesellschaft und war acht Jahre lang Honorarkonsul des Königreichs Bhutan. Vor seinem Ruhestand war er vierzig Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit tätig, unter anderem für DED, Kirchen und die Vereinten Nationen.
welt-sichten 11-2008