Eine Region im Aufbruch

Bolivien, Ecuador und Peru haben in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Wirtschaftsaufschwung verzeichnet. Die Armut ist zwar deutlich zurückgegangen, doch die Kluft zwischen Arm und Reich ist noch immer groß. Die jahrhundertelange Unterdrückung der Ureinwohner durch die spanischen Kolonialherren, aber auch neoliberale Wirtschaftsreformen in den 1970er Jahren wirken bis heute nach. Die gegenwärtigen Regierungen stehen vor großen Aufgaben.

Die Zentralanden, Bolivien, Ecuador und Peru, sind für Wissenschaftler und Reisende gleichermaßen reizvoll. Landschaftliche Schönheit, eine reiche Geschichte und die Gastfreundlichkeit der Menschen verzaubern die Besucher. Im vergangenen Jahr besichtigten über 800.000 Touristen die Inka-Ruinenstadt Machu Picchu bei Cusco in Peru.

Doch die Anden sind auch aus eher traurigen Gründen in das Blickfeld geraten. In den 1980er Jahren schreckten die Grausamkeiten der Guerillabewegungen in Peru (Sendero Luminoso und die Revolutionäre Bewegung Túpac Amaru) sowie die unverhältnismäßige Gewalt, mit der sie von den Streitkräften bekämpft wurden, die internationale Öffentlichkeit auf. Zwischen 1996 und 2005 prägten Nachrichten über die chronische politische Instabilität in Ecuador das Bild. Mitunter gilt die Aufmerksamkeit Ereignissen, die eine historische Gerechtigkeit schaffen, wie 2006 die Wahl von Evo Morales in Bolivien. Er gilt als erster indigener Präsident Lateinamerikas – wobei dieser Titel eigentlich Benito Juárez gebührt, der 1861 bis 1872 an der Spitze Mexikos stand. Auch der frühere peruanische Präsident Alejandro Toledo ist indigener Abstammung.

Autor

Julio F. Carrión

ist Professor an der Fakultät für Politikwissenschaften und Inter­nationale Beziehungen der Universität von Delaware (USA).

Bolivien, Ecuador und Peru entstanden als Nationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitskriege. Peru umfasst im Wesentlichen das Gebiet, das gegen Ende der Kolonialzeit als „Reales Audiencias“ (Königliche Gerichtshöfe mit ihren Bezirken) von Lima und Cusco bekannt war. Bolivien und Ecuador wurden auf den Territorien der „Reales Audiencias“ von Charcas beziehungsweise Quito gegründet. Die territorialen Grenzen waren allerdings nicht ganz klar, was zu häufigen Grenzstreitigkeiten führte.

Wie die anderen Staaten in der Region hatten diese Länder im Laufe des 19. Jahrhunderts nur selten stabile demokratische Regierungen. Der Befreier Simón Bolívar wollte mit der Einführung einer lebenslangen und erblichen Präsidentschaft Ordnung schaffen, aber diese Bemühungen scheiterten. Die neu entstandenen Andenrepubliken litten jahrzehntelang unter Konflikten zwischen militärischen Anführern, die sich in ihrem Ehrgeiz untereinander die Macht streitig machten.

Ethnisch sind sich die drei Länder sehr ähnlich. Obwohl der Anteil der indigenen Bevölkerung in Bolivien deutlich höher ist als in Peru oder Ecuador, stellen in allen drei Ländern die Indios einen signifikanten Bevölkerungsanteil. Laut einer Studie von 2006 sind in Bolivien 62 Prozent der Bevölkerung Indigene, in Peru 38 Prozent und in Ecuador 25 Prozent. Mit der Unabhängigkeit von Spanien wurde der Umgang mit den Ureinwohnern zu einem zentralen Thema.

Während der dreihundertjährigen spanischen Kolonialherrschaft wurde die indigene Bevölkerung unterdrückt. Zu ihrer Verwaltung teilte die Rechtsordnung das Vizekönigreich in eine „Republik der Spanier“ und eine „Republik der Indios“ auf. Die Indigenen waren gezwungen, in Bergwerken und auf den Ländereien von Großgrundbesitzern zu arbeiten. Ihnen waren bestimmte, für Weiße vorbehaltene Berufe verwehrt und sie mussten  eine besondere Abgabe (tributo indígena) entrichten. Diese Steuer, die anfangs in Form von Arbeit oder Naturalien und später in Bargeld bezahlt wurde, machte die Indigenen zu einer unverzichtbaren Einnahmequelle für den Staat und war zugleich ein Symbol der Unterordnung.

Dieses System stieß aber wegen der Mestizen, also den Nachkommen aus Beziehungen von Spaniern mit Indiofrauen und Afrikanerinnen,  schnell an seine Grenzen. Die Mestizen wurden der Republik der Indios zugerechnet, hatten aber oft Zugang zu Berufen, die eigentlich den Weißen vorbehalten waren, indem sie ein Zertifikat über die „Reinheit des Blutes“ erwarben. Solche Zertifikate ließ sich die spanische Krone entsprechend bezahlen. Wer auf diesem Weg offiziell als „Weißer“ anerkannt war, genoss einen höheren sozialen Status als die Indigenen. Das ist die historische Ursache für die ethnische Diskriminierung, unter der die andinen Gesellschaften bis heute leiden: Sie beruht nicht auf räumlicher Trennung, sondern auf der tiefen Überzeugung, dass Menschen mit überwiegend europäischem Aussehen etwas Besseres sind.

Obwohl in den neuen Verfassungen nach der Unabhängigkeit die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz verankert war, wurden die Tributzahlungen der Indios noch einige Jahrzehnte lang aufrechterhalten. Die Großgrundbesitzer verfügten weiterhin über ausgedehnte Ländereien und die Indios sahen sich gezwungen, dort wie Leibeigene zu arbeiten. Die Armut, Ausbeutung und Grausamkeit, unter der sie litten, sind in bemerkenswerter Weise in der Literatur beschrieben – besonders in den Romanen des Peruaners Ciro Alegría und des Ecuadorianers Jorge Icaza.

Im 20. Jahrhundert wiesen Bolivien, Ecuador und Peru eine relativ ähnliche soziale Struktur auf: eine weiße wirtschaftliche und politische Elite mit ihren Wurzeln in der Kolonialzeit und der europäischen Einwanderung, eine Mittelschicht aus Mestizen und eine breite ländliche Volksschicht überwiegend indianischer – und in geringerem Maße afrikanischer – Abstammung. Auch wenn es heute nicht mehr ganz so ausgeprägt ist, haben die Eliten häufiger europäisch anmutende Gesichtszüge als diejenigen, die körperlicher Arbeit nachgehen. Der Zusammenhang zwischen ethnischer Herkunft und sozialer Stellung ist der Teil des kolonialen Erbes, der am hartnäckigsten bis in die Gegenwart fortwirkt.

Die Geschichte der Andenländer ist geprägt von der Allgegenwart von Militärregimes. In Ecuador und Peru herrschte in den 1970er Jahren fast ausschließlich das Militär; in Bolivien war es zwischen Mitte der 1960er und Anfang der 1980er Jahre an der Macht. In allen drei Ländern haben die Militärregierungen dauerhafte Spuren hinterlassen. In Ecuador und Peru begünstigten sie durch eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen die Modernisierung. So setzten sie etwa Agrarreformen durch, mit denen Großgrundbesitz und Leibeigenschaft abgeschafft wurden. Außerdem nahm in beiden Ländern der Staat im Zuge der Verstaatlichung der Ölindustrie und der Schaffung von staatlichen Unternehmen stärkeren Einfluss auf die Wirtschaft. Ferner wurden per Gesetz der Arbeitnehmerschutz verbessert und die Gründung von Gewerkschaften erleichtert. In Bolivien bewegten sich die Militärregierungen zwischen dem Populismus (insbesondere die Regierungen von Alfredo Ovando und Juan José Torres) und der konservativen Reaktion (mit Hugo Banzer). Gegen Ende der 1970er Jahre gelang in Ecuador und Peru ohne größere Zwischenfälle der Übergang zur Demokratie. In Bolivien dagegen ging es eine Weile vor und zurück, unter anderem unter der extrem korrupten und repressiven Regierung des Generals Luis García Meza. Die Einführung der Demokratie verzögerte sich bis Ende 1982.

Eine gravierende Wirtschaftskrise erschwerte die Anfangsjahre der Demokratisierung. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten – und die andinen Länder bildeten da keine Ausnahme – stand wegen Haushaltsdefiziten und einem hohen Schuldendienst vor gravierenden Wirtschaftsproblemen. Als Anfang der 1980er Jahre die internationalen Zinssätze stiegen, bekamen die Länder ernsthafte Schwierigkeiten, ihre Zinsen weiter zu bezahlen. Auch die staatliche Stützung der Preise von Grundlebensmitteln belastete die Ausgabenseite. Manche Regierungen in der Region verschlimmerten die Probleme noch mit der Regulierung von Preisen und Gehältern und einer weiteren Ausgabensteigerung, was zur Hyperinflation führte. 1985 lag die jährliche Inflation in Bolivien bei 8170 Prozent; 1990 in Peru bei 7949 Prozent. Das erste Jahrzehnt der Demokratisierung fiel also zusammen mit der akuten wirtschaftlichen Krise und wird deshalb das „verlorene Jahrzehnt“ genannt.

In diesem Umfeld ergriffen einige lateinamerikanische Länder – darunter auch Bolivien und Peru – radikale neoliberale Wirtschaftsreformen. Zentrale Elemente dieser Programme waren die Verschlankung des Staates, der Verkauf staatlicher Unternehmen, die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Wettbewerber, die Abgabenreform und die Kürzung oder Streichung staatlicher Beihilfen. Die Diskussion darüber, ob diese Politik vorteilhaft war oder nicht, hält noch immer an. Laut den Befürwortern hat sie die Wirtschaft stabilisiert, die Inflation dramatisch eingedämmt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und den Staat modernisiert. Kritiker führen dagegen an, dass diese Politik – zumindest in der Anfangsphase – ernsthafte soziale Probleme hervorgerufen und die Armut, Arbeitslosigkeit und die Ungleichheit der Einkommen gesteigert hat.

Eine der Folgen von Wirtschaftskrise und Neoliberalismus ist eine zunehmende Mobilisierung der Indigenen. Traditionellerweise haben sie sich nur sporadisch zur nationalen Politik zu Wort gemeldet. Den vielen Analphabeten unter ihnen wurde das Stimmrecht verwehrt, weil die Verfassungen Lesen und Schreiben zu einer Grundvoraussetzung für die Teilnahme an Wahlen machten. In Bolivien erhielten Analphabeten erst nach der Revolution von 1952 das Stimmrecht. In Ecuador und Peru mussten sie noch fast dreißig Jahre länger darauf warten, dass ihnen dieses Recht in der Verfassung zugestanden wurde (1978 in Ecuador und 1979 in Peru).

Aber nicht die Beteiligung an Wahlen, sondern unkonventionelle Formen des politischen Aktivismus haben den Indigenen nationale und internationale Aufmerksamkeit beschert. In den vergangenen zwanzig Jahren hat der Dachverband der indigenen Organisationen in Ecuador CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador) eine Reihe erfolgreicher Aufstände geleitet, bei denen es zunächst lediglich um die Forderung nach Landbesitz ging. Dann aber galt der Widerstand zunehmend der nationalen Politik, etwa der Einführung des US-Dollars als Landeswährung und dem Freihandelsabkommen mit den USA.

In Bolivien machten Indigene mobil gegen die politischen Bestrebungen, den Koka-Anbau abzuschaffen und die öffentlichen Dienstleistungen zu privatisieren; in jüngster Vergangenheit gab es Proteste im Zusammenhang mit der Energiepolitik. Präsident Evo Morales begann sein öffentliches Leben als Gewerkschaftsführer der Kokabauern in der Region Chapare und zog später über die Parteiliste des Movimiento al Socialismo (MAS) in den Kongress ein. Die indigene Bevölkerung hatte entscheidenden Anteil an der Mobilisierung gegen die Entscheidung von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada, Erdgas über einen chilenischen Hafen zu exportieren. Gefordert wurde auch eine stärkere Beteiligung des Staates an den Erträgen der ausländischen Unternehmen, die Rohstoffe abbauen. Obwohl die Wahl von Morales zum Präsidenten 2006 ohne die Unterstützung weiter Teile der von den Mestizen geprägten Mittelschicht nicht möglich gewesen wäre, bildet die indigene Bewegung den eigentlichen Kern seiner Partei.

 In Peru hingegen gibt es keine breit angelegte Mobilisierung der Indigenen. Das hat geht unter anderem auf die Gewalt zurück, die die Guerillabewegung Sendero Luminoso in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er verbreitet hat – viele indigene Führer wurden von der Guerilla ermordet, weil sie sich ihr nicht anschließen wollten –, und auf die darauf folgende unterschiedslose staatliche Repression.

Wenig Beachtung finden meist die politischen Auswirkungen der neoliberalen Marktreformen. In Peru wurden sie von der autokratischen Regierung Alberto Fujimoris durchgeführt, der unter dem Schutzmantel einer breiten Unterstützung des Wahlvolkes einen autoritären Regierungsstil pflegte. In Ecuador führten sie zu einer Periode politischer Instabilität. In Bolivien stützte sich der Neoliberalismus auf die politischen Pakte Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, die am Ende große Unzufriedenheit hinterließen. Die Wahlsiege von Rafael Correa in Ecuador und Evo Morales in Bolivien erklären sich zum Teil aus der Enttäuschung der Bürger über die Folgen des Neoliberalismus.

In den vergangenen Jahren haben die Ökonomien der Andenländer aufgrund steigender Preise für ihre Exportprodukte einen kräftigen Aufschwung erfahren. So wuchs etwa die Wirtschaft Perus zwischen 2004 und 2008 jährlich um mehr als fünf Prozent. Auch die Wirtschaftskraft Boliviens und Ecuadors stieg in diesen Jahren. In der Folge ist die Armut signifikant zurückgegangen. In Ecuador ist der Anteil der Armen in städtischen Gebieten zwischen 1999 und 2008 von 63 Prozent auf 39 Prozent gesunken. In Peru ist die städtische Armut von 42 Prozent im Jahr 2001 auf 23 Prozent im Jahr 2008 zurückgegangen. Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie sich die aktuelle Finanzkrise auf die Armut auswirken wird.

Trotz Wirtschaftswachstum kämpfen die Andenländer mit gravierenden Problemen. Neben der sozialen Ungleichheit und der Diskriminierung indigener Gruppen bereiten Kriminalität und Korruption große Sorgen. Eine der zentralen Aufgaben dieser Länder besteht darin, das Wirtschaftswachstum im Rahmen einer robusten liberalen Demokratie mit sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Ihre Geschichte ist voller Episoden mit Präsidenten, die – von einer vom Wunsch nach Veränderung getriebenen Menge an die Macht gebracht –  ihre Position missbraucht haben. Es ist zu hoffen, dass sich bei den gegenwärtigen, im Zeichen des Wandels stehenden Präsidentschaften diese Geschichte nicht wiederholt.

Aus dem Spanischen von Barbara Kochhan.

 

erschienen in Ausgabe 7 / 2010: Andenländer, alte Kulturen neue Politik
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