Anfang 2026 übernimmt die Schweiz zum dritten Mal nach 1996 und 2014 den jährlichen Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Und vermutlich wird das kommende Jahr so anspruchsvoll wie keines zuvor: Seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 befinde sich die OSZE in einer bisher ungekannten Krise, schreibt der Sicherheitsexperte Alexander Graef von der Universität Hamburg. Denn die Polarisierung zwischen den Konfliktparteien und ihren jeweiligen Verbündeten hat direkte Auswirkungen auf das Wirken der Organisation.
Die OSZE wurde 1995 als Nachfolgeorganisation der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gegründet mit dem Ziel, Frieden in Europa und den Wiederaufbau nach Konflikten zu fördern.
Auf der einen Seite hatte die OSZE damals im Februar 2022 unter Vorsitz Polens eine „no business as usual“-Politik verkündet und sich aufgrund der Schwere von Russlands Verstoß gegen internationales Recht auf die Seite der Ukraine gestellt. Auf der anderen Seite blockieren Russland und Belarus seither zahlreiche Entscheidungen in der Organisation – denn viele wichtige Entscheidungen können nicht allein vom Generalsekretär und dem Vorsitzland durchgesetzt werden sondern erfordern den Konsens aller Mitglieder.
Die politische Krise hat die OSZE in vielen Bereichen handlungsunfähig gemacht. Es finden kaum noch Dialoge in ihrem Rahmen statt, das letzte jährliche Budget wurde 2021 verabschiedet, und Russland verlangt, dass nur noch Nicht-NATO-Mitglieder den Vorsitz der OSZE übernehmen.
2014 stand Deeskalation auf der Tagesordnung
In diesem Umfeld übernimmt die Schweiz kommendes Jahr den Vorsitz. Ihre Handlungsmöglichkeiten seien durch die allgemeine politische Lage natürlich begrenzt, sagt Thomas Greminger, Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik und ehemaliger Generalsekretär der OSZE. Die Situation heute sei fundamental anders als etwa 2014, als die Schweiz das letzte Mal den Vorsitz innehatte. Es war das Jahr, in dem Russland die ukrainische Krim-Halbinsel annektierte. „Damals waren alle Seiten daran interessiert, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen“, sagt Greminger. Als Plattform für den diplomatischen Austausch sei die OSZE deshalb allen willkommen gewesen. Das sei heute anders. „Die OSZE als Krisenmanagerin kann nur so wichtig sein, wie es die Konfliktparteien zulassen.“
Trotzdem, sagt Greminger, habe die Schweiz Spielräume. „Russland sieht die Schweiz offiziell zwar nicht als neutral an, weil sie die Sanktionen mitträgt“, sagt Greminger. Aber Russland komme trotzdem noch auf Dialogplattformen der Schweiz zurück, weil sie für Moskau in der „Kategorie der unfreundlichen Staaten“ immer noch deutlich besser sei als andere.
Zur Vorbereitung der Amtsübernahme hat die Schweiz im September fünf Schwerpunkte festgelegt: Sie will sich für einen gerechten Frieden in der Ukraine einsetzen, der auf dem Völkerrecht fußt; einen offenen Dialog über Sicherheit zwischen Russland und den USA fördern; die Verbindung von Technologie, zum Beispiel der Digitalisierung, und Regierungsführung fördern; demokratische Strukturen in den Mitgliederstaaten fördern und sicherstellen, dass die Handlungsfähigkeit der OSZE, wie etwa Wahlbeobachtungen, erhalten bleibt und sich dafür finanziell einsetzen.
Greminger begrüßt diese Punkte grundsätzlich. Er sagt aber: „Neutralität ist kein Selbstläufer, passiv passiert nichts.“ Die Schweiz müsse sich gut vorbereiten und sich überlegen, wie sie ihre Ziele genau umsetzen will. „Dort muss sie dann neben diplomatischem Können auch politisches Kapital investieren.“ Etwa dadurch, dass sich auch die Schweizer Regierung – Bundesrat und Außenminister – für die Ziele einsetze.
Als Beispiel nennt Greminger die 5000 Kilometer lange Grenze zwischen den NATO-Staaten und Russland. Hier gebe es im Moment kaum Krisenkommunikation, keine vereinbarten Regeln, wie man mit militärischen Zwischenfällen umgehen soll, die eine unbeabsichtigte Eskalation zur Folge haben könnten. Hier könnte die Schweiz einen Dialog anregen.
Insgesamt, sagt Greminger, hänge die Zukunft der OSZE wesentlich vom Verlauf des Krieges in der Ukraine ab. Sollte dieser in einvernehmlicher Weise enden, könnte die OSZE wieder eine zentrale Rolle einnehmen beim Wiederaufbau einer Sicherheitsarchitektur in Europa. Denn der Vorteil der OSZE sei, dass Initiativen auch wesentlich von kleineren Staaten als Brückenbauer vorangetrieben werden könnten, anstatt dass die Staatschefs der großen Länder USA, Russland, Frankreich oder Deutschland sich zusammensetzten und gegenseitig blockieren. Das habe sich während des Kalten Krieges gezeigt. Sollte der Konflikt und damit die Polarisierung in der OSZE allerdings anhalten, drohe die Organisation „in kleinen Schritten Richtung Irrelevanz zu gehen“, so Greminger.
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