In Pétionville, einem Vorort in den etwas kühleren Hügeln am Rand von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, geht es in diesen Tagen geschäftig zu. Die Straßen des knapp 300.000 Einwohner großen Stadtteils sind von Händlern belagert, auf jedem noch so kleinen Platz ist ein informeller Markt entstanden. Frauen mit breitkrempigen Strohhüten sitzen auf den Bürgersteigen und haben vor sich ihre Waren ausgebreitet: Kartoffeln und Karotten, Avocados, Mangos und Maniokwurzeln. Andere bieten Schuhe oder T-Shirts an, meistgebrauchte Artikel aus reicheren Ländern. Für den Verkehr bleibt oft nur eine schmale Fahrspur, und auch die wird immer wieder von Passanten blockiert.
Die Geschäftigkeit ist kein Zeichen von florierendem Handel; sie ist ein Zeichen der Krise. Rund 85 Prozent der Hauptstadt werden nach Schätzungen der Polizei von kriminellen Banden kontrolliert, mehr als ein Drittel der rund drei Millionen Einwohner von Port-au-Prince sind vor ihnen geflohen. Die Straßenhändler, die sich vorher über das ganze Stadtgebiet verteilten, drängen sich nun in den wenigen noch einigermaßen sicheren Vierteln. In den meisten Schulen findet kein Unterricht mehr statt, viele sind in Flüchtlingslager umfunktioniert worden.
Auch der Flughafen ist geschlossen, seit Mitte November vergangenen Jahres drei Passagierflugzeuge beim Landeanflug von Banden beschossen wurden. Die Kriminellen blockieren zudem alle Straßen, die nach Port-au-Prince hineinführen. Lebensmittel kommen nur noch spärlich in die Stadt und nur dann, wenn die Fahrer der Lastwagen an den Kontrollpunkten der Banden Zoll bezahlen. In der Stadt ist alles so teuer geworden, dass sich viele Arme kaum das Nötigste leisten können. Nach einer Erhebung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen herrscht in neun von zehn Haushalten in Port-au-Prince Hunger. Viele essen nur noch einmal am Tag und an manchen Tagen gar nichts. Fast 6000 Menschen sind im vergangenen Jahr von kriminellen Banden oder im Kampf gegen sie getötet worden.
In Stadtvierteln, in die die Banden noch nicht eingedrungen sind, organisieren die Bewohner Bürgerwehren. Junge Männer, bewaffnet mit Macheten und manchmal auch mit Pistolen und Flinten, bewachen die Zugänge. Sie kontrollieren jedes Auto und jeden Fußgänger, den sie nicht kennen. Erwischen sie jemanden, den sie für das Mitglied einer Bande halten, erschlagen sie ihn. Die Leichen werden mit Benzin überschüttet und verbrannt. Über tausend Menschen sind dieser Lynchjustiz schon zum Opfer gefallen. Um neun Uhr am Abend sperren die Bürgerwehren ihre Viertel mit Eisengittern oder Barrikaden aus Müll und Schrottautos ab. Bis um fünf Uhr in der Frühe herrscht eine faktische Ausgangssperre. Abgesehen von gelegentlichen Schusswechseln ist es still in der Nacht. Port-au-Prince ist eine belagerte Stadt.
Bei Starkregen stehen die Klassenzimmer unter Wasser
In der Nacht wird es eng im Lager der Vertriebenen in der Grundschule République de Colombie, das im gleichnamigen Stadtviertel von Port-au-Prince liegt. Am Tag sind viele, die dort Unterschlupf gefunden haben, auf der Straße unterwegs, suchen nach einem Gelegenheitsjob oder handeln mit was auch immer. Nachts suchen sie den Schutz der Schule. In den Klassenzimmern, in den Gängen, auf dem Schulhof – überall liegen Menschen Körper an Körper. Manche haben eine Matratze, andere schlafen auf Pappkartons und viele direkt auf dem Betonboden.
„Wenn es regnet, ist es besonders schlimm“, sagt Devallon Enock. Die wenigen Abflussschächte werden der Wassermassen eines tropischen Wolkenbruchs nicht Herr. „Nicht nur die Gänge und Höfe stehen dann unter Wasser, sondern auch die Klassenzimmer. Erst wenn der Regen aufhört und wir alles aufgewischt haben, können wir schlafen.“ Der 27-Jährige in Jeans und T-Shirt lebt seit einem halben Jahr in der Schule. Die besteht aus acht Klassenzimmern in zwei langgestreckten Gebäuden, dazu kommt ein Gebäude mit Lehrerzimmern und ein kleiner Schulhof. Es gibt zwei Toilettenhäuschen, die man schon von weitem riecht. Überall hängt Wäsche zum Trocknen. Die Gebäude haben ein Wellblechdach, unter dem sich die Hitze des Tages staut. Über dem Schulhof haben die Bewohner Plastikplanen gegen den Regen gespannt, darunter spielen Kinder.
„Eigentlich müsste sich der Staat um die Vertriebenen kümmern“, sagt Enock. „Weil er das nicht tut, haben wir die Schule besetzt.“ Schwierigkeiten bereite vor allem die Versorgung mit Lebensmitteln. Hin und wieder bringe irgendein Hilfswerk ein paar Säcke Reis oder Bohnen vorbei, aber darauf sei kein Verlass. „Im Wesentlichen sind wir auf uns selbst gestellt.“ Man versuche, in möglichst großen Gruppen Lebensmittel einzukaufen, um bessere Preise zu bekommen. 1145 Menschen aus 415 Familien leben in der Schule, fast alle aus Solino, einem Stadtteil in den Hügeln von Port-au-Prince. Enock hatte dort einmal einen kleinen Laden, in dem er Mobiltelefone reparierte. „Heute wohnt dort niemand mehr“, sagt er.
Schutzgelderpressung und Entführungen bringen den Banden Geld ein
Unter den Bewohnern Solinos gab es viele Polizisten, ein paar Militärs und Angestellte privater Sicherheitsdienste. Die hatten eine Bürgerwehr aufgestellt, die den Stadtteil über ein Jahr lang gegen Angriffe der Banden verteidigte. Dann rückten im Sommer 2024 Polizisten und Soldaten der kleinen haitianischen Armee mit zehn gepanzerten Fahrzeugen ein und übernahmen den Schutz. Die Bürgerwehr zog sich zurück. „Wir haben dem Frieden nie getraut, es gab weiterhin Drohungen“, erzählt Enock. „Wir hatten immer alles Nötige in Taschen verpackt, um sofort verschwinden zu können.“
Autor
Toni Keppeler
ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.Das Viertel war für Kriminelle eigentlich nicht besonders attraktiv. Dort wohnten keine reichen Leute. Aber von Solino aus gelangt man in die hoch gelegenen Teile von Delmas, einem Stadtteil von einer knappen halben Million Einwohnern. Unten in der schmalen und heißen Küstenebene wohnen die Armen in Hütten; oben in den Hügeln, wo die Luft besser und kühler ist, liegen versteckt hinter hohen Mauern große Anwesen mit Garten und Pool. Hier können Schutzgelderpressung und Entführungen viel Geld einbringen. Seit Solino zerstört wurde, ist der Weg in die Höhenlagen von Delmas für die Banden frei.
Banden wurden von Politikern aufgebaut
Kriminelle Banden sind kein neues Phänomen in Haiti. François Duvalier, der das Land von 1957 bis zu seinem Tod 1971 als Diktator beherrschte, hat aus Kriminellen den ihm hörigen Schlägertrupp der Tontons Macoutes aufgebaut, benannt nach einer haitianischen Märchenfigur, die unartige Kinder in eine Umhängetasche steckt und mitnimmt. Der Trupp terrorisierte die Bevölkerung, ermordete Oppositionelle und Intellektuelle und sicherte so die Macht Duvaliers. Mindestens 30.000 Menschen wurden in François Duvaliers Regierungszeit und in der darauffolgenden seines Sohns Jean-Claude (1971 bis 1986) ermordet, Millionen retteten sich ins Exil. Das Beispiel der Tontons Macoutes machte Schule. Viele Politiker bauten nach dem Sturz der Diktatur ihre eigenen Banden auf, die ihnen Wahlsiege garantieren sollten. Sie schüchterten Wähler ein, vertrieben oder ermordeten gegnerische Kandidaten, und wenn trotzdem eine Wahlniederlage drohte, fackelten sie die Urnen ab.
Der Politiker, der dies am besten beherrschte, war Jovenel Moïse, der Präsident Haitis von 2017 bis zu seinem gewaltsamen Tod am 7. Juli 2021. In Armenvierteln, in denen gegen ihn demonstriert wurde, richteten seine Banden Massaker mit Dutzenden von Toten an. Einkaufszentren oder Autohäuser von Geschäftsleuten, die den privaten Geschäftsinteressen des Präsidenten im Weg standen, ließ er von seinen Handlangern niederbrennen. Der führende Kopf dieser Banden war Jimmy Chérizier, ein ehemaliger Elitepolizist, den man „Barbecue“ nennt, weil er seine Opfer oft verbrennt. Der Mord an Moïse ist zwar bis heute nicht aufgeklärt. Man kann aber davon ausgehen, dass die Auftraggeber unter einflussreichen Geschäftsleuten zu suchen sind, die unter den Banden des Präsidenten zu leiden hatten.
Mit dem Tod von Moïse verlor Chérizier seinen Auftraggeber und seine Geldquelle. Seither geht er auf eigene Faust vor. „Die meisten Banden sind heute autonom“, sagt Patrick Pélissier, seit Mitte November vergangenen Jahres Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit in der derzeitigen Übergangsregierung. „Sie sind nicht mehr von den Politikern abhängig, die sie einst aufgebaut haben.“ Sie finanzierten sich mit Entführungen und Schutzgelderpressung, und viele seien auch in den Drogenhandel verstrickt. Die Küsten Haitis werden kaum überwacht, die Regierung verfügt nicht über die nötigen Schnellboote. Das Land ist wichtige Durchgangsstation auf dem Weg des Kokains von Kolumbien in die USA.
Zudem gebe es Hinweise auf Organhandel. „Wir haben über ein Dutzend Leichen ohne Organe gefunden“, sagt Pélissier. „Und wir haben vor kurzem einen Chirurgen verhaftet, der entführt worden war. Er sollte verwundete Bandenmitglieder verarzten und Entführungsopfern Organe entnehmen.“ Der Arzt sei erstaunt gewesen über die medizinischen Installationen, über die die Banden verfügten. „Organhandel ist ein internationales Geschäft, in dem viel Geld bewegt wird. Diese kriminellen Netzwerke haben die Mittel, um ihr eigenes Krankenhaus einzurichten.“
„Die Banden haben Waffen, die die Polizei nicht hat“
Nach anfänglichen blutigen Kriegen zwischen verschiedenen Gangs um Einflussbereiche ist es Chérizier gelungen, eine große Allianz aus Banden zu schmieden, die er „Viv ansanm“ nennt, „Zusammen leben“. Die Zahl der Bandenmitglieder wird allgemein auf 12.000 geschätzt, wobei etwa die Hälfte jünger als 18 Jahre sein soll. Die Polizei verfügt über nur rund 9000 einsatzfähige Sicherheitskräfte, die nicht nur für die Hauptstadt, sondern für das ganze Land zuständig sind. In Port-au-Prince wird sie von knapp tausend Polizisten einer internationalen Truppe unter der Führung von Kenia unterstützt. Das eigentliche Problem aber seien nicht die Zahlen, sagt der Minister. „Die Banden haben Waffen, die die Polizei nicht hat. Sie können gepanzerte Militärfahrzeuge aufhalten und haben eine Offensivkraft, die wir nicht haben.“
Trotzdem gelingt es der Polizei – oft gemeinsam mit den Bürgerwehren – immer wieder, in Hochburgen der Banden einzudringen und bei Feuergefechten ein paar Dutzend ihrer Mitglieder zu erschießen. Die staatlichen Sicherheitskräfte aber haben nicht die Kraft, solche Gebiete dann auch zu halten. Zudem haben die Kriminellen eine infame Strategie, Angriffe abzuwehren. „Sie zwingen Kinder aus den Armenvierteln, als menschliche Schutzschilde voranzugehen“, weiß Nadine Saint-Ilma, die sich für das regierungsunabhängige Haitianische Institut für Menschenrechte mit dem Bandenunwesen befasst. „Kein Polizist will auf Kinder schießen, aber die Banden schießen hinter ihrem Schutz hervor auf die Polizisten.“
Neue Polizisten und Soldaten werden gerade ausgebildet
Lange haben sich die kriminellen Umtriebe auf Port-au-Prince und die nähere Umgebung konzentriert, wo sich der Reichtum ballt. Im restlichen Land blieb es verhältnismäßig ruhig. Seit März aber gibt es Hinweise darauf, dass die Banden ihr Gebiet vergrößern wollen. Es gab immer wieder Überfälle im Süden und im Zentrum des Landes. So wird auch die rund 200.000 Einwohner zählende Provinzstadt Léogâne dreißig Kilometer südwestlich der Hauptstadt inzwischen teilweise von Banden kontrolliert.
Trotzdem ist Minister Pélissier nicht ohne Hoffnung. „Wir bilden derzeit über 700 neue Polizisten aus“, sagt er. Dazu kämen in den nächsten Monaten 3000 neue Soldaten, die in Brasilien für den Kampf gegen kriminelle Banden ausgebildet werden. „Es geht nicht nur um Zahlen, es geht auch um technisches Wissen.“ Man brauche spezielle Einheiten für Aufklärungsarbeit, und neuerdings gebe es eine Gruppe, die mit Drohnen gegen die Banden vorgehe und über ihren Hauptquartieren Sprengkörper abwerfe.
Zudem soll der Waffennachschub der Kriminellen abgeschnitten werden. „Die meisten Waffen kommen über die Grenze aus der Dominikanischen Republik oder übers Meer aus Kolumbien“, sagt Pélissier. Die Grenze zum Nachbarland wird nun strenger kontrolliert. Und mit Kolumbien hat Haiti Ende Januar ein Abkommen geschlossen, in dem sich Kolumbien verpflichtet, seine Küstengewässer besser zu kontrollieren und auch Haiti mit entsprechenden Booten auszustatten. „Wenn es uns gelingt, den Waffennachschub zu unterbinden, werden die Banden schwächer werden“, sagt der Minister. „Dann haben wir eine Chance.“
Kinder, die Banden verlassen, sollen aufgefangen werden
Und noch ein dritter Punkt steht auf Pélissiers Prioritätenliste. Ein Programm mit dem Kürzel DDR, das auch schon in anderen Konfliktgebieten angewandt wurde. Die drei Buchstaben stehen für Disarmament (Entwaffnung), Demobilization (Demobilisierung) und Reintegration (Wiedereingliederung). Ziel sind vor allem die Kinder und Jugendlichen in den Banden. „Wir arbeiten eng mit Sozialarbeitern zusammen und wissen, dass viele Kinder die Banden verlassen wollen“, sagt der Minister. „Aber wenn sie in von Banden kontrollierten Gegenden wohnen, haben sie keine Wahl. Man verlangt von ihnen, dass sie mitmachen, und es gibt keine Institution, die sie auffangen könnte.“ Eine solche soll nun geschaffen werden.
Bislang gibt es nur ein Jugendgefängnis in Port-au-Prince, und auch das wurde längst zweckentfremdet. „Wir sind dreifach überbelegt“, sagt der Gefängnisdirektor Sylvestre Larack. „Wir sind für 150 Häftlinge ausgelegt und haben derzeit 185 Männer, 85 männliche Jugendliche und 158 Frauen.“ Den meisten Jugendlichen wird Bandenkriminalität vorgeworfen, bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Die Erwachsenen wurden von anderen Haftanstalten, die von Banden angegriffen worden waren, in das Jugendgefängnis verlegt. Ein paar Mal ist es den Kriminellen schon gelungen, ein Gefängnis zu stürmen und alle Gefangenen zu befreien. „Wir sind auf Angriffe vorbereitet“, sagt Larack.
Die Bereiche für Männer, Jugendliche und Frauen sind in seiner Anstalt strikt getrennt. In den großen Zellen drängen sich bis zu hundert Gefangene, und lange nicht jeder und jede hat ein eigenes Bett. Man schläft in Schichten oder auf dem Boden. „Wegen dieser Umstände ist unser Resozialisierungsprogramm sehr eingeschränkt“, gibt der Direktor zu. Eigentlich sollten die einsitzenden Jugendlichen eine ordentliche Schul- und Berufsausbildung bekommen. Zunächst aber konzentriert sich der Unterricht darauf, dass sie Lesen und Schreiben lernen.
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