Ein erster Schritt aus der Gewalt

Guerinault Louis/Anadolu via Getty Images
Haitis neuer Premierminister Garry Conille (links) begrüßt im Juni die ersten Polizisten aus Kenia, die Haitis Polizei unterstützen sollen –  gegen bewaffnete Banden.
Haiti
Haiti hat eine neue Regierung und die ersten Polizisten der internationalen Sicherheitsmission sind eingetroffen. Das Land hat eine Chance, die Herrschaft von Banden zurückzudrängen – allerdings geht das nicht mit Staatsgewalt allein.

Linda Thomas-Greenfield, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, zeigte sich bei ihrem Besuch in Haiti Ende Juli optimistisch. „Ich sehe einen Hoffnungsschimmer“, sagte sie vor der Presse und verwies auf „die vielen Menschen hier“, die „jeden Tag an einer besseren Zukunft für das haitianische Volk arbeiten.“ Damit meinte sie auch die rund vierhundert kenianischen Polizisten in Port-au-Prince; die zu einer internationalen Friedenstruppe gehören, die auf 2500 Mann anwachsen soll. 

Man hofft, dass diese vom UN-Sicherheitsrat gebilligte Multinationale Sicherheitsmission (MSS) es Haiti ermöglicht, die Banden im Land unter Kontrolle zu bringen, die de facto weite Teile der Hauptstadt kontrollieren und das Land in eine dramatische humanitäre Krise gestürzt haben. Schon vor der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 litt Haiti unter grassierender Gewalt. In den letzten drei Jahren wurden dann rund 12.000 Menschen ermordet und etwa 600.000 im Land vertrieben. Banden haben die Kontrolle oder zumindest Einfluss in über achtzig Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince erlangt und ihre Präsenz auf andere Regionen ausgeweitet.

Thomas-Greenfield hat recht, dass inmitten des Chaos Hoffnung aufblitzt. Die internationale Unterstützungstruppe kommt nach und nach ins Land. Auch in der haitianischen Regierung gibt es Veränderungen: Nach fast drei Jahren politischer Instabilität unter dem amtierenden Premierminister Ariel Henry – für viele Haitianer war das die Verlängerung eines korrupten Systems – hat Haiti nun einen parteiübergreifenden Übergangspräsidialrat, einen neuen Premierminister und ein vollständiges Kabinett. 

Ein Technokrat ist neuer Premierminister

Februar 2024 war ein Wendepunkt: Als Henry, der die wachsende Bandengewalt nicht eindämmen konnte, auf Dienstreise im Ausland war, witterten die Banden eine Chance und schlossen die Koalition „Viv-Ansanm“ (etwa: Zusammenleben) für gemeinsame Angriffe auf den Staat. Sie verübten Überfälle und Brandanschläge auf Dutzende Polizeistationen, die wichtigsten Häfen der Hauptstadt und deren Flughafen, der für fast drei Monate schließen musste. Und sie griffen die zwei größten Gefängnisse an, wobei fast die Hälfte der Inhaftierten entkommen konnten.

Während Port-au-Prince im Belagerungszustand war, lud die Karibische Staatengemeinschaft zusammen mit Kanada, Frankreich, den USA und anderen zu einer Dringlichkeitssitzung in Jamaika ein. Ziel des Treffens war, in Haiti eine Regierung nach dem Konsensprinzip herbeizuführen, der alle größeren politischen und gesellschaftlichen Gruppen angehören sollten, so dass keine starken Außenseiter den Prozess sabotieren könnten. Das Ergebnis war der präsidiale Übergangsrat, dessen Mitglieder von Vertretern der sechs führenden Parteien sowie der Wirtschaft und Zivilgesellschaft ausgewählt wurden.

Dieser Rat wählte, nachdem Ariel Henry unter internationalem Druck zurückgetreten war, einen neuen Premierminister. Die Wahl fiel auf Garry Conille, einen Technokraten mit einer langen Laufbahn im Dienst Haitis und der Vereinten Nationen. Er war auch der von Washington favorisierte Kandidat.
Seit Conille Ende Mai sein Amt angetreten hat und die ersten internationalen Polizeikräfte gelandet sind, haben die Banden in der Hauptstadt sich größtenteils in ihre Hochburgen zurückgezogen. Dadurch konnte nach und nach die Wirtschaftstätigkeit in den Teilen von Port-au-Prince neu aufleben. In belebten Straßen machten sich improvisierte Märkte breit, und Busse suchten neue Linien, nachdem die ausufernde Gewalt sie gezwungen hatte, alte aufzugeben.

Bis jetzt ist nur ein Fünftel des Personals der Friedenstruppe im Land

Doch in Port-au-Prince hat sich die MSS darauf beschränkt, in einigen Bezirken zu patrouillieren, worauf die Banden beschlossen, ihre Kontrolle über den Großraum zu festigen. Vor kurzem haben sie die bis dahin weitgehend von Gewalt verschonten Städte Gressier und Ganthier angegriffen und versucht, Cabaret und Arcahaie in ihre Gewalt zu bekommen. Im Juli attackierten Verbrecherbanden einen Konvoi mit Premierminister Conille, nachdem der ein Krankenhaus besucht hatte, das staatliche Kräfte von diesen Banden zurückerobert hatten. 

Die Haitianer verlieren allmählich die Geduld und hoffen, dass die MSS diese Gruppen immer mehr schwächen kann, auch indem sie in ihre Hochburgen eindringt. Doch bis jetzt ist weniger als ein Fünftel des vorgesehenen Personals der von Kenia geführten Mission im Land, so dass sie nur sehr begrenzt in der Lage ist, Bandenstrukturen zu stören. Laut International Crisis Group gehen die Banden davon aus, dass die internationalen Kräfte sich so lange auf den Schutz der Infrastruktur beschränken, wie die MSS ihren Aktionsradius nicht dramatisch erweitert. Sie haben deshalb wenig Angst, dass die MSS ihre Kontrolle über die Hauptstadt schwächen wird.

Spannungen zwischen Conille und dem präsidialen Übergangsrat

In dieser Lage fürchten die Haitianer, dass wieder einmal die internationalen Versprechen nicht eingehalten werden. Laut dem stellvertretenden US-Außenminister Brian Nichols reichen die vorhandenen internationalen Fonds für etwa sechshundert Polizisten – darunter die, die bereits im Land sind – sowie zweihundert weitere aus benachbarten Karibikstaaten, die ausgebildet sind und auf ihren Einsatz warten. Um das Ziel 2500 Mann zu erreichen, werden die Staaten also weit mehr aufbringen müssen als die vorhandenen etwa 380 Millionen US-Dollar.

Aber eine nur auf Sicherheit ausgerichtete Strategie wird nicht ausreichen. Die Anstrengungen von Polizei und MSS werden nur Früchte tragen, wenn sie von einer funktionierenden und wirksamen Regierung unterstützt werden. Zwar hat die neue Übergangsregierung ein gewisses Maß an Stabilität gebracht, aber es gibt Anzeichen dafür, dass das politische Arrangement erneut zusammenbrechen kann.

Tausende Haitianer sind vor Übergriffen der Banden geflohen; diese Familien finden in einer Schule in Port-au-Prince Zuflucht.

Drei Monate nach Conilles Amtsantritt haben sich die Spannungen zwischen ihm, den Mitgliedern des Rates und den Parteien, die die Ratsmitglieder gewählt haben, verschärft. Zugrunde liegt Machtkonkurrenz: Auch wenn laut Verfassung der Präsident das Staatsoberhaupt ist, hat im gegenwärtigen Konstrukt Premierminister Conille faktisch die Exekutivgewalt. Der Rat behauptet, er habe seine Befugnisse überschritten. Ein Stein des Anstoßes ist zum Beispiel, dass er bei Staatsbesuchen aus dem Ausland die Regierung vertrat. Aus dem Umfeld der Übergangsregierung war zu hören, Ratsmitglieder hätten dem Premierminister im Verborgenen gedroht, seine Leistung zu evaluieren, so dass seine Entlassung die Folge sein könnte.  

Auch zwischen den Gruppen, die damit betraut wurden, den Präsidialrat zu wählen, und denen, die dann in dieses Gremium berufen wurden, ist Streit entstanden. Zwei wichtige Gruppen, darunter der Montana Accord – das ist eine breite Koalition politischer und gesellschaftlicher Gruppierungen, die schon früh einen Plan für die Regierungsführung vorgelegt hatten – haben sich von den eigenen Vertretern im Rat distanziert und ihnen vorgeworfen, sie nicht in wichtige Entscheidungen einbezogen zu haben. Diese Spannungen könnten die politische Einigkeit untergraben, die die Übergangsregierung eigentlich fördern sollte. 

Auch die Korruption muss bekämpft werden

Und dann ist da noch die Korruption. Der Chef der National Credit Bank hat drei Mitglieder des Präsidialrates beschuldigt, Schmiergeld von ihm verlangt zu haben, sonst werde er entlassen. Diese Anschuldigungen erinnern an frühere Skandale wie um den Mitte 2021 ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse und dessen Vorgänger Michel Martelly. Sie machen die Haitianer wütend und gefährden die in den vergangenen Monaten erreichte Stabilität. Zum Übergangsplan der neuen Regierung gehört, für den Kampf gegen Korruption eine Finanzermittlungsbehörde zu schaffen. Unterstützung dafür von den UN und anderen multilateralen Gremien ist wichtig für den Erfolg dieser Initiative.

Autoren

Renata Segura

ist Programmdirektorin für Lateinamerika und die Karibikstaaten bei der International Crisis Group.

Diego Da Rin

ist Analyst für Haiti bei der International Crisis Group.

Doch um die Probleme der Regierungsführung ganz in den Griff zu bekommen, muss Haiti am Ende über eine Übergangsregierung hinausgehen. Das von den UN gebilligte Mandat der MSS sieht vor, dass sie der haitianischen Polizei hilft, „Sicherheitsbedingungen zu schaffen, die dem Abhalten freier und fairer Wahlen förderlich sind“. Die Übergangsregierung hat eine Vereinbarung unterzeichnet, wonach Wahlen so zeitig stattfinden müssen, dass eine neue Regierung im Februar 2026 ihre Arbeit aufnehmen kann. Aber ohne stärkere Präsenz der MSS und ein rigoroses Durchgreifen gegen die Banden ist es unwahrscheinlich, dass Haiti bis dahin bereit für eine Wahl ist. Und überstürzte Wahlen könnten dem Land mehr schaden als nützen.

Besonders hoch werden die Risiken sein, wenn große Teile des Großraums Port-au-Prince, wo rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung lebt, weiterhin von Banden kontrolliert werden. Wie schon in der Vergangenheit könnten politische Parteien dann versuchen, im Kampf um mehr Stimmen mit Banden zu paktieren. 

Auch die Banden wollen eigene Kandidaten zur Wahl stellen

Noch bedenklicher ist die Möglichkeit, dass die Banden, die sich zunehmend von ihren früheren Geldgebern aus der Oberschicht emanzipiert haben, eigene Kandidaten aufstellen. „Die bewaffneten Gruppen werden das Spiel mitspielen“, erzählte uns ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der Bandenführer kennt. „Sie ziehen sich in ihre Machtzentren zurück und hoffen, dass sie im Vorlauf der Wahlen mit politischen Gruppen Verhandlungen aufnehmen können.“ Es gibt keinen Weg, die Banden vollständig aus dem nächstem Wettstreit um Stimmen herauszuhalten. Aber ihren Einfluss so klein wie möglich zu machen, ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Gewalt zwischen den politischen Lagern des Landes eingedämmt wird.  

Bewaffnete Banden wie die von Jimmy „Barbecue“ Cherizier verbreiten in großen Teilen der Hauptstadt Angst und Schrecken.

Kurz nach Einsetzen der Übergangsregierung schlug Jimmy Chérizier, der de-facto-Sprecher der Bandenkoalition Viv Ansanm, vor, dass die Regierung und die Banden miteinander ins Gespräch gehen sollten. „Wir brauchen jetzt den Dialog, Herr Premierminister. Zeigen Sie der Welt, dass Sie Geschichte schreiben können als jemand, der … das Land befriedet“, sagte Chérizier (besser bekannt als „Barbecue“) in einem Online-Video. Conille entgegnete, die Banditen müssten „vor irgendwelchen anderen Maßnahmen ihre Waffen niederlegen und die staatliche Autorität anerkennen“.

Diese Aussage stand in krassem Gegensatz zu früheren kämpferischen Äußerungen des Premiers, man müsse die Banditen gewaltsam niederschlagen. Daher glaubten viele Haitianer, die Worte des Premierministers öffneten die Tür für Verhandlungen. Zurzeit lehnt die überwiegende Mehrheit der Menschen in Haiti jegliche Gespräche mit den Banden ab, vor allem wenn sie mit der Aussicht auf irgendeine Art von Amnestie verbunden sind. Gegner von Verhandlungen argumentieren, dass damit den Banden im Grunde das von ihnen verursachte Leid verziehen und die Bedürfnisse der Opfer übergangen würden.

Banden haben Verbindungen in Politik und Wirtschaft

Aber es gibt starke Gründe zu bezweifeln, dass man die Banden mit Gewalt allein unschädlich machen kann. Die meisten haben sich in dicht besiedelten Gebieten verschanzt, wo Hunderte enge Gassen zwischen den Häusern verlaufen. Das macht es der Polizei nahezu unmöglich, sie zu bekämpfen, ohne Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Banden haben auch immer noch enge Verbindungen zu Eliten in Politik und Wirtschaft, die ihnen im Notfall Rettungsanker zuwerfen könnten. Weil Bandenmitglieder auf allen Ebenen in die staatliche Polizei eingeschleust sind, wird sich kaum verhindern lassen, dass Informationen über geplante Aktionen durchsickern. Und weder die Polizei noch die MMS ist derzeit dafür ausgerüstet, Gebiete der Bandenkontrolle zu entreißen und dort dann eine permanente Präsenz des Staates zu sichern. 

Aus ähnlichen Gründen hat die letzte UN-Friedenssicherungsmission von 2004 bis 2017 es nicht geschafft, sich gegen die Banden durchzusetzen. Deshalb sollten die Haitianer sich ernsthaft Gedanken machen, wann und unter welchen Bedingungen es vorstellbar ist, in Gespräche mit kriminellen Gruppierungen einzutreten mit dem Ziel, sie letztlich aufzulösen.

Auch viele Kinder sind in den Fußtruppen der Banden

Ein Ansatzpunkt kann Arbeit mit Kindern sein. Laut dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF sind in den Fußtruppen der Banden (insgesamt rund fünftausend Mitglieder und Kollaborateure) 30 bis 50 Prozent minderjährig. Die meisten sind aus Verzweiflung dazugestoßen. In Haiti haben Hunderttausende Kinder kein Geld und keinen Anreiz zum Schulbesuch und finden kaum eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt legal zu bestreiten. Da kann der Eintritt in kriminelle Banden der einzige Weg zu regelmäßigen Einkünften sein. Ausstiegschancen für Minderjährige zu schaffen, kann dazu beitragen, die Haitianer davon zu überzeugen, dass kluge Verhandlungen ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu Frieden sind und nicht ein politischer Kuhhandel unter Missachtung des öffentlichen Interesses.

Haitis Weg zurück zu Normalität ist noch lang. Aber es gibt endlich eine kleine Chance, die Gewalt einzudämmen und mit dem Wiederaufbau des Staates zu beginnen. Der Weg ist nicht geradlinig und jeder Fortschritt hängt davon ab, dass der Kampf der MSS gegen die Banden und das Bemühen der Übergangsregierung, Vertrauen in der Bevölkerung wiederherzustellen, konstruktiv zusammenwirken. Doch Haiti hat jetzt die Chance auf eine bessere Zukunft.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

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