Al-Qaidas neuer Stützpunkt

Im Norden von Nigeria eskaliert der islamistische Terror. Als sich Fundamentalisten vor neun Jahren zur Gruppe Boko Haram zusammenschlossen, um gegen Korruption, Perspektivlosigkeit und Ungerechtigkeit zu kämpfen, konnten sie noch auf Zustimmung der Bevölkerung zählen. Inzwischen aber richtet sich der Terror gegen alles, was als unislamisch gilt. Der Staat ist ratlos und reagiert mit brachialer Gegengewalt.

Ein großes Loch in der Fassade, zerfetzte Körper, die Schreie der zahlreichen Verletzten gehen durch Mark und Bein. Am 26. August 2011 bot das UN-Gebäude in der nigerianischen Hauptstadt Abuja ein erschütterndes Bild. Nach der ersten Verwirrung war bald klar: Ein Selbstmordattentäter hatte mit seinem Wagen die Kontrollsperren durchbrochen, war in die Eingangshalle gerast und hatte eine Sprengladung gezündet. Nur wenige Tage später reklamierten Sprecher der Extremisten-Gruppe Boko Haram den Anschlag für sich. Rund zwei Dutzend Tote und über 80 Verletzte lautete die Bilanz des Schreckens. Es war bereits der zweite große Angriff der Gruppe in der Hauptstadt innerhalb weniger Wochen. Mitte Juni hatte ein Attentäter eine Bombe auf dem Parkplatz des Polizeihauptquartiers gezündet. Ziel war der oberste Polizeichef gewesen, der nur knapp mit dem Leben davonkam. Mit den bisher in Nigeria unbekannten Selbstmordattentaten haben die Terroristen ihre Methoden weiter denen anderer islamistisch orientierter Terrorgruppen angeglichen und Analysen bestätigt, die schon zuvor auf zunehmend engere Kontakte zwischen Boko Haram und al-Qaida-nahen Gruppen im Maghreb und in Somalia hingewiesen hatten.

Die extremistische Gruppe, die heute unter dem Namen Boko Haram bekannt ist, nennt sich selbst „Anhänger der Sunna, die sich dem Heiligen Krieg verschrieben haben“. Boko Haram bedeutet in der Haussa-Sprache „moderne Bildung ist Sünde“. Gegründet wurde die Gruppe vermutlich schon 2002 im Nordosten Nigerias. Ihr Anführer Mohammed Yusuf predigte zunächst friedlich gegen jeden vermeintlich westlichen Einfluss auf die Gesellschaft im muslimisch dominierten Norden Nigerias. Er versammelte vor allem enttäuschte junge Männer um sich, die trotz Schuloder Studienabschluss keine Arbeit finden konnten, erklärt der Jurist und Kommentator Solomon Dalung: „Wer Mitglied von Boko Haram werden wollte, musste seine Schulzeugnisse abgeben und vernichten lassen.“ Die Boko Haram seien keineswegs eine Gruppe von Herumtreibern oder von Ungebildeten.

Autor

Thomas Mösch

ist Afrika-Redakteur bei der Deutschen Welle und leitet dort das in der Haussa-Sprache ausgestrahlte Programm, das vor allem in Nigeria und im Niger gehört wird.

Das bestätigt im Interview einer von ihnen. Er bezeichnet sich als „Mujahid“, als Kämpfer für die Sache Gottes: „Ich habe mein Studium mit einem Bachelor abgeschlossen, aber ich habe alle Zeugnisse vernichtet und mich der Lehre von Malam (Mohammed Yusuf, d. Red.) angeschlossen. Davor hatte ich nach dem Abschluss meines Studiums keine Arbeit gefunden.“ Die Perspektivlosigkeit junger Schulabgänger gilt als einer der Hauptgründe dafür, dass sich Jugendliche überall in Nigeria gewaltbereiten Gruppen anschließen.

Mit ihrer Ideologie, die alles Moderne als westlich und unislamisch ablehnt, steht die Boko Haram in einer Tradition ähnlicher Bewegungen in Nordnigeria, die schon früher in gewaltsamen Aufständen mündeten. Die bekannteste war die so genannte Maitatsine-Bewegung, die sich Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in den Großstädten Kano und Maiduguri heftige Kämpfe mit Polizei und Militär lieferte. Hinzu kommt, dass in Nordnigeria ein militärischer Dschihad, ein „heiliger Krieg“, mit guten Erinnerungen verbunden ist. Mit einem Dschihad begründete Usman dan Fodio Anfang des 19. Jahrhunderts das Sultanat von Sokoto, das bis zur Eroberung durch die Briten fast den gesamten Norden des heutigen Nigeria und angrenzende Gebiete beherrschte. Für die meisten Beobachter ist deshalb Boko Haram zunächst eine lokale Reaktion auf die enormen sozialen Ungerechtigkeiten und die Korruption der politischen Klasse. Die Gruppe genoss anfangs durchaus Sympathien in der Bevölkerung, die es Mohammed Yusuf ermöglichten, offen aufzutreten und Anhänger zu rekrutieren.

Schon wenige Jahre nach ihrer Gründung geriet die „Yussufiya“, wie Boko Haram nach ihrem Anführer auch genannt wird, mit der Polizei in Konflikt. Im ländlichen Bundesstaat Yobe im Nordosten von Nigeria hatten sich die Fundamentalisten in einigen Dörfern festgesetzt und von dort Polizeiwachen angegriffen. Den ersten großen Kampf mit den Sicherheitskräften lieferten sich Mohammed Yussuf und seine Anhänger 2009 in ihrer Hochburg Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno nahe der Grenze zu Kamerun und Tschad. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen verloren 800 Menschen ihr Leben. Yusuf selbst wurde erschossen, nachdem das Militär ihn der Polizei übergeben hatte. Das Massaker und die offensichtlich extralegale Hinrichtung ihres Anführers ist die Hauptursache für den gesteigerten Hass der Gruppe auf die Sicherheitskräfte und die politische Führung.

Seit Mitte 2010 haben sich Sprecher von Boko Haram wiederholt zu politischen Morden und Anschlägen bekannt. Seit Anfang 2011 erschüttern fast täglich Bombenanschläge die Millionenstadt Maiduguri. Meistens trifft es Polizeistationen oder Armeeposten. Doch die Attentäter greifen auch Bierlokale, Politiker, Kirchen und Moscheen an. Laut Amnesty International kamen dabei und bei den Gegenaktionen von Polizei und Militär bisher mindestens 250 Menschen ums Leben.

"Wir töten keine normalen Bürger"

Maiduguri macht zur Jahresmitte 2011 den Eindruck einer belagerten Stadt. Wer hinein will, muss Slalom fahren. An der Hauptstraße aus Richtung Westen haben Militärs und Polizei alle paar hundert Meter Sperren aufgebaut. Bewaffnet mit Maschinenpistolen blicken sie kurz in die Autos. Die westlichen Besucher werden freundlich gegrüßt und dann durchgewunken. Andere Autos müssen anhalten, manche Fahrer auch den Kofferraum öffnen. Hier herrscht pure Angst, berichtet eine Frau, die sich für Mädchenbildung einsetzt: „Wenn es irgendwo einen Bombenanschlag gibt, denkt man: Ist das in meinem Viertel? Was ist mit meinen Kindern in der Schule?“ Und ein Lehrer betont, dass das Militär mit seinen als willkürlich empfundenen Kontrollen und den Repressalien nach Attentaten den Menschen mehr Angst mache als die Terroristen. Ab drei Uhr nachmittags versucht jeder nach Hause zu kommen, denn gegen Abend verstärken Polizei und Militär ihre Kontrollen. Ihre Namen wollen die meisten Interviewpartner nicht in den Medien sehen, denn die Terroristen haben schon öfter Menschen umgebracht, die sich über sie vermeintlich schlecht geäußert haben.

In Angst lebt auch die kleine christliche Minderheit. Im Juni explodierten an der katholischen Kathedrale von Maiduguri zwei Bomben. Bischof Oliver Doeme Dashe lobt, dass der Gouverneur von Borno danach die Kirche besucht habe. Das sei ein wichtiges Signal gewesen, betont Doeme Dashe. „Aber es bleibt noch viel zu tun. Denn wir haben ja schon sehr viele Sicherheitskräfte hier und diese Leute schlagen immer noch zu.“ Offensichtlich bekämen Polizei und Militär die Lage nicht in den Griff. „Das macht uns große Sorgen“, erklärt der Bischof die Stimmung in seiner Gemeinde.

Boko Haram rechtfertigt die Gewalt mit der offensichtlich extralegalen Hinrichtung ihres Anführers und dem Tod zahlreicher anderer ihrer Anhänger bei Polizeieinsätzen der vergangen Jahre. Gefragt nach dem Leiden der Menschen in Maiduguri, antwortete einer der Kämpfer: „Klar sind die Leute verzweifelt. Aber als man uns zerstört hat, haben sie zunächst gelacht. Sollen sie doch auch eine Dosis von dieser Medizin bekommen. Wir töten keine normalen Bürger. Wir tun ihnen nichts, es ist das Militär, das nach unseren Angriffen kommt und dann unter ihnen wütet.“ Tatsächlich haben Menschenrechtsgruppen nach Militäreinsätzen im Juli die Sicherheitskräfte harsch kritisiert. Zahlreiche Zeugen berichten, die Soldaten hätten geplündert, vergewaltigt und willkürlich Menschen erschossen. Immer mehr Stimmen fordern gar einen Abzug der Spezialkräfte, weil sie mit ihrem harten Durchgreifen mehr Schaden anrichteten als Nutzen brächten.

Boko Haram verlangt kaum erfüllbare Bedingungen für einen Dialog

Ob Christen oder Muslime, Vertreter der Zivilgesellschaft oder Politiker – wer sich zu dem Thema äußert, setzt auf eine politische, möglichst friedliche Lösung. Neben Präsident Goodluck Jonathan hat auch der im April neu gewählte Gouverneur von Borno, Kashim Shettima, den Islamisten einen Dialog angeboten. „Boko Haram ist ein politisches Problem, und ein politisches Problem braucht eine politische Lösung“, betont Shettima. Eine ausschließlich militärische Strategie drohe in einen endlosen Kampf zu münden. Doch für Shettima ist auch klar: „Wir können mit ihnen nur aus einer Position der Stärke verhandeln, nicht aus einer Position der Schwäche.“

Wie hilflos die Politik in Wirklichkeit ist, lässt dagegen die Tatsache erahnen, dass sich amtierende sowie frühere Gouverneure inzwischen für die extreme Gewalt des Staates gegen die Anhänger der Boko Haram 2009 entschuldigt haben. Sie sind somit einer Forderung der Gruppe nachgekommen. Die Entschuldigungen folgten dem Anschlag auf das Polizeihauptquartier in Abuja und zahlreichen weiteren Gewaltakten in mehreren Bundesstaaten, denen die Sicherheitskräfte nichts entgegensetzen konnten.

Doch die Sekte stellt für einen Dialog kaum erfüllbare Vorbedingungen. Gespräche könne es nur geben, wenn in Nordnigeria das islamische Scharia-Recht zu hundert Prozent umgesetzt würde und Gouverneur Shettima zurücktrete, verkündeten die Terroristen. Ihre Sprecher reden inzwischen offen davon, dass Kämpfer in Somalia von den al-Qaida-nahen al-Shabaab-Milizen ausgebildet würden. Einer erklärt am Telefon, er sei selbst vor kurzem von dort zurückgekommen. Viele Kenner der Islamisten-Szene in Nigeria halten das für glaubwürdig.

Allerdings haben sich in den letzten Jahren offenbar viele andere Unzufriedene in Nordnigeria den Boko Haram angeschlossen. Einerseits reicht dadurch ihr Einfluss weit über den ursprünglichen Kern hinaus. Andererseits macht es das schwieriger, die Ziele der Gruppe zu bestimmen, denn offenbar gibt es inzwischen mehrere Fraktionen. Eine Gruppe will vor allem, dass ihnen und ihren getöteten Mitstreitern Gerechtigkeit widerfährt, die korrupten Eliten Nordnigerias ihr Versagen eingestehen und die Scharia durchgesetzt wird. Andere handeln möglicherweise im Interesse und finanziert von lokalen Politikern, wie dies auch andere Banden in vielen Bundesstaaten Nigerias tun. Wieder andere haben sich offenbar mit al-Qaida-nahen Terrorgruppen verbunden.

Im März 2011 hatte die mit Sicherheitskreisen gut vernetzte Journalistin Toyosi Ogunseye in der in Lagos erscheinenden Zeitung „Sunday Punch“ darauf hingewiesen, Gruppen, die al-Qaida nahestehen, rekrutierten junge Männer für Selbstmordattentate. Sie zitierte auch Beamte der US-Bundespolizei FBI, die von zunehmenden Aktivitäten al-Qaidas in Nigeria berichteten und schon seit längerem ihre nigerianischen Kollegen beraten. Damals nahm den Artikel kaum jemand ernst. Heute hingegen gibt es kaum noch Zweifel an den Verbindungen zwischen zumindest Teilen der Boko Haram und der Internationale des islamistischen Terrors.

Die Politik hat den islamistischen Positionen nur wenig entgegenzusetzen

Die sozialen und politischen Probleme im Norden Nigerias erschweren den Kampf gegen die Extremisten. Mit ihrer Kritik an der Unterentwicklung der Region, in der fast zwei Drittel der Menschen Analphabeten sind – Tendenz seit einigen Jahren wieder steigend – und gleichzeitig einige wenige Mitglieder der Elite sich hemmungslos bereichern, treffen die Islamisten das Lebensgefühl der breiten Massen. So lange sich ihre Angriffe gegen die Elite und die Sicherheitskräfte richteten, konnten sie auf Sympathien hoffen. Doch schon die Attacken auf Kirchen fanden in der Bevölkerung kaum Verständnis. Seit immer mehr einfache Bürger Opfer der Anschläge werden, ist die Sympathie immer mehr der Angst gewichen.

Die Auseinandersetzung mit Boko Haram wird dadurch erschwert, dass nordnigerianische Politiker und Intellektuelle nach der Rückkehr Nigerias zur Demokratie 1999 selbst islamistische Positionen angenommen oder ihnen zumindest nichts entgegengesetzt haben. Im Wettbewerb um Wählerstimmen haben sie auf die religiöse Karte gesetzt, weil sie nur so die Unterstützung der von ihnen schamlos ausgebeuteten Massen bekommen konnten. Liberale Stimmen verstummten, weil ihnen der Vorwurf drohte, sich gegen den Islam zu wenden. Innerhalb weniger Jahre haben fast alle nigerianischen Bundesstaaten im Norden neben dem islamischen Zivilrecht, das ohnehin schon galt, auch das Strafrecht der Scharia eingeführt – inklusive archaischer Strafen wie Handabhacken für Diebstahl und der Todesstrafe für Ehebrecherinnen und Homosexuelle. Dass solche Urteile kaum je vollstreckt wurden, hat die extremen Islamisten eher weiter verbittert. Doch in diesem Klima kann heute kaum jemand den Forderungen der Boko Haram etwas entgegensetzen, weil die Religion im Norden des Landes der einzige allgemein akzeptierte Referenzrahmen ist. Zugleich ist der Terror Wasser auf die Mühlen vieler Christen im Süden Nigerias, die dem Norden unterstellen, er wolle das gesamte Land zwangsislamisieren.

Die Regierung in Abuja steckt in einer Zwickmühle. Einerseits empfehlen die Ratgeber von Präsident Goodluck Jonathan Verhandlungen zumindest mit den dialogbereiten Fraktionen der Islamisten. Und sie benennen zum Beispiel Korruption und das desolate Bildungswesen als wichtige Ursachen für die Revolte. Andererseits scheinen die mit al-Qaida kooperierenden Terroristen inzwischen den Kampf gegen den „unislamischen“ Staat und seine „westlichen“ Verbündeten als ihr eigentliches Ziel zu sehen. Und da gibt es dann wenig zu verhandeln.

 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2011: Nigeria: Besser als sein Ruf
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