Bürger zweiter Klasse

Am Stadtrand von Kairo liegt eine namenlose koptische Kirche, in der rund 30 christliche Anwohner jede Woche Gottesdienst feierten. Doch im Oktober verriegelte eine Gruppe ultrakonservativer Salafisten die Eingangstüren des Gebäudes und hinderte so die Christen daran, die Kirche zu betreten. Als die Polizei gerufen wurde, erfuhren die Christen, dass sie an diesem Ort keinen Gottesdienst mehr feiern dürften, weil sie nicht die nötigen Genehmigungen hätten. Wie Anis, ein 47-jähriger Handwerker, erklärte, war dies nicht der erste Versuch konservativer Muslime, Christen am Beten zu hindern. „Wir sind das in Ägypten gewöhnt. Letztes Jahr hat eine Gruppe von Salafisten ein Grundstück besetzt, das Christen gehörte. Sie wollten dort eine Moschee bauen und haben alle von dort vertrieben. Sie versuchen, unsere Kirchen zu schließen und uns daran zu hindern, Kirchen zu bauen“, sagte er.

Proteste von Salafisten – radikalen fundamentalistischen Muslimen – haben im vergangenen Jahr in Ägypten zugenommen. Viele ihrer Aktionen richteten sich gegen kleinere Kirchen in den ländlichen Gegenden, so wie die Kirche nördlich von Kairo. Es ist ein ständiger Kampf, einen Ort für den Gottesdienst zu finden. Auch die Revolution im Januar 2011 hat an der Situation der großen christlichen Minderheit wenig geändert.

Noch schlimmer ist, dass Ägyptens neue Verfassung Christen zu Bürgern zweiter Klasse macht. Religionsfreiheit und Redefreiheit, zwei Hauptanliegen des Aufstands vor zwei Jahren, werden zugunsten konservativer islamischer Bestrebungen ignoriert. Die neue Verfassung räumt auf mit der Vorstellung von garantierten politischen und bürgerlichen Rechten für Minderheiten, Christen eingeschlossen. Die Bestimmungen zur Anwendung des islamischen Rechts sind vage formuliert. Das gibt Anlass zur Sorge, dies könnte das Recht der Christen einschränken, Gottesdienste zu besuchen und ihren Glauben zu praktizieren. Dass die Religionsfreiheit nicht garantiert wird, steht für eine Politik, die nach Ansicht vieler christlicher Theologen und Aktivisten den Versuch darstellt, die Minderheit ins Abseits zu drängen, indem der Bau christlicher Gotteshäuser erschwert wird.

Autor

Joseph Mayton

ist freier Journalist und lebt in Kairo.

Ein Vorfall während der Proteste vor dem Präsidentenpalast Ende November wirft ein Schlaglicht auf die Befürchtung, die Muslimbrüder und die Salafisten wollten das Christentum beseitigen. Bei dem auf einem Video erfassten Zwischenfall halten bärtige Männer einen Mann fest, und während sie ihn wiederholt auf den Kopf schlagen, fragen sie ihn, welche Rolle er in den Protesten gegen Präsident Mohammed Mursi spiele und ob er Christ sei. Die Verfassung gewährt der christlichen Gemeinschaft keinen Schutz. Aus dem Ausschuss, der vor dem Referendum im Dezember die neue Verfassung ausarbeiten sollte, hatten sich die ägyptischen Kirchen zurückgezogen. „Der gegenwärtige Entwurf schafft keinen nationalen Zusammenhalt und entspricht nicht Ägyptens pluralistischer Identität“, erklärten die Kirchenvertreter zur Begründung.

Die neue Verfassung stand am Ende eines turbulenten Jahres für Ägypten und seine christliche Minderheit. Im März starb der koptische Papst Shenouda III, und die älteste Kirche der Christenheit stand ohne Führung da. Diese Lücke wurde vom neuen Papst Tawadros im November geschlossen. Shenouda war äußerst beliebt, doch viele Christen fanden, er trete gelegentlich nicht stark genug für die Rechte der Gemeinschaft ein.

Papst Tawadros ist zu Beginn seiner Amtszeit als Oberhaupt der Kirche in einer schwierigen Situation. Anfang Dezember erklärte er, es müsse sichergestellt werden, dass Christen in Ägypten als vollwertige Bürger gelten. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen die Kirche sich  politisch äußerte. Abgesehen davon hat er den Status quo beibehalten und sich geweigert, die Christen aufzufordern, gegen die inzwischen verabschiedete Verfassung zu stimmen. Das hat viele Kopten im Land enttäuscht, die hoffen, dass Tawadros eine andere Richtung als Shenouda einschlagen und mehr Schutz für die christliche Bevölkerung fordern wird.

Erfreulich ist der interreligiöse Dialog. Die Kopten arbeiten sehr konstruktiv mit der Al-Azhar-Universität, der weltweit führenden Institution des sunnitischen Islam, beim Eintreten für Toleranz zusammen. Doch das ist ein schwieriges Unterfangen zu einer Zeit, da Ägypten eine Hinwendung zu konservativeren islamischen Vorstellungen erlebt.

Viele Christen hoffen, dass Tawadros die christliche Gemeinschaft befähigen wird, sich mit Nachdruck an der politischen und gesellschaftlichen Diskussion zu beteiligen. Und sie hoffen, dass er als Teil der Reformbewegung innerhalb der Kopten dazu beitragen wird, viele der archaischen Praktiken zu ändern, die einige als Belastung der Kirche betrachten. Eines der Themen ist die Ehescheidung. In Ägypten ist es für Christen immer noch schwieriger als für Angehörige anderer Glaubensrichtungen, sich scheiden zu lassen, was in den vergangen Jahren zu einer Spaltung unter den Gläubigen geführt hat. Dass Verbot der Ehescheidung ist in Ägypten nach wie vor fester Bestandteil des Kirchenrechts.

Koptisch-katholische Bischöfe kritisieren Verfassung

Erstmals haben führende Vertreter der Christen in Ägypten öffentlich die neue Verfassung des Landes kritisiert. Drei koptisch-katholische Bischöfe bezeichneten sie ...

Nehmen wir Mina Naguib, einen ägyptischen Blogger, der glaubte, seine Eltern seien geschieden, als er auf dem Amt seinen Ausweis erneuern lassen wollte. Aber dort erfuhr er, dass seine Eltern offiziell tatsächlich noch verheiratet waren, obwohl sie seit mehr als neun Jahren nicht mehr zusammenlebten. „Das ist heute der große Konflikt innerhalb der Kirche. In Sachen Scheidung und Rechten des Einzelnen ist es immer noch schwierig, in der koptischen Kirche etwas zu bewegen“, sagte er kürzlich in Kairo. Und er hat Recht. Manche Christen, vor allem Frauen, konvertieren zum Islam, um freier über ihr Leben bestimmen zu können.

Die koptische Kirche hat es traditionell vermieden, die Trennung von Staat und Religion zu unterstützen, obwohl die koptische Gemeinschaft seit langem fordert, die Regierung solle die Bevorzugung der muslimischen Religion beenden. Die zeigte sich zum Beispiel vor einigen Jahren, als eine Koptin in einem langwierigen Gerichtsverfahren darum kämpfen musste, das Sorgerecht für ihre beiden Kinder zu behalten. Sie waren als Kopten aufgewachsen, aber von der Regierung zu Muslimen erklärt worden, nachdem ihr Vater zum Islam konvertiert war. In Rechtsstreitigkeiten zwischen den beiden Religionsgruppen schenken die Gerichte Muslimen mehr Glauben.

In vielerlei Hinsicht dreht sich die ägyptische Debatte über religiöse Minderheiten und die neue Verfassung letztlich darum, dass Ägypten ein neutraler Staat fehlt. Das, so argumentieren viele Christen, sporne die Konservativen an, neue Restriktionen einzuführen, die es immer schwieriger machten, Christen als ägyptische Bürger zu betrachten. Zum Beispiel ist der Religionsunterricht in den Schulen getrennt. Christen lernen etwas über ihren eigenen Glauben, die Muslime über den Islam; gemischter Unterricht findet nicht statt. Angesichts des salafistischen Projekts, das an Kraft gewinnt, führt dies dazu, dass Missverständnissen zwischen den beiden Gruppen Vorschub geleistet wird und Christen gesellschaftlich ausgegrenzt werden.

Nur Muslime dürfen in Saudi-Arabien und anderen konservativen islamischen Staaten Spitzenämter ausüben. In Ägypten ist das nicht anders. Christen dürfen keine Gouverneure oder Universitätsrektoren werden, und trotz der Versprechen der Muslimbrüder ist nur noch eine Handvoll Christen an der Regierung beteiligt. Für die christliche Bevölkerung bedeutet die Entfernung der Christen aus Spitzenposten, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche immer mehr ignoriert werden. Ägypten schlägt einen Weg ein, der es Christen unmöglich macht, frei im Land zu leben und zu arbeiten.

„Davor haben wir alle Angst, aber wir müssen die Kraft Ägyptens und des ägyptischen Volkes sehen. Dann wissen wir, dass wir uns einigen und Kompromisse schließen können. Allerdings müssen beide Seiten bereit sein zuzuhören“, sagt George Zaki. Er ist Mitglied der Maspero Youth Union, einer Gruppe von jungen christlichen Aktivisten. Diese hatte sich nach dem Massaker gebildet, das die Armee im Oktober 2011 vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens – Maspero genannt – an Christen verübt hatte. Wenn Zaki zurückblickt, sieht er einen Hoffnungsschimmer. „Wir haben das ganze Jahr über immer wieder Menschen zusammengebracht, auch zu Protesten gegen die Verfassung. Allerdings war das, bevor Präsident Mohammed Mursi gewählt war und die Islamisten glaubten, sie hätten den Auftrag zu herrschen“, setzt er hinzu.

Die koptische Kirche hat das Mubarak-Regime stillschweigend unterstützt und ist nicht für die Trennung von Staat und Religion eingetreten

Die Maspero Union konnte die Kluft zwischen Muslimen und Christen etwa mit Mahnwachen zu Ehren derjenigen, die bei den andauernden Protesten im ganzen Land getötet worden waren, überbrücken. Unzählige Male sind Christen und Muslime in den vergangenen beiden Jahren zusammengekommen, haben Kerzen entzündet und sowohl der Christen als auch der Muslime gedacht, die bei den Straßenprotesten getötet worden waren. Aber Zaki ist klar, dass die Christen in Ägypten keine homogene Gruppe sind. „Sie haben unterschiedliche Vorstellungen von Religion, Glauben und der Zukunft Ägyptens. Wir dürfen nicht weiter so tun, als seien wir alle gleich.“ Die Zahl der koptischen Christen, die für Veränderungen in ihrer Kirche kämpfen, nimmt zu. Laut dem Blogger Naguib wünscht sich eine wachsende Zahl von ihnen eine Art Reformation – eine Öffnung der Kirche für die Moderne, auch bei den Themen Scheidung und Glaubenswechsel. Um ein gemeinsames politisches und soziales Handeln zu erleichtern, wollen sich die christlichen Kirchen in  Ägypten zu einem nationalen Kirchenrat zusammenschließen.

Anfang 2012, als die Islamisten begannen, eine umfassende Übernahme des Landes zu betreiben, forderte die Universität Al-Azhar, dass vor der Ausarbeitung der Verfassung eine Charta der Grundrechte erstellt werden müsse. Nach dem Dokument, das breite Unterstützung unter Aktivisten, Liberalen und Intellektuellen, unter Muslimen und Christen fand, sollten bestimmte unveräußerliche Rechte für alle Ägypter festgelegt werden, darunter die Rede-, die Versammlungsfreiheit und die Religionsfreiheit. Ein Grundrechtekatalog kam jedoch nie zustande – vor allem weil die Muslimbrüder und die Salafisten überzeugt waren, sie hätten nun das Recht, ihre konservative Agenda voranzutreiben. Und als das Militär vor der Präsidentschaftswahl das Parlament aufgelöst hatte, hatten die Islamisten alle Trümpfe in der Hand. Das Al-Azhar-Dokument und seine offene Forderung nach Kooperation mit der koptischen Kirche hätte eine Ausgangsbasis für eine Einigung sein können. Das Institut hätte die Führerschaft übernehmen und auch linksgerichtete Protestierer vom Tahrir-Platz, wo sich viele koptische Christen den konservativen Islamisten anschlossen, gewinnen können. Doch als Mursi dann gewählt war, war von dem Dokument kaum mehr die Rede.

Nach Meinung der Christen wird die neue Verfassung der Regierung noch mehr Möglichkeiten geben, dafür zu sorgen, dass sie im neuen Ägypten keine gleichberechtigten Bürger sind. Zur Frustration der koptischen Gemeinschaft trägt auch die ganz berechtigte Ansicht bei, die Kirche habe das Mubarak-Regime stillschweigend unterstützt. Diese Frage ist entscheidend, um den Übergangsprozess in Ägypten zu verstehen. Denn während die Christen als Einzelne und innerhalb von politischen Gruppen nach mehr Rechten streben, sind sie gezwungen, aus politischen Gründen auf Distanz zur Kirche zu gehen. Die Kopten waren zu Beginn des Umbruchs optimistisch im Hinblick auf Ägyptens Zukunft und auf ihre Rolle in Gesellschaft und Politik. Jetzt müssen sie mit Sorge erkennen, wie weit die christliche Gemeinschaft in den vergangenen zwölf Monaten an den Rand gedrängt worden ist.

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner

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erschienen in Ausgabe 2 / 2013: Ägypten: Aufruhr und Aufbruch
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