Abholzen für die Windkraft

Die indische Wirtschaft braucht viel Energie, wenn sie weiter so schnell wachsen will wie bisher. Die Regierung setzt auf eine Mischung aus Kohle, Atomkraft und erneuerbaren Energien. Für Solaranlagen und Windkraftwerke entfällt eine Umweltverträglichkeitsprüfung – mit fatalen Folgen für Natur und Anwohner, wie ein Projekt in den Western-Ghats-Bergen zeigt.

Das Bergdorf Kude erreicht man auf kurvenreichen, engen Straßen mit zahlreichen Schlaglöchern. Der kleine Ort liegt fast eintausend Meter hoch in den Western Ghats-Bergen, rund einhundert Kilometer nördlich der indischen Metropole Mumbai. Nur wenige Kilometer von Kude entfernt beginnt das Wildschutzgebiet Bhimashankar, in dem dichter, immergrüner Regenwald wächst. „Früher haben wilde Tiere unser Dorf besucht. Wildschweine, Affen, Pfauen, sogar Leoparden“, sagt die Bäuerin Suman Kanaskar. „Seit der Windpark gebaut wird, sind sie verschwunden. Sogar die Vögel sind verstummt.“

Autor

Rainer Hörig

war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig. Heute arbeitet er als Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“.

Auf den nahen Bergkuppen ragen Windräder und Baukräne in den Himmel. Kude ist einer von drei Standorten des Andhra Lake-Windparks. Die Firma Enercon India errichtet hier insgesamt 142 Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 113 Megawatt. Die Forstbehörde des Unionsstaates Maharashtra gab dafür 194 Hektar geschütztes Waldland frei. Im März vergangenen Jahres begannen die Bauarbeiten. Seitdem werden mit Dynamit und Bulldozern Zufahrtsstraßen in die Berghänge getrieben und Fundamente für die riesigen Windräder ausgehoben. Damit Schwertransporter die riesigen Rotoren und Generatoren an entlegene Orte bringen können, mussten die Landstraßen verbreitert werden.

Zunächst hätten die Dorfbewohner gar nicht gewusst, was sie erwartet, erzählt Suman Kanaskar. Weder die indische Regierung, noch Enercon India hätten sie über das Windfarm-Projekt informiert. Schon kurz nach Beginn der Bauarbeiten begannen auch die Proteste dagegen. „Wir wollten wissen, was da vor sich geht, ob das Projekt uns Vorteile bringt oder Nachteile“, sagt Suman Kanaskar. „Als wir sahen, wie viel Wald da zerstört wird, blockierten wir die Zufahrt zur Baustelle und verlangten Auskunft.“ Die Bauarbeiten machen der Bevölkerung das Leben schwer. Der Straßenverkehr sei sprunghaft gewachsen, klagt die Bäuerin. Der Staub, den Betonmischer und Lastwagen aufwirbeln, setzt sich auf den Feldern ab, behindert die Bestäubung und verdirbt die Ernte. In der Regel erntet Suman Kanaskar fünf Säcke Hirse im Jahr. Bei der letzten Ernte war es noch nicht einmal einer.

„Die lokale Bevölkerung war von Anfang an gegen das Windkraftwerk“, meint der Journalist Atul Kale, der den Widerstand gegen das Projekt organisiert. „Sie haben verstanden, dass das Projekt ihre Lebensgrundlagen bedroht, ohne dass sie irgendeinen Vorteil daraus ziehen können. Während die Forstbehörde zum Beispiel strikt darüber wacht, dass die Dorfbewohner keine Bäume fällen, zerstört die Windkraftfirma den Wald in großem Stil.“

Es ist kühl unter dem dichten Blätterdach, große Steine in einem trockenen Flussbett laden zur Rast ein. Die dichten Kronen der Bäume bieten Schutz vor der sengenden Sonne. Die abgeholzte, kahle Berglandschaft, die sich meilenweit um diesen Wald ausbreitet, heizt sich dagegen wie ein Backofen immer mehr auf, die meisten Pflanzen verdorren.

Über fast 2000 Kilometer erstrecken sich die Western Ghats-Berge entlang der indischen Westküste. Hier entspringen fast alle großen Flüsse Südindiens. Wissenschaftler stufen den Gebirgszug als einen der artenreichsten Lebensräume Indiens ein. Die Vereinten Nationen haben ihn als „biodiversity hotspot“ klassifiziert, als eine von 18 Regionen der Welt, die besonders artenreich sind und unter hohem Druck durch menschliche Aktivitäten stehen. „Die Western Ghats sind einer der weltweit wichtigsten Lebensräume für wilde Verwandte unserer Nutzpflanzen“, sagt der Ökologe Madhav Gadgil. „Sie sind ein genetisches Reservoir für Mango, Brotfrucht, Pfeffer, Kardamom und andere Gewürze.“

Der einzigartige Lebensraum ist nicht nur durch den Andhra Lake-Windpark akut bedroht. Zwischen Mumbai und Goa sollen außerdem 16 große Kohlekraftwerke entstehen, neue Eisenbergwerke, mehrere Häfen sowie bei Jaitapur der mit 9900 Megawatt größte Atomkraftwerkkomplex der Welt. „Diese großen Industrieprojekte werden das ökologische Gleichgewicht schädigen“, befürchtet Madhav Gadgil, der im Auftrag des Umweltministeriums in Neu-Delhi eine ökologische Bestandsaufnahme der Western Ghats unternimmt.

Indien fördert gezielt „unkonventionelle Energien“

Wenn die indische Wirtschaft weiter wachsen soll, benötigt sie vor allem sehr viel Energie. Zwischen Nachfrage und Angebot klafft eine große Lücke – selbst in Großstädten fällt täglich der Strom aus. Das Gros der Stromproduktion wird aus heimischer Kohle gewonnen. Innerhalb der kommenden fünf Jahre soll nach dem Willen der Regierung die Leistung der Kohlekraftwerke verdoppelt werden. Aber auch bei der Nutzung erneuerbarer Energiequellen mischt Indien ganz vorne mit. Der immense Nachholbedarf führte dazu, dass die Regierung in Neu-Delhi bereits in den 1970er Jahren ein „Ministerium für unkonventionelle Energien“ einrichtete, das Biogasanlagen, Solarkocher und kleine Wasserkraftwerke förderte. Heute sind in Indien mehr als eine Million kleinbäuerlicher Biogasanlagen in Betrieb, nur China unterhält noch mehr. Bei der Windenergie steht Indien weltweit auf Rang fünf.

Auch unter dem Eindruck des Klimawandels, der für Indien besonders verheerende Folgen hat, fördert die Regierung verstärkt den Ausbau von Wind-, Sonnen- und Bio-Energie. Solche Kraftwerke müssen im Unterschied zu anderen Großprojekten kein Umweltprüfungsverfahren durchlaufen. Eine solche Untersuchung und die damit verbundene Gelegenheit für die Betroffenen, ihre Beschwerden öffentlich zu machen, hätte im Falle der Andhra Lake-Windfarm vielleicht das Schlimmste verhindern können. Ist es wirklich sinnvoll, schützenswerten Regenwald abzuholzen, um umweltschonende Windkraftanlagen aufzustellen? Auch Atul Kale beschäftigt diese Frage: „Ich bin natürlich auch für umweltschonende Energiegewinnung wie beispielsweise durch Windkraftanlagen. Aber warum muss man sie ausgerechnet hier, im dichten Regenwald aufstellen? Warum baut man sie nicht dort, wo das Land sowieso brach liegt?“

Die meisten der Dorfbewohner, die unter den Bauarbeiten leiden, sind Analphabeten. Sie kennen ihre Rechte nicht und können nicht auf Augenhöhe mit der einflussreichen Windkraftfirma verhandeln. Die Firma mache sich diesen Umstand zunutze, um den Widerstand zu brechen, meint Aktivist Atul Kale: „Wer Einwände hat, wird zum Schweigen gebracht. Lokale Politiker spielen dabei eine tragende Rolle. Wahrscheinlich sind sie in irgendeiner Form an dem Projekt beteiligt.“ Gegen einige der Aktivisten habe man getürkte Anklagen vor Gericht eingereicht, um sie zum Schweigen zu zwingen. „Der Abgeordnete, der die Region im Landesparlament vertritt, war zuerst gegen die Windfarm“, berichtet Kale. Nun sei er ein glühender Befürworter, fügt der Journalist hinzu und vermutet Bestechung dahinter.

Atul Kale hat im vergangenen Jahr eine Klage gegen den Windpark beim Hohen Gericht in Mumbai eingereicht. Die Richter ordneten im Dezember 2010 einen Baustopp an. Doch die Arbeiten gehen weiter, die Firma Enercon India schafft Tatsachen. Das Unternehmen ist eine Tochter des deutschen Windkraftherstellers Enercon. Doch die Deutschen verloren nach eigenen Angaben bereits 2008 die Kontrolle über den indischen Ableger. Zum Andhra Lake-Wind Park erklärt Enercon auf Anfrage: „Mangels Einfluss auf Enercon Indias unternehmerische Entscheidungen trägt Enercon keine Verantwortung für das wirtschaftliche Handeln von Enercon India und dessen Folgen.“

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erschienen in Ausgabe 7 / 2011: Entwicklungsdienst: Wer hilft wem?
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