Ratlos und panisch

Ein hastig zusammengestückeltes Programm zu „Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand" sowie eine hektische Telefon- und Reisediplomatie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der Europäischen Union (EU) an Visionen, Instrumenten und an Kenntnissen fehlt, mit dem Umschwung in ihrer südlichen Nachbarschaft umzugehen. Es zeigt sich jetzt, dass Brüssel bisher kaum andere Partner in diesen Ländern gekannt hat als die jahrelang hofierten autokratischen Regime.
Das schnelle Ende der autokratischen Regime in Tunesien und Ägypten traf alle EU-Instanzen unvorbereitet. In der Februar-Sitzung des EU-Parlaments gestand der für die Nachbarschaftspolitik zuständige Kommissar Štefan Füle ein, man habe die Lage falsch eingeschätzt; Anfang März rief Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Pressetheater - wie der Pressesaal im Brüsseler Kommissionsbau offiziell heißt - der „Jugend Nordafrikas" zu: „Europa ist mit Euch!" Barroso kündigte an, dass ein noch nicht verplanter Betrag von vier Milliarden Euro aus dem EU-Nachbarschaftprogramm (ENP) vor allem für dringende Aufgaben in den Ländern auf der Südseite des Mittelmeers vorgemerkt würde.
 

Autor

Heimo Claasen

ist freier Journalist in Brüssel und ständiger Mitarbeiter von "welt-sichten".

Ende März nickte dann der Europäische Rat der Regierungschefs einen von der Kommission ausgearbeiteten Plan für eine „Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand mit dem südlichen Mittelmeerraum" ab. Darin sichert Brüssel Unterstützung für verfassunggebende Versammlungen und Wahlen in Ägypten und Tunesien zu und knüpft weitere Hilfe an Reformen, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Die von Barroso in Aussicht gestellten vier Milliarden Euro würden praktisch die gesamten noch ungebundenen Mittel aus dem Nachbarschaftsprogramm für die Jahre 2007 bis 2013 beanspruchen. Osteuropa und die Balkanländer, für die das Programm ebenfalls vorgesehen ist, würden in den kommenden Jahren dann wohl weniger als geplant kriegen.

Die EU-Wirtschaftsförderung war bislang wenig wirksam

Mehr Geld soll es vor allem für die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen geben. Zudem sollen Ägypten und Tunesien Vorzüge im Handel mit der EU erhalten. Das sind Maßnahmen, die schon im „Barcelona-Prozess" zwischen der EU und den Mittelmeeranrainern seit 2005 und der daran anschließenden „Union für das Mittelmeer" seit 2008 auf dem Programm standen - und offenkundig wirkungslos geblieben sind.

Derlei Förderprogramme, verwaltet von zentralen Regierungsstellen, haben den vorigen Regimes direkt die Taschen gefüllt. Dem will Brüssel jetzt vorbeugen: Mehr Geld soll es nur geben, wenn Transparenz gewährleistet sei, etwa durch parlamentarische Aufsicht und Einsicht nichtstaatlicher Organisationen (NGOs). Letztere wurden von den herumreisenden EU-Delegationen geradezu angefleht, sich bei ihnen zu melden - womit die EU-Beamten allerdings offenbarten, dass sie von der Vielzahl und der Expertise von NGO-Initiativen südlich des Mittelmeeres keine Kenntnis haben.

Ein Lichtblick im neuen Programm ist, dass im Außenhandel der EU künftig für die gesamte Mittelmeer-Region eine einheitliche Ursprungsregel gelten soll. Das heißt für die Ausfuhr von Gütern und die Gewährung von Handelsvorteilen aus einem Land der Region wäre es in Zukunft unerheblich, ob Vorprodukte oder einzelne Teile aus einem anderen Land kommen.

Das wäre fast eine Revolution, denn bislang hat die EU mit jedem einzelnen der zehn Mittelmeeranrainer strikt bilaterale Handelsverträge geschlossen, die lediglich die Waren aus dem jeweiligen Land betreffen. Eine einheitliche Ursprungsregel kann laut Wirtschaftsforschern den Warenaustausch zwischen den Ländern verstärken und der gesamten Region einen beträchtlichen Aufschwung bringen.

Im Kontrast dazu steht die noch verschärfte Abwehr der EU gegenüber Zuwanderern. Sie wolle der „Herausforderung der Mobilität" entsprechen, erklärt die EU-Kommission euphemistisch, stellt aber nur für „Studenten, Forscher und Geschäftsleute" erleichterte Visa-Bedingungen in Aussicht. Auch das Parlament hat sich auf diese Formel eingelassen - statt auf Mindestlöhnen für Saisonarbeiter und soziale Sicherheit für Zuwanderer zu bestehen, wie es Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen fordern.

Die Südpolitik soll jetzt grundsätzlich überprüft werden

Noch im Mai will die EU-Kommission eine grundsätzliche Revision der Politik gegenüber den südlichen Nachbarn Europas vorlegen. Der Libyenkonflikt freilich könnte ihre Pläne über den Haufen werfen und die Stimmung verstärken, dass es sich bei den Nachbarn eher um eine Bedrohung handelt.

Zwar hat die humanitäre Hilfe der EU mit 30 Millionen Euro einen bedeutenden Beitrag zur Versorgung für aus Libyen gestrandete Flüchtlinge in Tunesien geleistet. Aber die geradezu an Panik grenzende Abwehrhaltung der EU-Innenminister gegen einem möglichen Flüchtlingszustrom und die Beschlüsse zur Aufrüstung der Grenzüberwachung Frontex scheinen eher dazu angetan, die interne Frontstellung zuzuspitzen.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2011: Die Freiheit des Glaubens
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