„Der ökologische Umbau bei uns kommt dem Süden zugute“

Entwicklungspolitik
Erhard Eppler ist tot. Der SPD-Politiker und frühere Entwicklungsminister ist am 19. Oktober im Alter von 92 Jahren gestorben. Eppler galt als Vordenker – zu Recht. Ein gutes Beispiel dafür sind seine zehn umwelt- und entwicklungspolitischen Thesen vom Januar 1994, die in der Zeitschrift „epd-Entwicklungspolitik“ erschienen sind und die wir hier dokumentieren. Eppler begründet darin bereits die Notwendigkeit global gültiger Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, wie sie dann 21 Jahre später von den Vereinten Nationen verabschiedet werden sollten.

These 1: Die Frage nach dem richtigen Entwicklungsmodell ist zuerst eine Frage an uns selbst.

Wenn wir vor zehn Jahren konstatierten, in der Dritten Welt seien von wenigen Ausnahmen abgesehen weder die kapitalistischen noch die sozialistischen Entwicklungsmodelle erfolgreich, dann meinten wir, was im Norden funktioniere, könne im Süden sehr wohl fehlschlagen.

Heute ist klar, dass eines von beiden Modellen im Norden zusammengebrochen ist. Nicht klar ist, wie es mit dem anderen weitergehen wird, das sich für den Sieger hält, aber doch wohl nur übrig geblieben ist. Viel spricht dafür, dass auch das westliche Entwicklungsmodell nicht ohne Verwandlungen überleben kann.

Seit mindestens 20 Jahren ist erkennbar, dass die Übertragung unseres Modells auf den Süden in den meisten Fällen in Sackgassen führt. Jetzt kommt dazu, dass die Leuchtkraft unseres Modells verblasst. Wer selbst von „sustainable development“ so weit entfernt ist wie wir, der tut gut daran, anderen nicht zur Nachahmung zu raten.

These 2: Wer anderen helfen will, muss nachweisen können, dass er sich selbst helfen kann.

Die These, dass Wachstum im Norden immer gut sei für den Süden, hat wohl nie gestimmt. Aber sicherlich ist ein Norden, der ganz mit seiner eigenen Krise beschäftigt ist, kein Vorteil für den Süden. Es ist zwar nicht erbaulich, aber begreiflich, dass die Frage nach der Zukunft der armen Länder an den Rand unserer Diskussion gerät. Wo die Staatsverschuldung zur Kürzung von Schwimmbädern führt, nimmt die Zahl derer ab, die Entwicklungspolitik vorantreiben wollen. Dass wir uns dabei von den Zielen weiter entfernen, die bislang schon mehr die politische Rhetorik als die politische Praxis bestimmten, versteht sich von selbst.
Wir erleben jetzt hautnah, was bisher nur politisches Postulat war: dass wir niemandem auf Dauer helfen können, wenn wir unser eigenes Entwicklungsmodell nicht in Frage stellen.

These 3: Bei unserem Krisenmanagement nach rückwärts tun wir auch entwicklungspolitisch wissentlich das Falsche.

Genau wie nach der ersten und zweiten Ölkrise können sich die Regierenden die Überwindung des gegenwärtigen Wirtschaftsabschwunges nur als Wiederherstellung des früheren Zustands vorstellen. Wenn der Export von Autos nicht mehr läuft, dann müssen sie eben rationeller und billiger produziert werden. Wenn die Rezession Arbeitsplätze kostet, dann muss das Wachstum wieder angekurbelt werden, das Arbeitsplätze schaffen soll.

Wer so denkt, kommt ins Schwärmen, wenn die chinesischen Kommunisten beschließen, ihr Land nach unserem Vorbild zu modernisieren. Da öffnen sich neue Märkte, zumal es da – im Gegensatz zu Osteuropa – Männer gibt, die für Ordnung und die Sicherheit von Investitionen sorgen. Dabei wissen wir längst, was es für unseren Globus bedeutet, wenn 1,2 Milliarden Chinesen so leben wollen, wie wir heute leben. Im Krisenmanagement nach rückwärts handeln wir so, wie wir nicht handeln dürfen, wenn wir ernstnehmen, was wir wissen. Dass auch Kredite aus dem Einzelplan 23 (dem Haushalt des Bundesentwicklungsministeriums; Anm. d. Red.) für diese Art Krisenmanagement verwendet werden, ist ebenso logisch wie beschämend.

These 4: Die offiziellen Ziele westlicher Entwicklungspolitik sind nur so lange unangefochten, wie keine Gefahr besteht, dass sie erreicht werden.

Westliche Entwicklungspolitik will, dass sich alle Völker und Regionen so „entwickeln“ können wie sich Westeuropa und Nordamerika entwickelt haben. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist bekannt, dass das ökologisch nicht möglich ist. Diese Einsicht hat die politische Praxis wohl deshalb kaum berührt, weil keine oder doch geringe Aussicht bestand, dass dieses Ziel erreicht wird. Die vier kleinen Tiger (gemeint waren asiatische Schwellenländer wie Südkorea und Taiwan; Anm. d. Red.) waren zu klein, um ökologisch ins Gewicht zu fallen. Sollten jetzt China und andere große asiatische Länder, dazu einzelne Länder Lateinamerikas, den Weg der kleinen Tiger gehen, so können wir uns nicht mehr um die Frage herumdrücken, ob sich das westliche Entwicklungsmodell generalisieren lässt, ohne die gemeinsamen Lebensgrundlagen zu zerstören.

These 5: Die Entscheidungen über die Zukunft des Globus fallen noch für eine begrenzte Zeit im Westen. Wir müssen diese Zeit nutzen.

Alles kommt darauf an, ob die westlichen Länder zu einem „sustainable development“ finden, das dann wenigstens in seinen Grundzügen kopierbar ist, also nachgeahmt werden kann. Da die Zeit darauf drängt, darf diese Aufgabe nicht auf eine Periode verschoben werden, in der es dem Westen so gut geht wie Mitte der achtziger Jahre – zumal nicht sicher ist, ob diese jemals kommen wird. Es geht also um den Versuch einer Krisenbewältigung nach vorn. Sie scheiterte bisher wohl nicht an praktischer Unmöglichkeit, sondern an der Phantasielosigkeit der Politik.

These 6: Der Westen muss sich vom Wachstumszwang befreien.

Wirtschaftswachstum kann nützlich oder schädlich sein. Es ist politisch möglich, nützliches Wachstum zu fördern und schädliches zu verhindern. Fatal ist nicht nur das Wachstum, sondern auch der Zwang zum Wachstum. Dieser Zwang ist so stark, dass er alle anderen Gesichtspunkte und Aufgaben beiseite drückt und damit Politik im strengen Sinne unmöglich macht.

Dies bedeutet für Deutschland vor allem zweierlei
a)    Die Sanierung der Haushalte
Wenn einmal die Verzinsung der Staatschulden bei gleichzeitiger Erfüllung der elementaren Staatshaushalte nur noch bei rasch steigenden Steuereinnahmen gelingen kann, wird jede Regierung Wachstum um jeden Preis zur Priorität erklären. Davon wird dann ihre Politik bestimmt, und zwar völlig unabhängig von allen theoretischen Einsichten. Dass Staatsverschuldung sich auch auswirkt auf den internationalen Kapitalmarkt und seine Zinsen, betrifft den Süden ganz direkt.
b)    Umdenken bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Die Anforderung, in Zeiten der Rezession mehr und billiger zu arbeiten, ergibt nur einen Sinn, wenn die zusätzlich dadurch erzeugten Güter exportiert werden sollen, und zwar auf Kosten der Volkswirtschaften, auch solchen des Südens.

Reduzierung der Arbeitszeit bei geringerem Lohn (VW-Modell) hat den legitimen Zweck, Exportchancen zu wahren und Arbeitslosigkeit zu vermindern. Wahrscheinlich muss bei beschleunigter Rationalisierung die Erwerbszeit weiter reduziert werden. Dafür müssen Hilfen für Eigenarbeit verstärkt werden. Ziel wäre, möglichst allen, die Erwerbsarbeit wollen, zur Erwerbsarbeit zu verhelfen, und alle, die dazu in der Lage sind, an Nichterwerbsarbeit zu beteiligen.

These 7: Der ökologische Umbau bei uns kommt dem Süden zugute.

Ob ökologischer Umbau die Quantität steigert oder mindert, ist offen. Langfristig dürfte er zumindest mehr Beschäftigung bringen, wahrscheinlich auch mehr Exportchancen. Daher ist es falsch, damit auf andere zu warten.

Der ökologische Umbau muss mit der Verteuerung der Energie beginnen, wenn möglich mit der Verringerung der Lohnnebenkosten. Verteuerung und geringerer Verbrauch von Energie dürfte die Weltmarktpreise eher senken, was auch vielen Ländern des Südens zugutekommt. Nur der ökologische Umbau bei uns kann die Länder des Südens daran hindern, sich in Sackgassen festzurennen, deren Ende schon jetzt abzusehen ist. Dies gilt besonders für die Landwirtschaft und das Verkehrswesen.

These 8: Stichwort für das, was nötig ist, sollte nicht der Verzicht sein, sondern die Verlagerung von Ansprüchen mit dem Ziel besserer Lebensqualität.

Konsum, den wir uns ökologisch nicht mehr leisten können, muss reduziert werden. Aber in manchen Feldern müssen wir nicht anspruchsloser, sondern anspruchsvoller werden. Solidere und haltbare Gebrauchsgegenstände, die nicht aus der Massenproduktion kommen, ermöglichen ein anderes Verhältnis zu den Dingen des Alltags. Eigenarbeit kann nicht nur ungenutzte Begabungen freisetzen, sondern auch Werte schaffen. Wo Zeit nicht mehr Geld sein kann, könnte Muße eine Chance bekommen.

These 9: Wo Millionen für weniger Arbeit weniger Geld bekommen oder arbeitslos werden, muss soziale Gerechtigkeit mehr denn je politisch durchgesetzt werden.

Eine Reduktion der Löhne um 10 bis 20% kann vor allem Familien mit mehreren Kindern zu harten Einschränkungen zwingen. In einem Land, wo die großen Vermögen größer und manche hohen Einkommen höher werden, muss dies den sozialen Frieden gefährden, wenn die staatliche Sozial- und Steuerpolitik nicht entschieden gegensteuert. Wo an immer weniger Jüngere immer größere Vermögen vererbt werden, darf die Erbschaftssteuer keine Bagatellsteuer bleiben. Ohne optimale soziale Gerechtigkeit sind Opfer für den Süden nicht zumutbar, vor allem, wo sie mit Öffnung unserer Märkte verbunden sind.

These 10: Eine Krisenbewältigung nach vorn könnte sogar zur Konsolidierung brüchig gewordener Gesellschaften führen.

Nach Daniel Bell leiden die westlichen Gesellschaften darunter, dass für die Produktion und den Konsum verschiedene Ethiken notwendig sind, wenn das System funktionieren soll. Für die Produktion wird eine puritanische Pflichtethik verlangt, für den Konsum ein hedonistisches Habenwollen, das schon deshalb nicht zur Ruhe kommt, weil es im Konsum mit anderen Schritthalten muss. Viele Sorgen unserer Unternehmer kommen aus der Furcht, die für den Konsum erwünschte Ethik könne in die Produktion eindringen.

Eine Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit knapp wird und die freie Zeit für Eigenarbeit ausreicht und genutzt wird, könnte diesen gefährlichen Gegensatz mildern und die Übertragung dieser Art von Doppelmoral auf den Süden bremsen.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
Ihre Entscheidung, Epplers zehn weitsichtige Thesen von 1994 aus Anlass seines Todes zu veröffentlichen, ist die nach meiner Kenntnis bisher angemessenste Würdigung seines jahrzehntelangen politischen Engagements, das immer auf einem eigenständigen, akribisch-analytischen Denken und einem ebenso immer wieder durchdachten christlich-ethischen Fundament beruhte. Die Erinnerung an ihn mit einem für ihn typischen Text, der - erkennbar Kind seiner Zeit - Orientierung sucht und gibt, hätte ihm sicher gefallen. Das zeigen z.B. die thematischen Tagungen, die er sich zu seinem 80. und 90. Geburtstag gewünscht hatte. Übrigens hatte er knapp zehn Jahre vorher bereits einmal 10 entwicklungspolitische Thesen veröffentlicht. Verfolgt man sein schriftstellerisches Werk, zeigen sich - verständlicherweise - wichtige Konstanten, aber auch aufschlussreiche Entwicklungen.
Noch einmal Glückwunsch zu Ihrer Entscheidung, Epplers Lebenswerk auf diese Weise zu würdigen.
Mit freundlichen Grüßen
Cay Gabbe

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