Ein neuer Blick auf die Ungleichheit

 

Die soziale Ungleichheit ist in den vergangenen Jahrzehnten in den meisten Ländern gewachsen; darin sind sich mehrere internationale Organisationen in neuen Berichten einig. Der US-amerikanische Ökonom James K. Galbraith macht den politisch geförderten Aufstieg des Finanzsektors seit 1980 dafür verantwortlich – ebenso wie für die Instabilität der globalen Wirtschaft. Die meisten Ökonomen, klagt Galbraith, hätten Ungleichheit entweder ignoriert oder nur auf Armut und einzelne Haushalte geschaut. Dagegen fragt er nach dem Zusammenhang mit Veränderungen der Wirtschaft insgesamt.

Er greift auf die alte These von Simon Kuznets zurück, nach der soziale Ungleichheit im Industrialisierungsprozess erst zu- und dann wieder abnimmt. Die entscheidende Einsicht dahinter sei, dass der Strukturwandel von der Agrar- zur Industrie- und dann zur Dienstleistungsgesellschaft die Einkommensunterschiede zwischen den Sektoren verändert, und die sei der wichtigste Bestimmungsfaktor von Ungleichheit.

Leider sind Daten zu Ungleichheit – die meist auf Umfragen beruhen – lückenhaft und schwer zwischen Ländern und über die Zeit vergleichbar. Galbraith bietet dafür eine verblüffende Lösung: Er erzeugt neue Daten, indem er nicht die Ungleichheit zwischen einzelnen Haushalten, sondern zwischen größeren sozialen Gruppen betrachtet. Aus den meisten Ländern gibt es recht verlässliche Datenreihen zu Gehältern in einzelnen Industriezweigen und zu Einkommensunterschieden zwischen Landesteilen, etwa Provinzen.

Daraus errechnet Galbraith, wie sich jeweils Einkommensunterschiede zwischen Sektoren und Regionen verändert haben. Der informelle Sektor und die Kapitaleinkommen werden dabei weitgehend vernachlässigt und große Firmen besser als kleine erfasst. Dennoch ergibt das laut Galbraith einen guten Indikator für soziale Ungleichheit; das zeige der Vergleich mit anderen Daten. Und man könne so ermitteln, welche Sektoren wie stark zur Ungleichheit beitragen.

Galbraith bestätigt die These von Kuznets in modifizierter Form: Ungleichheit wachse am Beginn der Industrialisierung, sinke dann, um aber dann in „reifen“ Industriegesellschaften wieder zuzunehmen. Dies liege nicht, wie oft behauptet, in erster Linie an wachsenden Lohnunterschieden zwischen gelernten und ungelernten Berufen, sondern am Aufstieg der Finanzwirtschaft seit 1980. Plausibel macht Galbraith das am Beispiel der USA: Veränderungen in der Ungleichheit seit 1980 führt er großenteils auf riesige Gehälter für kleine, an wenigen Orten konzentrierte Gruppen zurück. Dies seien Finanzdienstleister und spezialisierte IT-Firmen. Finanzblasen hätten die Ungleichheit wachsen und ihr Zusammenbruch sie zeitweise schrumpfen lassen.

Problematischer ist eine zweite These: Die Deregulierung seit 1980 hat laut Galbraith mit dem Aufstieg der Finanzwirtschaft einen weltweiten Trend zu mehr Ungleichheit in Gang gesetzt. Diesem globalen Druck könnten sich die einzelnen Staaten nicht entziehen. Das steht jedoch in einer gewissen Spannung zur dritten These: Bei der Suche nach Korrelationen zwischen sozialer Ungleichheit und dem politischen System findet Galbraith, dass nicht alle Demokratien, wohl aber langfristig stabile „Sozialdemokratien“ wie in West- und Nordeuropa zu mehr Gleichheit neigen – ebenso wie kommunistische Regime und „islamische Republiken“. Dies spricht dafür, dass nationale Faktoren eine Rolle spielen.

Hier und in weiteren Kapiteln – etwa über Kuba, China und Europa – ist der Zusammenhang mit der Kernthese des Buches nicht ganz klar. Und manchmal treibt Galbraith die Methode zu weit. Zum Beispiel behauptet er, die Arbeitslosigkeit in Europa sei nicht das Ergebnis zu kleiner, sondern zu großer Lohnspreizung, weil Europa als ein Wirtschaftsraum auch ein Arbeitsmarkt sei. Da vergisst er die Sprachunterschiede; sie sorgen dafür, dass der Arbeitsmarkt in Europa nicht so integriert ist wie etwa in Nordamerika.

Manche Formeln und Datenreihen – die meisten zum Glück in Anhänge ausgegliedert – sind nur etwas für Spezialisten. Die werden über den Ansatz von Galbraith sicher streiten. Viele Kernthesen aber sind verständlich dargestellt, plausibel begründet und haben eine breite Debatte verdient. (Bernd Ludermann)

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